Kapitel 23
Mittwoch, 4. Mai
Vom Freitag bis Montag war ich wieder bei meinen Eltern, wo ich über alles ausgefragt wurde. Die Freundinnen meiner Mutter kamen natürlich auch vorbei und haben mich vieles gefragt. Wieso sie Kopfschmerzen haben, wieso ihre Augen braun sind und so weiter. Natürlich haben sie auch gemeckert, weil ihre Töchter kein Medizin studieren, sondern anderes oder eine Ausbildung machen, na ja. Es war schön. Natürlich konnte meine Mutter sich nicht die Frage verkneifen, ob ich einen Jungen dort gefunden habe und hat mir immer wieder eingetrichtert, dass ich mich nicht schämen soll, falls etwas passiert ist. Ich glaube, dass ich schon längst tot wäre, wenn ich ihr erzählt habe, dass ich bei Can übernachtet habe und ihm den Hals im benommenen Zustand ableckt habe und... kurz davor war ihn zu küssen. Gott, diese Erinnerung wirft mir einen Schauer in den Rücken, den ich schnell abschüttele. Nach meinem heißgeliebten Anatomieseminar, laufe ich Can hinterher, der schon in der Mensa sitzen müsste. Ich muss ihm klarmachen, dass ich trotz seines Lapsus mitkomme und damit zeige ich ihm auch, dass er mich nicht einschüchtert, auch wenn es das Eine oder andere Mal bestimmt vorgekommen ist. Ich reiße die Türen auf und trete souverän rein, ignoriere die Blicke der anderen und steuere auf den Tisch zu, wo Malik und Can sitzen und essen. Can scheint mich nicht zu bemerken, da er gerade dabei ist zu essen und dabei total sü-, hässlich aussieht. Ich bleibe vor dem Tisch stehen, weswegen Can und auch Malik mich bemerken und hochschauen. Cans Blickt zeigt leichte Überraschung, die er mir zeigt, indem er seine rechte Augenbraue hebt. "Nur mal so: ich komme heute trotzdem mit", gebe ich trocken von mir und lächele Malik an. "Wohin?" Er blinzelt einige Male. Er sieht müde aus. Ich verdrehe meine Augen und beiße kurz auf meiner Lippe herum. "In die Klinik natürlich", kommt es genervt von mir, als ich in seine Augen schaue, die Verblüffung zeigen. "Ja, Can. Trotz deines dummen Fehlers, lasse ich mich nicht einschüchtern", sage ich arrogant, weswegen Can schnaubend die Augen verdreht. "Da gibt es nichts zu schnauben, du warst einfach von deiner Wut aufgefressen worden und hast mir alles in die Schuhe geschoben." Ich schaue Augen verdrehend zu Malik und bemerke, dass viele uns anschauen. "Guckt woanders hin!", zischen Can und ich synchron. "Deine Ignoranz macht einen aggressiv." Ich lache verächtlich auf. "Dann kann ich ja verstehen, warum du immer so aggressiv bist. Anscheinend bemerkst du deine Ignoranz immer selbst, willst es aber nicht wahrhaben und gibst anderen deswegen die Schuld." "Shana!", mahnt Can mich, weswegen ich meine Hände am Tisch abstütze. "Ja?" Ich ziehe die Augenbraue hoch und schaue abwartend in seine Augen, dessen äußerer Ring um die Iris breiter geworden ist. "Leute, kommt mal wieder runter", versucht Malik das Ganze zu beschwichtigen. Ich entferne mich wieder vom Tisch. "Nach der Uni fahren wir los", sagt Can und sticht aggressiv in sein Essen. Mit der neuen Information laufe ich wieder zurück. "Willst du nicht hier sitzen?", fragt Malik, woraufhin ich meine Zunge schnalzen lasse. "Ich muss schon mehr als drei Stunden mit ihm aushalten. Das reicht mir." Ich laufe in die Bibliothek und gehe dort den Stoff von heute durch, bis ich zu meiner geliebten medizinischen Soziologie laufe. Auf meinem Weg sehe ich Aykan, der mich anlächelt. Ich greife seinen Ärmel und ziehe ihn hinter mir her, dabei laufen wir auch an Can vorbei, dessen argwöhnischen Blicke ich schon spüren kann. "Was ist los?", möchte Aykan wissen. "Du wusstest, dass Can bei Dulf's Burger arbeitet?", frage ich direkt und verschränke meine Arme vor meiner Brust. Aykan nickt verwirrt, woraufhin ich kurz meine Lippen aufeinander presse. "Du weißt, dass Can es nicht leiden kann, wenn ich bei dir bin?" Ich schaue ihm fest in die Augen, um ein Fünkchen an Lüge oder Verzögerung herauszufinden, doch weder das Eine, noch das Andere tut Aykan. Er nickt ehrlich, was mich verblüffend die Augenbrauen hochziehen lässt. "Ja, ich weiß es." Ich weiß gar nicht, was ich ihn fragen soll. "Und wieso hast du es dann getan, wenn du weißt, dass Can sowas nicht toleriert?" Ich bemühe mich gerade den festen Ton zu behalten und nicht ins sanfte zu springen, da er so ehrlich und ruhig ist. "Er ist nicht dein Ehemann, dass er dir vorschreiben kann, mit wem du wohin gehst." Er hat recht. Ich presse meine Lippen aufeinander und nicke kaum vernehmbar. "Hat er dich angeschrien oder sonst was?" Ich lege etwas verlegen den Kopf zur Seite. "Soll ich mit ihm reden?" Ich schüttele den Kopf und kann Aykan nicht böse sein. "Hatte es einen speziellen Hintergrund, dass du mich dahingeführt hast?" Er zieht überrascht die Augenbrauen hoch. "Ich-, also, nein. Ist ein guter Laden und Can soll wissen, dass du unabhängig bist." Er kratzt sich am Nacken, während ich nickend die rechte Augenbraue hochhebe. "Okay." Etwas Misstrauen liegt in meiner Stimme, doch später im Auto kann ich anfangen zu grübeln, was genau sich hinter Aykan verbirgt.
McGothlin + Cohen 1967. 3 Gruppen a 24 Personen: 25 mcg LDS vs 200 mcg Amphetamin, schreibe ich auf und höre aufmerksam zu, was der Professor erzählt. Ich höre Can kurz knurren und dann wie seine Gelenke geknackt werden, was sicherlich wie immer eigentlich total gut aussieht, ich aber nicht hinschaue, da ich ihn nicht beachten will. Leider ist mein Unterbewussten auch noch da und übernimmt das Ganze für mich, weswegen ich Can nicht ganz ausblenden kann. Gott, kannst du bitte dafür sorgen, dass er nicht mehr gut riecht? Das grenzt ja fast schon an Folter. Als er sich räuspert, zucke ich etwas zusammen, da seine Stimme so rau ist. Ich glaube, wenn man nach seiner Stimme greifen könnte, würde sie einem die Haut wegschleifen. Ich verstehe von Mal zu Mal immer mehr, wieso sich Ramazan an Can ranmacht. Warte! Was zum?! An was denke ich? Dieses Arschloch hat mich angeschrien und mir die Schuld für etwas gegeben, was ich nicht wusste! Ich verwerfe die Gedanken an Can und fange wieder an abzuschreiben. Dabei berührt meine Hand seine, da ich mit links und er mit rechts schreibt. Vom kitzelnden Gefühl in der Schulter lasse ich mich nicht beirren, bis Can mit Absicht eine abrupte Bewegung macht und ich deswegen einen Strich mitten im Text stehen habe. "Dein Ernst?", zische ich, während er leise lacht. Ich ziehe einen fetten Strich über sein Blatt und lache dann gehässig auf, höre aber wieder auf, als er wieder auf mein Blatt malt. Mit dem Stift fahre ich über das Gesicht des Löwen und versuche ihm einen Bart zu malen. Einen Hitlerbart, um genauer zu sein, damit Cans diktatorische Seite besser zum Vorschein kommt. Am Ende kam leider nur ein verkrüppeltes Dreieck raus, aber dafür auf der Schnauze des Löwen. "Jetzt nerv nicht weiter!", fauche ich und versuche so schnell wie möglich den Rest abzuschreiben. Can kann sich einen weiteren Strich, den er auf meine Haut schmiert nicht verkneifen. Denkt er ernsthaft, ich lasse nach? "Du wolltest es nicht anders", sage ich.
Im Auto setze ich mich seufzend hin und schnalle mich an. Can hat meine ganze linke Hand vollgekritzelt, sowie ich seine ganze rechte beschmutzt habe. Neben Buchstaben, verschmierten männlichen Geschlechtsorganen, zieren auch kleine Herzen seine rechte Hand und gesellen sich dem Löwen zu. Ich finde, dass ich ihn mehr bekritzelt habe, als er mich, also habe ich gewonnen. "Wie soll ich so vor meine Eltern treten?" Ich zucke apathisch mit den Schultern. "Wenn du mit einem vollgekritzelten Arm schon einmal dahin gegangen bist, wird es nicht sonderlich auffallen, wenn du... Penisse auf deiner Hand trägst", kommt es belustigt von mir. "Vollgekritzelter Arm? Wenn ich mich recht entsinne, dann warst du diejenige, die gesagt hat, dass sie meine Tattoos mag." Ich weiß, dass er gerade angriffslustig zu mir schaut. "Na ja, meine Meinungen ändern sich", ist das Einzige, was ich sage, da mir nichts anderes einfällt. Seine Tattoos sind immer noch faszinierend und ich könnte sie mir stundenlang anschauen, doch gerade ist mein Stolz größer, als meine Ehrlichkeit. "Meinung also, pff." Ich schnaube. "Selber pff", gebe ich keck zurück und schaue auf meine gekürzten Nägel. "Ist da jemand traurig, weil keine Nägel mehr an den Händchen sind?", kommt es höhnend von Can, dem ich am liebsten die Augen auskratzen will, doch wegen dieses Praktikums unfähig dazu bin. "Was denkst du, warum ich jetzt im Besitz von vier Skalpellen bin?", sage ich mich fester Stimme und schaue zu Can, der seine rechte Augenbraue hochzieht. "Du hast zwei weitere geklaut?" Ich schnalze mit meiner Zunge. "Neunte Klasse, Idiot." Can zieht sofort an meiner Haarsträhne. "Fass meine Haare nicht an!", gebe ich angeekelt von mir, was ihn dazu anregt, es ein weiteres Mal zu machen. "Can!" Und wieder zieht er an meinen Haaren. "Kling Glöckchen, weiß Röckchen." Ich schaue ihn entgeistert an und bin meinem Mund sehr dankbar, dass es sich nicht zu einem Schmunzeln verformt hat. "Lass los, deine Hand beschmutzt mein Haar." Er zieht wieder daran. "Deine Haare sind hässlich." Ich schlage ihn, was ihn nur die Schultern zucken lässt. "Arschloch." Er zieht wieder an meinen Haaren, was mich frustriert seufzen lässt. Rasch entferne ich seine große Hand von meinen Locken und gifte ihn böse an. "Sowas schickt sich nicht." Argwöhnisch schaue ich Can an, der lässig das Auto fährt. "Was?", kommt es matt von mir. "Jemand hübsches zu beleidigen." Ich lache humorlos auf. "Wie gut, dass du dich daran hältst und mich nicht beleidigst", kommt es gespielt freundlich von mir. "Du bist hässlich." Ich lache gehässig auf. "Es schickt sich nicht, hübsche Leute zu beleidigen. Hat man dir nicht beigebracht, nicht in der Anwesenheit attraktiver Frauen zu lügen?" Ich reflektiere damit seine Aussage. "Da hier keine attraktiven Frauen sind, fällt das schon mal weg." Er zwinkert mir zu und lacht dann. Er hat mir eiskalt meinen Konter geklaut. Lass das nicht auf dir sitzen, Schwester! "Dann sollten wir dich dringend zu einem Ophthalmologen bringen", kommt es mürrisch von mir. "Nein, das muss nicht sein. Meine Sehstärke liegt bei 157 Prozent, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich relativ gut sehen kann." Ich bin beeindruckt, nur lasse ich mir das nicht anmerken. Dieser Junge hat scharfe Augen, kein Wunder, dass er alles mitkriegt. "Ganz okay", kommt es neutral von mir. "Ganz okay?" Ich nicke. Gibt es irgendetwas, was nicht außergewöhnlich an ihm ist? Ich glaube langsam wirklich, dass alles mit seiner Größe zusammenhängt. Von Stärke, bis hin zur Scharfsinnigkeit. Eine Taube ist ja auch ein Nichts, neben dem Adler. Aus meiner Tasche hole ich meine Butterkekspackung raus und halte sie mürrisch Can hin, was sich als Fehler herausgestellt hat. "Du isst immer noch Butterkekse?", zischt er und entreißt mir die Packung, als er dann langsamer fährt. "Die schmecken!", rechtfertige ich mich. "Oh, nein. Du isst in meiner Nähe keine Butterkekse. Am Ende hast du mehr Butterkekse, als Blut im Körper." Er schaut mich mit steinharter Miene, und ich gebe ihm nur ein zynisches Augenkneifen zurück. "Es ist doch meine Entscheidung, was ich esse!" Er schnalzt mit seiner Zunge. "Das entscheide ich." Ein empörter Laut verlässt meinen Mund. "Es ist mein Magen und mein Mund, meine Zunge und mein Wille!" Er schnalzt wieder mit der Zunge und diesmal musste ich ihm dabei zusehen, da er so gut aussieht dabei. Hässlich! Ich meine hässlich! "Dein Magen gehört mir. Und mein Mund, dein Mund und deine Zunge-," Er schaut mich dreckig grinsend an. "Zunge und Mund nehme ich nur zu gerne." Er leckt sich über die Lippen und erst jetzt registriere ich die Perversion. Mir schießt die Röte ins Gesicht und die verschiedenen Szenarien. "Du-, Gott bewahre mich davor!" Natürlich haben sich Cans verführerische Lippen in mein Gedächtnis gebrannt und damit auch viele... interessante Szenarien. "Du betest doch jedes mal, dass du es einmal darfst", kommt es arrogant von ihm. "Deswegen bin ich auch immer ausgewichen, nicht wahr?", zische ich und sehe, dass Cans Mimik monoton geworden ist. Ups, das wollte ich eigentlich nicht sagen. Manchmal flutschen mir die Dinge einfach raus, die in Gedanken bleiben sollten. Na ja, wenigstens habe ich diesmal wieder gewonnen. Da Can vollkommen still geworden ist, nehme ich mir meine Unterlagen raus und lese sie mir durch. Lernen schadet ja nie. Irgendwie kriege ich gerade wieder Schuldgefühle. Ich wollte es ja nicht wirklich sagen, es kam einfach irgendwie. Bin ich jetzt komplett schuldig? "Dein Wille wird mir noch zustehen", murmelt Can rau, was meinen Rücken hinunterkribbeln lässt. "Dann muss erst einmal eine gigantische Welle kommen, Can", gebe ich heiser von mir, da sich langsam eine unangenehme Spannung aufstaut. "Was, wenn sie schon da war?", fragt er und schaut kühl auf den Verkehr. "Dann war sie nicht stark genug, um meinen Willen zu dir zu spülen." Ich räuspere mich, in der Hoffnung eine festere Stimme zubekommen. "Vielleicht hast du es ja gar nicht mitbekommen, dass sie von der Strömung mitgezogen wurde." Ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen. "Bis jetzt spüre ich ihn noch." Ich lege meine Unterlagen auf meinen Schoß und spiele mit den Ecken des Papieres herum. "Eine Einbildung?" Cans Ton ist und bleibt ennuyant, genau wie sein Blick, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es in seinen Gedanken nur so tobt. "Wie ein Fels ist mein Wille." Ein leichtes Nicken seinerseits registriere ich. "Das Meer nimmt von Mal zu Mal immer etwas vom Fels mit." Da hast du recht. Du nimmst immer etwas mit. "Wenn der Fels solide genug ist?", kommt es fast tonlos von mir. "Auch er kommt gegen ein mächtiges Meer nicht an." Ein mächtiges Meer. Du bist das mächtige Meer und ich der Fels, der die ganze Zeit standhaft bleibt und versucht nicht zu bröckeln. "Und wenn der Fels mehrere Jahre durchhält?" Fragend beiße ich mir auf die Lippe und schiele zu Can, der sich über sein Kinn fährt. "Dann hat der Fels etwas, was die schwäche des Meeres ist." Ich nicke. Gott, diese Situation erscheint mir so surreal. Es kommt mir so vor, als ob es von mal zu mal enger hier wird und dass es sich etwas dreht. Wenn wir im selben Rätsel sprechen, dann bin ich seine Schwäche? Aber vielleicht meint er es anders. Es wäre doch absurd, es so offensichtlich zu machen. Wir sind still, weswegen ich wieder auf meine Unterlagen gucke, mich aber nicht konzentrieren kann. Das Gespräch von gerade muss analysiert werden, aber auch dafür bin ich ebenfalls zu unkonzentriert. Seine Nähe strahlt etwas Starkes aus, was mir früher nie so vorgekommen ist. Es ist neu und es lässt mich schlucken. Man sagt, dass selbst dem stärksten Stier der Hals umgedreht werden kann, doch nun frage ich mich, wer von uns beiden jetzt der Stier ist? Verdreht er mir den Hals oder ich ihm? Verdrehen wir uns beide den Hals und bemerken es gar nicht? Wenn man in Rätseln spricht, dann gibt es etwas, was verhehlt wird. Es wird bewusst weggesperrt, damit es nicht ans Licht kommt. Solche Verhehlungen sind meistens auch eine Schwäche. Wenn ich jetzt wie eine Psychologin denken müsste, dann müsste ich diejenige sein, die herausfinden muss, was hinter diesem plötzlichen, introvertierten Habitus steckt. Ob er vielleicht noch... ? Nein, Gefühle für mich hat er bestimmt keine mehr... oder doch? Ich sollte es vielleicht nicht direkt ausschließen. Aber dann würde er sich doch etwas sanfter verhalten, oder? Oder ist er wieder hinter seinen Stolz und seine Arroganz geflüchtet, weil ich ihn gestürzt habe? Wie gut, dass ich immer in der Psychologie Vorlesung aufpasse. Ich spicke kurz zu Can, der seelenruhig fährt und hin und wieder in den Rückspiegel schaut. Er schaut auch in den Seitenspiegel und des Öfteren aus dem Fenster. Hat er Angst? Es kommt mir so neurotisch vor, wie er das Ganze praktiziert. Sein Trauma muss ihn wirklich jedes Mal verfolgen. Er hat Paranoia, dass jeder Zeit etwas passieren könnte.
Seit einer Stunde fahren wir schon und seitdem herrscht auch eine bedrückende Stille. Mir wäre es lieber, wenn wir diskutieren würden, als uns anzuschweigen. An was er wohl denkt? Seine Kiefermuskulatur sticht stark hervor und verschwindet dann wieder. Was Aykan wohl verheimlicht? Er hat gezögert, die Wahrheit wollte er nicht sagen. Mag sein, dass er mir verdeutlicht hat, dass Can mir nichts verbieten kann, doch es muss ein spezieller Grund vorhanden sein, dass er so gehandelt hat. Hat er Interesse an mir? Ich finde, dass sich sowas total lächerlich und oberflächlich anhört. Ich mag es nicht darüber nachzudenken, ob jemand auf mich steht. Vielleicht, weil ich mir dann irgendwie Hoffnungen mache? Ach, egal! An einer Tankstelle hält er an und steigt dann aus dem Auto. Erst tankt er und dann sehe ich, wie er sich von der Tankstelle entfernt. Anscheinend muss er sich die Beine vertreten. Verständlich, wenn man so lange Beine hat, wie Can es tut und auf engstem Raum die Gliedmaßen nicht ganz strecken kann. Ich frage mich, wieso er den Schlüssel mitgenommen hat. Fahren kann ich ja nicht, also kann ich ihn nicht am Straßenrand stehen lassen, was eigentlich lustig wäre. Vielleicht hat er Angst, dass ich irgendwo rankomme und dann das Auto anfängt sich zu bewegen? Ja, das könnte es sein. Wenn ich mit meinem Ellenbogen gegen den Schalterknüppel komme, dann könnte das schon ins Auge gehen. Als ich wieder zu ihm sehe, sehe ich dass Can raucht. Ich dachte er hört damit auf? Mit Argwohn ziehe ich meine Augenbrauen zusammen. Er weiß doch selber, wie schädlich das Ganze ist, dass es seine Alveolen zerstört und dass das Nikotin schon in zehn Sekunden sein Gehirn erreicht. Als er nach dem Bezahlen ins Auto steigt, legt er die Zigarettenschachtel, die noch voll ist, auf die Mittelkonsole, die ich an mich nehme. Sein leicht verhärteter Blick liegt auf mir und erst jetzt vernehme ich den Geruch von frisch gerauchter Zigarette, die sich mit seinem Duft vermischt hat und trotzdem irgendwie gut riecht. "Du wollest aufhören, dann zieh es durch." Ich packe die Schachtel in meine Tasche und bin bereit ihm die Fakten auf den Tisch zu hauen. "Dein Blutdruck und Herzschlag werden nach zwanzig Minuten reguliert, die Menge an Kohlenstoffmonoxid und Nikotin halbiert sich dann in acht Stunden und die Sauerstoffmenge ist dann wieder normal. Nach zwei Tagen hast du dann kein Nikotin mehr im Körper, du riechst und schmeckst besser und dann zwischen zwei und zwölf Wochen hast du wieder einen guten Kreislauf." Er nickt leicht und fährt los. "Hast du Hung-," "Nein!", schneide ich ihm das Wort ab und sehe, wie er seine Lippen aufeinander presst. Er will lachen, tut es aber nicht, was besser für ihn ist. "Burger King ist mal wieder dran." Ich stöhne genervt auf und fahre mir durch meine Haare. "Ich habe mich entschieden, mir ein Nasenpiercing stechen zulassen." Er fährt abrupt langsamer. "Nein!" Mein Schmunzeln verstecke ich und schaue zu Can, dem ich mein Kinn rausrecke. "Doch." "Nein, Shana", knurrt er. "Doch", gebe ich ruhig von mir und feiere mich innerlich dafür. Das Piercing werde ich mir nicht stechen lassen. Zu Hause habe ich winzige, biegsame Goldcreolen, die sich prima als Piercing machen. Unzufrieden schließt er seine Augen und atmet tief durch. Als ich das Emblem der Restaurantkette sehe, vergrabe ich mich tiefer im Sitz und gebe mürrische Laute von mir. "Kannst du mich nicht hassen, ohne großzügig zu sein?", brumme ich unzufrieden und sehe, wie sich seine Augen weiten. Er dreht sich mit zusammengezogenen Augenbrauen zu mir und funkelt mich mit angespanntem Kiefer an. Leichte, dunkle Augenringe zieren seine Augen. "Ich hasse dich nicht", sagt Can sauer und schnaubt. Dieser Satz erleichtert mich und lässt meinen Bauch kribbeln. Er hat noch nie behauptet, dass er mich hasst, ich hingegen schon und das mochte Can gar nicht. Es hat ihn immer wieder toben lassen. Diese Erinnerungen lassen mich frösteln. "Ist dir kalt?" Cans Stimme kann ich nirgendswo zu Ordnen. Sie ist emotionslos. "Etwas." Ich presse kurz meine Lippen aufeinander, als er kurz zu mir schaut und dann die Sitzheizung einschaltet. Als wir den Parkplatz erreichen, glänzen meine Augen vermutlich, da ich ein Plakat sehe, auf dem Chili-Cheese Nuggets im Angebot sind. Ich greife motiviert nach meinem Portmonee, was mir aus der Hand gezogen wird. "Nein." Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen. "Doch." Ich will danach greifen, doch Can hält mich zurück. "Hinsetzen." Mit einem Schubs sitze ich verdutzt auf dem warmen Sitz. Dieser Junge besitzt eine immense Kraft! "Was willst du?" Stur verschränke ich die Arme vor der Brust, was ihn seufzen lässt. "Shana, sag was du willst." Ich drehe ihm den Rücken zu und starre auf dem Fenster. "Chili-Cheese Nuggets und?" Mit geweiteten Augen drehe ich mich zu Can, der mich abwartend ansieht. "Woher weißt du das?" Seine Großzügigkeit macht mich aggressiv! Er soll aufhören, so nett zu sein! "Weil ich gesehen habe, wie du das Plakat angegafft hast." Meine Lider kneifen sich leicht zusammen. Cans Adleraugen sehen auch wirklich alles. "Nein, ich will keine", gebe ich bockig von mir. Lieber verhungere ich, als dass er mir etwas zu Essen kauft. "Dann die Nuggets und ein Long Chicken Menü", seufzt er, woraufhin ich den Kopf schüttele. "Doch." Er steigt schnell auf dem Wagen und sperrt das Auto ab, weswegen ich ihm empört hinterher schaue. "Das ist nicht dein Ernst!", zische ich, doch er ist schon im Restaurant, weswegen er es nicht mitbekommt. Frustriert stöhne ich auf und fahre mir über mein Gesicht. Als Can wiederkommt legt er die Pommes auf die Tüte, die er auf die Mittelkonsole ausgebreitet hat. "Dein Burger und deine Nuggets." Ich schaue ihn finster an und entreiße ihm die Sachen. "Dankeschön", murre ich und höre ihn leise lachen.
Als wir endlich an der Klinik ankommen, laufen wir direkt auf die OP-Station, wo Cans Vater schon operiert wird und warten. Von Mal zu Mal verkrampft Can sich immer mehr und er wird etwas hibbelig. Mit seinem Bein wippt auf und ab und er fährt sich alle zehn Sekunden durch seine Haare. Als er schon zum vierten Mal versucht seine Gelenke knacken zulassen, nehme ich seine Hand und fahre beruhigend über sie, während ich starr auf die Tür schaue. "Es wird alles wieder gut", murmele ich und streiche mit meinem Daumen über seinen Handrücken. Sein Bein wippt nicht mehr und andere nervöse Bewegungen praktiziert er auch nicht mehr. Ich sehe kurz zu ihm, in seine müden Augen. "Hast du wegen der OP nicht richtig schlafen können?" Er nickt und lehnt sich seufzend nach hinten. "Dann ruh dich jetzt etwas aus." Er zieht fragend die Augenbrauen zusammen. "Lehn dich an meine Schulter." Skeptisch beäugt er mich, was dazu führt, dass ich meine Augen verdrehe. Ich nehme seinen Kopf und lege ihn auf meine Schulter, während ich mich zurücklehne. "Augen zu." Ich schaue runter zu ihm und sehe, wie sich seine Wimpern nach unten bewegen. Der Arme muss sich wohl die verschiedensten Szenarien ausgemalt haben. Er weiß, wie es im OP abgeht und dass Komplikationen eben vorkommen können. Außerdem weiß ich, dass Can die Menschen, die er mag, nicht gerne leiden sieht. Auch wenn sein Vater jetzt nichts spürt, wird er nach der Operation geschwächt sein. Cans Kopf rutsch von meiner Schultern, weswegen er mit seiner Zunge schnalzt und mich näher an sich zieht. Seine Augen sind geschlossen, als er seinen Kopf anhebt und ihn diesmal etwas in die Nähe meiner Halsbeuge legt, was sofort ein Kribbeln in mir auslöst. Ich versuche jegliche Verspannungen zu präventieviren und es nicht zu euphorisieren, dass Can mir nahe ist. Sein Atem kitzelt mich, was wieder ein Kribbeln auslöst, welches sich von meinem rechten Lymphknoten bis hin zu meinem Steißbein hinunterkribbelt. Sein Bart kratzt leicht, doch es ist auch irgendwie angenehm. Als sein Atem langsamer wird und ich kein Kiefermahlen mehr spüre, gehe ich davon aus, dass er eingeschlafen ist. Er muss wohl nur eins, zwei Stunden an Schlaf abbekommen haben. Das langsame und regelmäßige auf und ab Bewegen seiner Brust streift immer wieder meinen Arm und sein leises Atmen durch die Nase kitzelt meine Haut. Seine Hand hat er auf meinem Bein abgelassen, nachdem er mich näher zu sich geschoben hat. Ich mag dieses Gefühl. Er brummt kurz und bewegt sich leicht, weswegen er von meiner Schulter abrutscht. Ich halte ihn schnell fest und lege ihn wieder auf meine Schulter, von er immer abrutscht. Ich seufze leise, bedacht ihn nicht zu wecken und lege seinen Kopf vorsichtig auf meinen Schoß. Seinen Oberkörper drehe ich vorsichtig, sodass es einigermaßen gemütlich sein muss. Wieder brummt er und umschließt mit seiner linken Hand meine Taille. Ich spüre seinen Arm zittern, was mich schlucken lässt. Im Schlaf merkt er den Tremor zum Glück nicht, was mich beruhigt. Mit meiner Hand fahre ich ihm vorsichtig durch seine weichen Haare und streife dann mit meinen Fingerkuppen seine Seiten, die getrimmt sind. Ich mochte seine dichten, schwarzen Haare schon immer, weil sie so gesund sind. Ich würde gerne an ihnen ziehen, aber sie sitzen unverschämt gut und ich will Can nicht wecken. Mich überrascht es, dass er nicht aufgestanden ist, während des Transportes von Schulter auf Schoß. Hoffentlich hat er es gemütlich. Er muss es gemütlich haben. Meine Oberschenkel besitzen genug fett, um es seinem hübschen Gesicht komfortabel zu machen. Ich schaue zur OP-Tür, hinter der Betriebt herrscht und würde zu gerne hineinschnuppern. Als Can zusammenzuckt, schenke ich ihm meine komplette Aufmerksamkeit. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen, lösen sich aber dann wieder und ein feines Lächeln ziert seine Lippen, bevor sie wieder ruhig werden. Ich fahre mit meinem Zeigefinger hauchzart über seinen Dreitagebart und fahre die Konturen nach. Seine Lippen sind wenige Millimeter geöffnet und der Drang seine Lippen nachzufahren ist groß, doch ich unterlasse es. Nicht, dass er dann plötzlich aufwacht und sich fragt, warum mein Finger auf seinen Lippen ist. Einige OP-Schwestern treten heraus und schielen zu uns. "Ist die OP bald vorbei?", frage ich stumpf, da ich sie nicht leiden kann. Eine der Drein nickt. "Nur noch kontrolliert und genäht werden." Ich nicke apathisch und schaue wieder zu Can. Er kann jetzt wieder ohne Bedenken schlafen. Erleichtert seufze ich und fahre ihm wieder durch seine Haare, bis er kurze Zeit später brummend die Augen öffnet und abrupt aufsteht, was mich erschreckt. "Ist was passiert? Wird er noch operiert?", fragt er und schaut besorgt. Beruhigend lächele ich und fahre durch Cans Haar, da einige Strähnen durch die abrupte Bewegung nach vorne gefallen sind. "Alles in Ordnung. Er wird gerade genäht", informiere ich ihm, woraufhin er seufzend die Augen schließt. "War ich schwer? Habe ich dir irgendwie weh getan?", möchte Can wissen, der nicht mehr monoton redet oder schaut. "Nein", versichere ich ihm. "Okay, aber wie ist mein Kopf auf deinen Schoß gekommen?" Ein leicht dreckiges, schiefes Lächeln legt sich auf seine Lippen, während meine Venen im Gesicht sich weiten und für einen roten Teint in meinem Gesicht sorgen. "Du bist immer abgerutscht. Da dachte ich, dass es besser wäre, wenn du-," Ich höre auf zu reden, da es sich komisch anhört es zu sagen. Beschämt schlucke ich und fahre mir durch meine Haare. Verstohlen blicke ich dabei zu Can, der sein Lächeln immer noch trägt. "Es war sehr angenehm, danke", raunt er und zwinkert mir zu, was meinen Rücken runterkribbelt und mir eine Wärmewelle ins Gesichts schießen lässt.
Als nach einiger Zeit der Chirurg den OP-Saal verlassen hat, sieht er uns und läuft auf uns zu. Nach der Begrüßung erläutert er den Stand von Cans Vater. "Alles ist sehr gut verlaufen, die mechanische Klappe hat sich sofort integriert und das mit dem Antikoagulat wird auch noch. Gerade wird er ins Aufwachzimmer gebracht und dann aufs Zimmer. Ich würde ihnen raten ihn die nächsten Tage besuchen zukommen, da die Operation sehr viel Kraft bei den Postoperativen beansprucht", erzählt der Chirurg uns. Wir verlassen erleichtert die Klinik und fahren wieder zurück. Langsam wird der Himmel dunkel und ich werde müde. Ich versuche wach zu bleiben, doch, da mir der Sitz als besonders bequem erscheint und die Sitzheizung die Atmosphäre umso verschönert, kann ich nicht anders als einzudösen.
Durch ein sanftes Rütteln werde ich wach und schaue in zwei gelbe Augen. "Wir sind da", informiert Can mich. Ich nicke müde und strecke mich, wobei ich kleine quiekende Laute nicht verkneifen kann. Can lacht leise und schaut zu mir. "Alles in Ordnung?", frage ich ihn und fahre mir müde über die Augen. "Ja, jetzt schon." Er lächelt, was ich sofort erwidern muss. Ich greife nach meine Tasche und öffne die Tür. "Bis Morgen", murmele ich heiser und laufe direkt nach oben, wo ich mich auf mein Bett fallen lasse. Der Tag war komisch; wir waren zerstritten, haben noch diskutiert, dann wurde es ruhig und am Ende haben wir uns wieder vertragen. Also so kam es zumindest mir vor. Aber, dass möglicherweise alles wieder in Ordnung ist, lässt mich müde lächeln. Ich mag es, wenn wir gemeinsam Dinge unternehmen oder einfach nur nebeneinander sitzen. Ich fahre mir über meine Schenkel, da wieder das Gefühl von Can auf ihnen liegt. Verrückt, aber war. Es beeindruckt mich, dass, obwohl die Situation einige Stunden zurückliegt, ich seine Nähe immer noch spüren kann. Ob es dafür einen medizinischen Grund gibt? Ich schaue morgen mal nach. Jetzt bin ich viel zu müde.
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