Kapitel 30

Dienstag, 16. August

Die Semesterferien haben endlich begonnen und ich kann ruhig ausschlafen, da ich fast alle Klausuren, Testate und sonstiges hinter mir habe. Diese Testate haben mich Nächte gekostet, in denen ich eigentlich hätte schlafen können. Selbst an meinem Geburtstag blieb ich nicht verschont und musste das Präperaierkurstestat am Kopf durchführen, herrlich. Aber jetzt kann ich mich vollkommen entspannen und irgendwann im September anfangen für das letzte Testat zu lernen. Vor vier Tagen hatte Can Geburtstag. Der kann mir gestohlen bleiben! Nach dieser Aktion war es mir egal, ob er mit Aleyna am rummachen war oder sonst was. Er. Kann. Weg. Bleiben! Nur weil mir etwas ausgerutscht ist, heißt es also, dass er direkt mit dieser Schlampe rummachen kann, bei der ich mich immer noch frage, was sie hier in Hamburg sucht? Gegen meine geschwollenen und total roten Augen kann ich jetzt wenigstens etwas unternehmen, da ich sonst einschlafen würde. Also fällt diese Last schon einmal von meinen Schultern. "Bäh", kommt es angeekelt von mir, da die Tropfen bitter schmecken. Seufzend stehe ich auf und helfe Ranja und Saliha in der Küche. "Guten Morgen, die Dame", säuselt Ranja, der ich ein müdes Lächeln schenke. "Kommst du heute mit?" Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. "Zu den Jungs", sagt Ranja, weswegen meine Augenbraue überrascht hochgeht. "Seit wann gehst du zu den Jungs?" Ich setze mich hin und sehe in Ranjas verlegendes Gesicht. "Na ja, das mit Nadim war doch nicht so, wie ich es wollte." Sie zuckt mit den Schultern, während sich ein Schmunzeln auf meinen Lippen breit macht. "Also, kommst du mit?" Ich ziehe abwertend die Augenbrauen zusammen. "Nein, Can ist da." Saliha schiebt mir eine Schüssel mit Schafskäse zu, die ich sofort lächelnd ansehe. "Ihr seid immer noch zerstritten?", fragt Saliha und hält sich theatralisch die Hand an die Brust. "Ja", gebe ich Augen verdrehend von mir. "Wow, ich würde das nicht aushalten", sagt Saliha und schlürft ihren Schwarztee. "Ja, du hast auch Malik, einen süßen, ruhigen und geduldigen Jungen. Ich hingegen muss mich mit einer testosterongeladenen Wand herumschlagen", murre ich und esse eine Gurke. "Wird schon!", sagt Ranja gut gelaunt, die ihr Handy weglegt. Ich ziehe wissend meine Augenbraue hoch. "Ramazan hat dir also etwas geschrieben?", schmunzele ich. "Ja!", quietscht sie. "Ah! Bevor ich es vergesse, kannst du mich ins Krankenhaus fahren?" Nach dem Praktikum hatte ich gar keine Zeit mehr Doris besuchen zugehen, weil die ganzen Prüfungen mich auf Trab gehalten haben. "Ja, klar."

Nachdem wir uns fertiggemacht haben, fährt mich Ranja ins Krankenhaus. "Warte hier." Ich steige aus und fahre auf die Gynäkologie-Station, wo ich in Doris' Zimmer gehe, sie aber nicht da ist. Eine andere Frau liegt auf ihrem Bett. Verdutzt schließe ich die Tür und laufe zum Informationssekretariat. "Ist die Frau Eckhard noch hier?" Vielleicht ist sie ja wieder gesund, doch als die Frau ihre Augenbrauen hochzieht, wird mir leicht schlecht. "Die Frau Eckhard ist genau vor einem Monat von uns gegangen." Ich ziehe scharf die Luft ein und verkrampfe mich. "Okay", flüstere ich und laufe schnell zurück. Sie ist tot. Fassungslos halte ich mir die Hand vor den Mund und schüttele den Mund. "Sie ist tot." Ich presse meine Lippen aufeinander und schließe fest meine Augen. Meine Lippe bebt, genau wie mein Bauch. Schnell steige ich aus und wische mir meine Träne weg. Wäre ich doch nur einen Monat früher gekommen, dann hätte ich sie noch einmal sehen können! Ich lasse mich auf dem Sitz nieder und ignoriere Ranjas Blick. "Shana, alles in Ordnung?" "Fahr mich nach Hause", flüstere ich und schniefe. Das Auto bewegt sich langsam und mir wird leicht schwindelig. Ob Can davon Bescheid wusste? Wusste er, dass Doris gestorben ist? Ich fahre mir über meine Augen und versuche mich zu beruhigen. "Shana, was ist passiert?" Ich schaue aus dem Fenster und presse meine Lippen aufeinander. "Doris ist gestorben", flüstere ich und verliere wieder einige Tränen. "Soll ich zu Hause bleiben?" Ich schüttele meinen Kopf. "Geh", flüstere ich und steige aus dem Auto. Schnell laufe ich die Treppen hoch und lasse mich sofort in meinem Zimmer nieder. Die Hände palmiere ich vor meinen Augen und spüre das Zittern in mir hochkommen. Wieso musste sie sterben? Es gibt doch so viele, die den Krebs besiegen, wieso dann nicht eine so gute Frau, wie Doris? Sie hatte ein Recht auf ein Leben! Ich raufe mir meine Haare und schüttele den Kopf. Seit genau einem Monat ist sie tot. Am 16. Juli ist sie von uns gegangen. Doris war doch voller Leben! Schluchzend stehe ich auf, um mir einen Kakao zu machen, da er mich beruhigt. Ich kann irgendwie nicht ganz realisieren, dass Doris wirklich von uns gegangen ist. Ich muss mich beruhigen. Erst nehme ich eine Tablette und lege den Kakao in die Mikrowelle. Doris mochte Schokolade vom ganzen Herzen. Sie hatte immer eine Packung Schokolade bei sich und vor allem hat sie Yogurette geliebt. Hätte ich ihr öfters Schokolade gekauft, denke ich mir und wische weitere Tränen weg. Sie war wirklich die Person, der ich mich anvertrauen konnte. Nicht Ranja oder Saliha, nein, Doris war es und jetzt ist sie nicht mehr da. Sie hat mir bei den Streitereien mit Can immer geholfen und mir zugehört.

Es klingelt an der Tür, weswegen ich zusammenzucke und mir meine Augen trockenreibe. Ist das Saliha oder Ranja? Es kann sonst keiner sein. Ich öffne schniefend die Tür und schaue eicht verzweifelt in Cans Augen. "Was willst du hier?", spucke ich patzig und halte die Türklinke fest in meiner Hand. "Shana... ich habe es mitbekommen." Mir steigen wieder Tränen auf. "Sie war meine Bezugsperson, Can", flüstere ich und wische mir die neu aufsteigenden Tränen weg. Ich bin traurig, ja, aber dass Can hier auftaucht, lässt Erinnerungen aufsteigen, die mich wütend machen. "Wieso bist du nicht bei Aleyna?", gebe ich abwertend von mir und trete zurück. "Shana, wollen wir wirklich deswegen diskutieren?", seufzt er. Ich nicke. "Unbedingt! Das haben wir doch auch vor einigen Monaten gemacht!" Dass meine Wut sich mit meiner Trauer vermischt macht mich ganz hysterisch. aber ich kann nicht anders. Er tritt langsam hinein und schließt die Tür hinter sich. "Oder warst du schon bei Aleyna, hmm?" Er schüttelt den Kopf. "Wieso denn nicht? Nur weil ich hier bin und weine? Wärst du sonst bei ihr und hättest sie gefickt?!" Ich laufe in die Küche, da mein Kakao noch in der Mikrowelle ist. Can zieht sich schweigend die Schuhe aus und folgt mir. "Shana, das war nur eine einmalige-," "Eine einmalige Sache, wie immer!", zische ich, weswegen er sich über die Stirn fährt. "Shana, beruhige dich doch bitte." Ich schüttele schniefend den Kopf. "Wieso denn? Wie kann ich ruhig bleiben, wenn meine Bezugsperson gestorben ist und dieser Junge plötzlich auftaucht, mit dem ich mich gestritten habe?!" Ich hole wütend meinen Kakao aus der Mikrowelle, den mir Can aus der Hand nimmt. "Deine Laktose-," "Ich habe eine Tablette genommen, du brauchst dich nicht um mich zu kümmern!", zische ich und entnehme ihm den Becher. "Wieso bist du denn so sauer?" Cans stetig ruhiger Ton beeindruckt mich, sonst rastet er doch mit aus. "Weil du Aleyna geküsst hast!" Er schaut mich einfach nur an. "Wieso ausgerechnet sie? Wieso hast du nicht..." Mich geküsst? Ich schließe meine Augen und atme tief ein. "Wieso hast du es nicht einfach sein gelassen?" Er fährt sich durch sein Haar. "Ich hatte ja eigentlich in Gedanken andere Pläne", nuschelt er. Ich nicke schniefend und seufze. "Und wieso hast du diese Gedanken nicht in die Realität umgesetzt?", flüstere ich und lege den Becher ab. "Ich glaube, das wäre keine gute Idee gewesen." Er spielt mit der Patrone seiner Kette herum und verzieht sein Gesicht. "Hattest du vor mit ihr zu schlafen?" Mir steigen wieder die Tränen hoch, als ich daran denken muss, dass Can möglicherweise sowas in Erwägung ziehen wollte. "Nein, Shana." Ich schüttele angewidert den Kopf. "Du musst auch immer Salz in eine offene Wunde streuen, nicht wahr?", kommt es heiser von mir. Cans Gesicht wird panisch. Er weiß nicht wirklich, was er sagen soll. "Ich komme damit klar, dass du wieder was mit ihr anfangen willst, nur will ich es nicht sehen." Ich drehe mich um und verliere wieder Tränen. Ob sie wegen Doris oder wegen Can sind, weiß ich jetzt nicht. Can dreht mich vorsichtig an meinen Schultern zu sich und sieht mich wehleidig an. "Ich will es nicht sehen, Can", flüstere ich. Er zieht mich zu sich und umarmt mich. Egal, wie sehr ich ihn doch gehasst habe, es wandelt sich immer um. Ich kann nicht beim Hass bleiben. "Wieso tauchst du immer wieder auf?", flüstere ich. "Weil ich dich nicht alleine lassen will." Ich schließe fest meine Augen und kralle meine Hand in seine Haare. Jetzt ist wirklich das letzte Stück Hass ihm gegenüber verflogen. Ich kann ihm wirklich nicht lange hassen.

Wir trennen uns voneinander und schauen uns stumm an. "Komm." Er streicht mir meine Haare weg und fährt mir liebevoll über meine Wange. "Lass uns ins Zimmer." Er greift nach meiner Hand und schaut mich an, so als ob er auf meine Reaktion wartet. Ich nicke und laufe mit ihm in mein Zimmer, wo ich mich müde auf mein Bett niederlasse. "Du nimmst also jetzt deine Medikamente?" Ich nicke. "Bis der Winter beginnt. Da tut es nicht mehr weh." Kopfschüttelnd schaut er in meine Schublade, die man relativ als kleine Apotheke zählen kann und seufzt. "Dich muss man ja mit Samthandschuhen anfassen", murmelt er und schließt Zungen schnalzend die Schublade. Ich mustere ihn, auch wenn er es sieht. Er sieht irgendwie anders aus. "Hast du etwa das neue Tattoo?" Ich stehe langsam auf und ziehe den Ärmel seines T-Shirts hoch. "Ja." Ich nicke und sehe mir Medusa und sie Rose an. Es sieht verdammt gut aus. "Sieht schön aus", flüstere ich und fahre die Konturen mit meinem Finger nach. Langsam lasse ich meine Finger über seinen Oberarm gleiten und ziehe sie ruckartig zurück. "Setz dich." Ich rutsche weiter in die Ecke, damit auch Can sich auf das Bett setzen kann. Er schüttelt an der Patrone, weswegen ein dumpfes Geräusch erklingt und lässt dann von ihr ab. Das kann doch niemals von der Kette kommen. "Shana", seufzt er und fährt sich über seine Oberschenkel. "Ich wollte dir nicht wehtun." Unsicher schaut er mich an und fährt sich durch seine Haare. Ich nicke kaum vernehmbar und warte, dass er weiter spricht. "Ich war einfach nur verwirrt und-," Er schüttelt seinen Kopf und zuckt mit seinen Schultern. "Es ist vorbei", flüstere ich. Kaum zu glauben, dass alles wieder beim Alten ist. Das kriegt auch nur Can hin. Er hat dieses Besondere an sich, was mich weich werden lässt. "Du hast den Verlust heute erfahren?" Eine unangenehme Gänsehaut macht sich breit, als ich wieder an Doris denken muss. "Ja." Ich presse meine Lippen aufeinander und seufze. Doris hätte nicht gewollt, dass ich wegen ihr weine. Sie hätte gewollt, dass ich und Can uns näher kommen. "Du hast während den Ferien doch nicht gelernt, oder?", sagt Can etwas argwöhnisch. "Nein, noch nicht", flüstere ich. "Und von Butterkeksen ernährst du dich nicht?" Ich nicke. "Gut." Er legt einen Arm um mich und zieht mich an seine Brust, was ich sehr genieße. Seine silberfarbene Kette nehme ich in meine Hand und schüttele die Patrone. Wäre da die Verlängerung der Kette drin, dann wäre das Geräusch doch lauter? Was versteckt er da drin? "Ich hole mir eben was zu Trinken." Er erhebt sich und läuft in die Küche. Anscheinend ist es ihm unangenehm, wenn ich an der Patrone schüttele. Was hat er da? Als er wiederkommt, lächelt er mich an, was ich sofort erwidern muss. "Willst du an die Alster? Es herrsch gutes Wetter." Es ist wirklich warm und schön draußen. Ich nicke einfach und zupfe am Riss meiner dunkelblauen Hose. Langsam erhebe ich mich und nehme von Victoria's Secret Aqua Kiss und sprühe mich damit ein, bevor ich meine Haare etwas anfeuchte und sie knete. "Ich will dahin laufen", sage ich, woraufhin Can nickt. "Alles, was du willst." Wir laufen still aus der Wohnung, wo uns die Sonne entgegen scheint. "Wir vertragen uns wohl immer. Komisch, findest du nicht?", frage ich und schaue zu ihm hoch. "Wie meinst du das?" Seufzend atme ich aus. "Wir streiten uns und normale Menschen würden nach dem zweiten oder dritten Streit sofort den Kontakt abbrechen, aber wir nicht. Egal, wie oft wir uns streiten, wir kommen immer wieder zusammen. Das bewundere ich." Ich ziehe am schwarzen Crop-Top, welches leicht durch das dunkelblaue Oberteil scheint und schaue wieder kurz hoch zu Can. "Ja, wir sind nicht normal." Ich schmunzele. "Aber so ist es auch besser. Normal würde dir nicht stehen", fügt Can hinzu. Es fasziniert mich, dass Can mich so schnell auf andere Gedanken bringen kann. Ich war vor wenigen Stunden oder Minuten noch total melancholisch und wütend und kaum ist Can da, bringt er schon wieder Frieden in meine Welt. "Ich will meine Doktorarbeit der Krebsforschung zuwenden." Er nickt. "Es muss doch eine Heilung für diese Krankheit vorhanden sein." Cans Arm legt sich um mich und seufzt. "Das wird schon." Ich halte mich an seiner Hand fest, die an meiner Schulter runterbaumelt und seufze. "Denkst du, dass irgendwann alles, aber auch wirklich alles gut wird?", frage ich Can. "Ja, zwar wird es nicht ewig halten, aber irgendwann kommt der Tag." Es beruhigt mich ungemein, dass er sowas sagt, denn Can kann ich bei solchen Dingen glauben. Ich habe das Gefühl, dass es bei ihm etwas tiefgründiges ist, so als ob er weiß, wovon er redet. "Willst du später etwas essen?", fragt Can mich. "Wenn du nichts dafür bezahlst?" Ich höre ihn leise lachen. "Keine Sorge, es ist kostenfrei." "Dann ist ja gut", murmele ich und atme seinen Duft ein. "Lass uns eine Wette machen, Shana." Argwöhnisch schaue ich zu Can, der mich anlächelt. "Was für eine Wette?" Skeptisch beäuge ich ihn. "Es ist mehr ein Versprechen, als eine Wette. Wir werden das restliche Jahr nicht mehr streiten und versuchen es ins nächste Jahr zu übertragen. Was hältst du davon?" Bei dem Gedanken, dass wir ohne Streit jeden Tag miteinander auskommen können, flattert mein Herz. Ich müsste mir keine Sorgen oder sonstige negativen Gedanken machen. "Das hört sich sehr gut an." Er hält mir seinen kleinen Finger hin - den ich aber als sehr groß empfinde. Sofort umschließe ich ihn mit meinen und drücke einmal zu. Das ist unsere Art sich etwas zu schwören oder zu versprechen.

"Hoffentlich schaffen wir es."

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