Kapitel 33
Can
"Bereit?", frage ich Shana schmunzelnd, die aufgeregt nickt. "Ich kann wieder seinen Schokokuchen essen!", quietscht sie, wie immer, wenn sie sich freut. "Hast du deine Medikamente auch eingenommen?" Sie nickt augenverdrehend. Ich hasse es, wenn sie ihre Augen verdreht und doch macht sie es immer und immer wieder. Es ist etwas, was Shana signifikant macht. "Es ist voll sonnig heute!" Sie strahlt förmlich, was mich zufrieden lächeln lässt. Ich liebe ihre Unbeschwertheit und ihre Impulsivität. Sie macht das, was ihr gerade als richtig erscheint, hinterfragt es nicht, wenn es sich ihrer Meinung nach gut anhört, sondern macht es einfach und wenn sie es dann später bereut, dann schmollt sie oder zuckt mit ihren Schultern. Eine weitere Option wäre, dass Shana komplett ausrasten würde und alles kaputtschlagen würde. Das, was nicht kaputt geht, würde sie dann von A bis Z beleidigen, sodass man selber sich schlecht fühlt, obwohl sie nur einen Gegenstand meint. Ach, Shana. Shana macht das eine Lied an, wo ich immer an geklaute Matratzen denken muss. Heißt es Older oder Closer? Na ja, auf jeden Fall ist es zu unserem Lied geworden. Shana zieht natürlich wieder ihre Tanzshow ab, während ich mich auf den Verkehr konzentrieren muss. Wäre sie nicht so süß und anziehend zugleich wäre es viel einfacher, aber sie schafft es sogar unbewusst mich vom Wesentlichen abzulenken. Wie sie das hinkriegt, würde ich sehr gerne wissen. Vielleicht sollte ich mal zum Psychologen und er erklärt es mir. Sie hebt ihre Hände hoch, wobei ihre Locken mittanzen und alles noch schöner und anschaulicher machen. "Can! Mitsingen!", fordert sie. Ich versuche mich noch an den Text zu erinnern und fange mit ihr an zu singen. "So baby pull me closer in the back seat of your Rover that I know you can't afford, bite that tattoo on your shoulder. Pull the sheets right of the corner of that mattress that you stole from your roommate back in Boulder, we ain't ever getting older!" Shana ist wohl jetzt so richtig in ihrem Element und geht total ab, während ich ihr lachend dabei zusehe. "Noch einmal!", ruft sie. "We ain't ever getting older!" Sie lässt einen feierlichen Laut raus und lehnt sich seufzend zurück. "Ach, das tat gut", seufzt sie und lächelt mich zufrieden an. Ich kann nicht anders und muss sie anschauen. Sie ist so hübsch, so rein.
Sie dreht sich nach vorne und sofort wird ihr entspannter Blick panisch. "CAN!", schreit sie und versucht das Lenkrad in die Hand zunehmen. Panisch schaue ich nach vorne und höre nur noch Shanas panisches Geschrei. "CAN!" "SHANA!", brülle ich.
"Can!" Ich zucke atemlos und verschwitzt zusammen und sehe eine weinerliche Shana vor mir. "S-shana", flüstere ich und versuche ruhig zu atmen. "Gott, Can, was war los?", flüstert sie und verliert eine Träne. Sie ist hier. Ihr ist nichts passiert. Mein Atem ist immer noch zittrig und mein Herz schlägt so schnell, dass ich nicht einmal messen muss, um zu wissen, das mein Puls bei 180 oder höher liegt. "Gott, du hast totale Angst, Can." Sie wischt mir den Schweiß von der Stirn und schüttelt mit zusammengepressten Lippen den Kopf. Es war nur ein Traum. "Du bist hier", flüstere ich brüchig und ziehe sie in meine Arme. Tief atme ich ihren süßlichen Duft ein und spüre, dass auch ihr Herz stark klopft. Ich muss ihr wohl Angst gemacht haben. "Gott, ich dachte dir wäre etwas zugestoßen", flüstere ich brüchig und drücke Shana fester an mich. "Can, was ich passiert?" Ich schlucke und versuche den Traum zu vergessen. Seit wann habe ich wieder Albträume? So lange waren sie weg, wieso sind sie wieder da?! "Can!" Meine Mutter, mein Vater und Derya kommen erschrocken ins Zimmer. "Hat es wieder angefangen?", fragt meine Mutter, die den Tränen nahe ist. Außer Puste nicke ich und drücke Shanas Hand. "Soll ich den Koran holen?", fragt mein Vater, was ich ablehne. Solange es Shana gut geht, geht es mir auch gut. "Doch, Can." Shana sieht mich flehend an. "Es wäre besser." Ich schließe meine Augen und sehe den Unfall wieder vor mir, weswegen ich meine Augen schnell wieder öffne und diese widerliche Gänsehaut verdränge. Shana hält meine Hand in ihrer und fährt beruhigend über die, während sie sich mit der anderen ihre Träne wegwischt. Während des Rezitieren ist mir Shana nicht von der Seite gewichen. Ich wollte sie nicht alleine lassen, sonst wäre ich in Panik verfallen. Das Rezitieren hat mich schon als Kind beruhigt, nur bin ich mir sicher, dass wenn Shana nicht hier wäre, ich nur halb so entspannt wäre. Mein Vater verlässt das Wohnzimmer, genau wie Derya. Meine Mutter schaut mich immer noch leidend an und nimmt mich in den Arm. "Wie schlimm?" Ich zucke zusammen. "Es war neu." Ich schüttele meinen Kopf und will vergessen, dass ich mit Shana einen Unfall gebaut habe. Was wäre mit ihr passiert? Hätte Shana mich nicht aufgeweckt, dann würde ich am Ende sein. Shana gibt mir ein Glas Wasser, welches ich stumm annehme und meine trockene Kehle befeuchte. Mit der rechten Hand, die noch vor Angst etwas zittert, ziehe ich Shana an mich heran und atme tief durch. Es war nur ein Traum. "Hast du öfters Albträume?", fragt sie mich etwas zurückhaltend. "Seit Jahren hatte ich keine mehr." Ich schaue auf mein leeres Glas und lege es auf dem Tisch ab. "Plötzlich hatte ich diesen Traum und für mich war es der Schlimmste." Mein Körper spannt sich an, was Shana anscheinend bemerkt, denn sie fährt mir beruhigend den Rücken auf und ab. "Können wir das Essen bitte verschieben? Ich kann nach diesem Traum kein Auto fahren." Sie nickt sofort. "Von mir aus bleiben wir die ganze Zeit Zuhause", flüstert sie und umklammert meinen Arm. "Möchtest du frische Luft schnappen?", fragt Shana mich, was ich mit einem Nicken bestätige. Ich fühle mich gerade so ausgelaugt, dass Shana mich sogar abstützen muss.
Auf dem Balkon, ziehe ich Shana fest an mich und lege ihren Kopf auf meine Brust. Wäre sie nicht hier, dann wäre ich wahrscheinlich verrückt geworden und hätte alles versucht, um sie zu erreichen oder zu sehen. "Can?" Ich brumme. "Was ist in deinem Traum passiert?" Ich verkrampfe mich bei ihrer Frage und versuche nicht zu zittern. "Du hast meinen Namen geschrien, Can", flüstert sie. Ich drücke sie fester an mich und atme tief ein. "Ein Autounfall", seufze ich. "Ich habe geträumt, dass wir auf dem Weg zu meinem Vater waren und wir dann einen Unfall gebaut haben." Es läuft mir kalt den Rücken runter, als ich mich wieder an Shanas panischen Schreie erinnern muss. "Bist du müde?", fragt sie mich und fährt langsam meine Brust auf und ab. "Nein, nach dem Traum traue ich mich nicht zu schlafen", flüstere ich. "Geh schlafen, du bist sicher müde." Sie schüttelt ihren Kopf. "Ich bin ebenfalls nicht müde." Langsam schwinge ich uns hin und her und fahre über ihren freiliegenden Oberarm. Ich will nicht wissen, was passiert wäre, wenn wir trotzdem nach Köln fahren würden. Aber Shana geht es gut und das ist das, was zählt. Still schauen wir auf die belichtete Straße. Außer uns scheint niemand wach zu sein. "Willst du irgendetwas?", fragt Shana mich und schaut zu mir hoch. "Bleib einfach nur bei mir", flüstere ich. Wir setzen uns wieder im Wohnzimmer hin und schauen uns im dunkelen Raum um. "Glaubst du daran, dass Träume war werden?" Ich nicke. Es ist mir schon einmal passiert, dass ich von dir geträumt habe und danach hast du mich wirklich verlassen. "Manchmal sind es Botschaften." Ich schüttele leicht den Kopf und seufze, als Shana ihren Kopf in meine Halsbeuge legt. "Manchmal sind es gute Botschaften", flüstert sie und streift meinen Hals mit ihren Lippen. "Aber auch schlechte", seufze ich und konzentriere mich auf Shanas Atem, der leicht gegen meinen Hals prallt. "Von denen darf man sich nicht unterkriegen und beeinflussen lassen." Sie hat recht. "Immer auf das positive konzentrieren, aber nicht abheben", murmelt sie. "Sollte man das Negative nicht immer im Hinterkopf behalten?", frage ich und fahre ihr durch ihre Haare. "Doch", nuschelt sie und versucht die Uhr zu lesen. "Wir haben 03:55 Uhr. Hast du zufälligerweise auch etwas Hunger?", fragt Shana etwas verlegen und fährt sich über ihre Wange. "Ja", gebe ich leicht lachend von mir und laufe mit ihr in die Küche, wo wir versuchen so leise wie möglich zu sein und Pommes zu machen. "Nimm die Mayo aus dem Kühlschrank", flüstere ich und lege den Teller voller Pommes auf den Küchentisch. Wir setzen uns hin und essen im dunkeln, da Shana mir untersagt hat, dass Licht abzumachen. "Geht's dir besser?" Ich nicke. Daran denken will ich nicht, auch wenn ich es sowieso nicht mehr vergessen werde. "Was können wir machen, dass dich ablenkt?" Ich schätze es wirklich sehr, dass Shana mir helfen will und frage mich, wie sie es immer hinkriegt, mich zu beruhigen. "Sei einfach neben mir", nuschele ich und schaue zu ihr hoch. Sie nickt verlegen und bindet ihre Haare zusammen. Shana fängt langsam an komisch zu atmen, was mich etwas verängstigt. "Alles okay?" Sie nickt. "Das Antiallergikum gibt langsam ihre Wirkung auf und meine Nase ist dem Verstopfen nahe." Sie lacht kurz und zieht ihre Nase hoch, ehe sie weiter isst. "Sicher, dass das Licht ausbleiben soll?" Sie schaut mich kauend an, weswegen ich ihr einfach nur in die Wangen kneifen oder noch besser beißen will. "Wenn es dich stört, dann mach es ruhig an", nuschelt sie. Der Himmel ist etwas hell, weswegen es nicht stockdunkel ist. Shanas Liebe zur Dunkelheit gefällt mir. Sie steckt mich damit an. "Nein, nein. Schon gut. Mochtest du die Dunkelheit schon immer." Sie verneint es. "Früher hatte ich totale Angst davor, wegen einem gottverdammten Video." Sie zuckt zusammen. "Was für ein Video?", frage ich interessiert nach. "Das war ein grüner Raum. Ich idiotisches, neugieriges Kind habe diese Grusel-Folge von Hotel Zack and Cody geguckt und dann war das in der Empfelungsleiste bei YouTube. Ich habe es natürlich angeklickt und mich gefragt, wo dieser Geist ist, weil der Titel des Videos Geist war. Am Ende kam eine schreiende Frau und ich habe meinen Bruder aus dem Schlaf geschrien und geweint", erzählt sie mir etwas deprimiert. "Seitdem kann ich sowas nicht mehr sehen. Ich kriege Panik bei lautlosen Videos. Je kürzer, umso schlimmer." Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. Niemals hätte ich gedacht, dass Shana Angst vor so etwas hätte. "Aber Horrrofilme finde ich total langweilig", fügt sie Augen verdrehend hinzu. Ja, Shana ist der Widerspruch in Person. "Hast du irgendwelche Ängste, außer das mit dem Autofahren?" Ich grübele und schnalze dann mit der Zunge. "Solange ich nichts besonderes verliere, ist alles gut." Nachdenklich kaut Shana auf ihrer Pommes. "Materiell oder meinst du Personen?" "Personen, bestimmte. Aber das ist selten so." Sie nickt. "Du nicht?" Nun zuckt Shana mit ihren Schultern. "Bis jetzt habe ich sowas noch nie gefühlt", nuschelt sie. Es ist ein beschissenes Gefühl. "Also hast du auch keine Angst vor Insekten?" Ich schüttele belustigt den Kopf, während sie sich vor Ekel schüttelt. "Ich habe panische Angst vor den Viechern. Ich heule schon bei ihnen. Also falls irgendwo eine Spinne ist, schreie ich deinen Namen." Sie lächelt mich sanft an und schiebt mir die letzte Pommes zu. "Iss du sie." Stur schüttelt Shana den Kopf. "Dann machen wir es halt so", seufze ich und teile die Pommes in zwei.
Still sitzen wir auf dem Sofa und schauen uns eine Wiederholung von irgendeiner Serie an, wobei Shana extra leise auf gestellt hat. "Bist du müde?", fragt sie mich. "Ich will nicht schlafen, nicht freiwillig." Lieber bleibe ich zwei Tage wach, als nach diesem Traum wieder schlafen zugehen. "Bist du müde?" Sie fängt an zu Gähnen und schüttelt den Kopf. "Wenn du schlafen gehen willst, dann geh ruhig." Trotzig schüttelt Shana ihren Kopf. "Wenn du nicht schläfst, dann schlafe ich auch nicht." Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter an, woraufhin ich meinen Arm um sie lege. Bis jetzt läuft doch alles gut; kein Streit, keine Diskussionen, nichts negatives. So ist es am besten. Da Shana die ganze Zeit von meiner Schulter abrutscht und man hören kann, wie sehr es sie nervt, legt sie ihren Kopf auf meinen Schoß und schaut mich fragend an. Schmunzelnd fahre ich ihr über ihren Kopf und fange an ihre Kopfhaut zu kraulen, da ich weiß wie sehr sie es liebt. Leise atmet sie durch ihren Mund und schaut an die Decke. "Denkst du Cihan und Elif sind aus einem bestimmten Grund in Hamburg?", flüstert sie. "Wie kommst du darauf?" Shana zuckt mit ihren Schultern. "Wieso sollten sie sonst gemeinsam in ein anderes Bundesland ziehen, Can?" Nun zucke ich mit meinen Schultern. Egal, was es für ein Grund ist, sie sollen sich aus Hamburg verpissen. Sie dreht sich zur Seite, sodass ihr Rücken zu mir gedreht ist und seufzt. "Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es wegen ihnen und Aleyna zu sehr viel Streit kommen wird", nuschelt sie und windet sich kurz unter meinen Berührungen. Sie hat recht. Auch wenn ich nicht will, dass es zu einem Streit kommt: die Ignoranz wird größer sein. "Shana?" Sie summt ein leises Ja. "Denkst du, dass du irgendwann mal vollkommen zufrieden sein wirst?" Sie zuckt mit ihren Schultern. "Hoffentlich", flüstert Shana. "Wenn der Richtige kommt, dann bin ich zufrieden", murmelt sie. Wenn der Richtige kommt. "Ich glaube, dann ist jeder zufrieden", fügt sie noch leise hinzu. Kurz danach ist sie schon eingeschlafen.
Sie aufzuwecken, bringe ich nicht übers Herz. Ich könnte sie tragen, aber ich will sie bei mir behalten und wenn ich sie in mein Zimmer, auf mein Bett tragen würde, würde Shana mich erstens: umbringen und meine Mutter würde durchdrehen. Stattdessen lege ich meinen Kopf auf ihre Schenkel und streiche über ihre Beine. Ich zucke durch die Position wegen meines Rückens zusammen, aber noch halte ich es aus. Sie ist perfekt. Ich weiß nicht, ob es ihr ganz bewusst ist, aber Gott! Sie ist wirklich perfekt. Als ob man meine Erwartungen in jemanden gesteckt hat und sie geformt hat. Ich schaue sie an und fahre mit meinen Fingern über ihr Gesicht. Wenn sie schläft, würde man niemals darauf kommen, dass Shana das Temperament in Person ist. Sie sieht so unschuldig aus. Was sie wohl denken würde, wenn sie meine Gedanken lesen könnte? Entweder würde sie vor Scham rot und stumm werden oder sie würde mich verstört anschauen. Sie murmelt etwas, dreht sich auf den Rücken, weshalb ich meine Position verändern muss, und streckt sich, weswegen das T-Shirt hochrutscht. Federleicht fahre ich über ihre zarte Haut und verharre mit meiner Hand auf ihrem Bauch, bevor ich dann ihr T-Shirt wieder runterziehe. So ein verrücktes Mädchen ist mir noch nie begegnet und hat sich noch nie in meine Gedanken eingebrannt, bis dann irgendwann im Sommer Shana und ich uns in der Schule begegnet sind und uns gestritten haben. Wegen den alten Zeiten schmunzele ich und seufze. Wie wäre unser Verhältnis, wenn ich keine Bemerkung über ihre Hose gemacht hätte? Wie es wohl wäre, wenn wir von Anfang an nett zueinander gewesen wären? Wie es wohl wäre, wenn sie meins wäre? Ob es dazu kommen würde, dass ich mit Shana zusammenkomme, weiß ich nicht. Manchmal bezweifele ich es, aber manchmal in Situationen, wie jetzt, kommt es mir passend in den Sinn. Sie ist für mich da und hilft mir, genau wie ich ihr helfe. Wenn es sein muss, dann gehe ich mitten in der Nacht zu ihr und bleibe vor ihrem Bett stehen, bis sie ruhig schläft, Hauptsache Shana geht es gut. Da sich Shana unruhig auf meinem Schoß bewegt, hebe ich sie vorsichtig hoch und lege uns dann länglich aufs Sofa. Daraufhin lege ich ihren Kopf auf meiner Brust ab und schlinge meinen Arm um sie. Meine Schläfe lege ich auf ihren Kopf und schließe dann meine Augen, ohne Angst zu haben, dass mich ein weiterer Albtraum plagt. Wenn Shana bei mir ist, passiert mir nichts. Das war schon damals im Krankenhaus so. Kaum war sie bei mir, habe ich mich beruhigt. Shana ist diejenige, die mich aufregen und zugleich beruhigen kann und das allein mit ihrer Anwesenheit. Zu gerne will ich wissen, wie sie es hinkriegt. Ich könnte allein von ihrem Duft beruhigt werden, das ist doch verrückt! Düfte sind vorhanden, die einen beunruhigen, reizen oder gar töten können. Die, die einen beruhigen, faszinieren mich am meisten, da ich für sie keine richtige Erklärung finde. Sie steuern unsere Emotionen mehr, als uns bewusst ist, denn keine Sinneswahrnehmung beeinflusst unsere Gefühlswelt so unmittelbar wie das Riechen. Als mich die Müdigkeit übermannt, kann ich auch nicht mehr an Shanas Duft denken, sondern verfalle ebenfalls in den Schlaf.
"Sei leise", höre ich jemanden flüstern, gefolgt von einem Knipser einer iPhone-Kamera. Verwirrt öffne ich die Auge und sehe, dass meine Mutter und Derya erschrocken zusammenfahren. "Was zum Teufel macht ihr da?", brumme ich. Mann, es ist so grell! Beide schauen erst sich und dann mich an, bevor Derya dann abhaut. Meine Mutter fängt an zu grinsen und zeigt kichernd auf Shana, die immer noch schlafend in meinem Arm liegt. "Mama", stöhne ich genervt auf. "Xode, ihr seid einfach zu süß, Gott segne euch!" Sie schießt ein weiteres Foto und schaut aufgeregt zu, wie Shana sich windet und seufzt. "Shana?" Sie quietscht leise. "Bist du wach oder schläfst du noch halb?", frage ich sie. "Ich weiß es selber nicht", murmelt sie, was mich schmunzeln lässt. "Hilfst du mir ins Bad? Meine Augen sind verklebt." Sofort stehe ich auf und helfe Shana auf, die direkt ihre Arme ausstreckt und sich ängstlich auf den Weg macht. "Du knallst nirgendwo hin", versichere ich ihr, doch sie hört nicht. "Dann eben so", seufze ich und hebe sie kurzerhand hoch, weswegen sie erschrocken auf quiekt. Ich ignoriere das Zittern meines Armes, weil ich mich um Shana kümmern muss. Sie ist wichtiger, als meine beschissene Einschränkung. "Can, uns kann jemand sehen!", flüstert sie. "Meine Mutter hat schon hundert Fotos gemacht, keine Angst." Sie murmelt etwas leise vor sich hin und bedankt sich, als ich sie im Bad abstelle. Ich stelle für sie das lauwarme Wasser an und binde ihr die Haare neu, da viele Strähnen aus dem Zopf gucken. Als sie fertig ist und in den Spiegel schaut, zieht sich mein Magen bei ihren blutunterlaufenen Augen zusammen. "Scheiße, Shana!" Ich drehe sie zu mir und schaue sie etwas wehleidig an. Verlegen entfernt sie meine Hand von ihrer Wange und schaut wieder in den Spiegel. "Ist halb so wild." Sie nimmt sich ein Handtuch und trocknet sich ihr Gesicht ab, bevor sie mich lächelnd anschaut. "Wir essen etwas und danach stopfe ich dich mit Medikamenten voll, okay?" Sie nickt kichernd und folgt mir in die Küche, wo meine Mutter schon hochmotiviert das Frühstück macht. "Wo kann ich helfen?" Meine Mutter dreht sich grinsend zu Shana und gibt einen erschrockenen Laut von sich, als sie Shana erblickt.
"Mein Kind! Was ist passiert?", fragt meine Mutter besorgt und hält sich an ihre Brust. "Nur eine Allergie", wirft Shana ab, woraufhin ich schnaube. "Nur", spotte ich. Sie pikst mir in die Seite und hilft meiner Mutter. "Nein! Hinsetzen, sonst stirbst du noch. Can, kümmere dich um sie, du studierst nicht umsonst Medizin!" Ich nicke und schaue kopfschüttelnd zu Shana. "Was mache ich nur mit dir?", seufze ich und gebe ihr ein Glas Wasser. Während des Frühstücks haben wir realisiert, dass es schon 14:42 Uhr ist, aber das stört uns nicht. "Du hast nicht schlecht geträumt oder so?", fragt Shana mich, was ich ihr verneine. "Shana, was weißt du über Düfte?" Sie schaut mich fragend an. "Wie sie auf uns reagieren." Sie nickt und grübelt. "Düfte können auch nach Jahrzehnten intensive Empfindungen in uns hervorrufen. Unser Gehirn speichert den Duft und lässt uns, sobald sich ein bestimmter Duft wieder in unsere Nase schlängelt, längst vergessen geglaubte Erinnerungen wiederbeleben. Ob etwas gut oder schlecht riecht, hängt dabei ausschließlich davon ab, in welcher Situation wir ihn zum ersten Mal gerochen haben. Jeder Mensch hat ja seine beliebigen Duftvorlieben, wie zum Beispiel der Duft von Benzin. Einen Geruch, den wir in einer schönen Situation erlebt haben, speichern wir schneller als angenehmen Duft ab, als einen, der uns an ein unerquickliches Erlebnis erinnert", erzählt sie. Mit ihr habe ich ja viele schöne Situationen erlebt. Bei ihrem Duft kommen nur positive Erinnerungen und Gedanken hoch, niemals etwas Negatives. "Der Duft zieht auch das andere Geschlecht an." Das glaube ich dir. "Ich habe sogar in einer Studie gelesen, dass der Testosteronspiegel bei Männern steigt, wenn sie den Eigenduft einer Frau riechen", erzählt sie mir und kaut währenddessen auf ihrem Brot herum.
Das kann ich nur bestätigen.
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