Kapitel 109

Das meint Can doch nicht wirklich ernst! Wenn er hier ist, um einen von uns zu verspotten, kann er sich darauf gefasst machen, dass ich zurückfeuern werde. Ganz ruhig bleiben, Shana. Mein Blick wird von erzürnt zu kühl, wobei ich auf den freien Tisch schaue und mich mit Aykan dahin setze. Natürlich ist Can hier, was habe ich mir denn bitte gedacht? Dass er nach Hause geht und dort im Bett liegt? Nein, Can muss genau wissen, was los ist, sonst wäre er ja nicht Can. Aykan lächelt mir aufmunternd zu, was ich nicht so ganz erwidern kann. Dezent peinlich berührt hole ich meine Unterlagen raus und schlage das Glossar auf. "Fangen wir einfach direkt mit den Fachbegriffen an." Aykan nickt, woraufhin neben mir jemand den Stuhl zurückzieht. Na super, jetzt hängt mir Can auch im Nacken! Provokant drehe ich mich zu Aykan und verdrehe meine Augen. "Definiere mir das absolute Risiko", sage ich. "Die Wahrscheinlichkeit-," Ich unterbreche Can sofort. "Du warst nicht gemeint", herrsche ich ihn an. Was zum Teufel wird das hier? Mit geschürzten Lippen nickt Can und schaut bockig auf seine Unterlagen. Er kommt mir wie ein Vierjähriger vor. Tja, aber er soll wissen, dass es sich hier nicht um ihn dreht, und wieso ist er jetzt hier?! Wenn er jetzt wirklich eifersüchtig ist, weil ich Aykan helfe, dann... dann ist Can verrückt! Ich nicke Aykan zu, damit er mit der Erklärung anfängt. "Die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Ereignis, eine Erkrankung oder der Tod während eines bestimmtes Zeitraumes in einer Studienpopulation eintritt." Ich nicke und schaue vorsichtshalber auf das Glossar. Nachdem ich ihn noch abgefragt habe, was die Aggregatdaten, die analytische Epidemiologie, das attributable Risiko und weitere Begriffe sind, schiebe ich das Glossar weg. "Soll ich dich nicht auch abfragen?", fragt Aykan mich, was ich verneine. "Das kann ich schon." Ich zucke mit meinen Schultern. "Aber das sind mehr als fünf Seiten an Begriffen, Shana", kommt es leicht fassungslos von Aykan, was mich schmunzeln lässt. "Ich weiß, ich weiß." Ungläubig nimmt Aykan das Glossar und blättert herum. "Säkularer Trend." Anscheinend ist Aykan noch skeptisch. Na ja, ich würde es auch nicht wirklich glauben, wenn jemand geschmeidig sieben Seiten voller komischer Wörter kennt, die immer mehrere Sätze als Definition haben. "Das ist die Veränderung der Erkrankungs-, beziehungsweise Sterberate über eine lange Zeitperiode von Jahre bis Jahrzehnte. Zum Beispiel der Rückgang von Tuberkulose im 20. Jahrhundert oder die Zunahme der koronaren Herzkrankheit in den ersten beiden Dritteln und die Abnahme im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in den westlichen Industrieländern." Verdutzt hebt Aykan die Augenbrauen und nickt beeindruckt. "Wann hast du angefangen zu lernen?", will Aykan wissen, woraufhin ich nachdenkend an die Decke gucke. Wann war das? Wow, mein Gedächtnis ist echt frisch. "Keine Ahnung, aber das sind ja nur zweiunddreißig Seiten, die lernt man an einem Tag." Aykan sieht mich entgeistert an. Er hält mich für verrückt. "Was?", nuschele ich und schlage meine Notizen zu der Kausalität auf. "Hast du die ganzen zweiunddreißig Seiten an einem Tag gelernt oder was?", möcht Aykan leicht entgeistert wissen. "Ja, hast du das?", knurrt Can und legt seine Hand auf mein Knie, die ich wegschlage. "Nein, das ist nicht gut für den Körper und so kann man es sich nicht richtig merken." Ehrlich gesagt, hätte ich auch keine Lust soviel aufeinander zu lernen. Außerdem würde mir Can den Kopf abreißen, aber jetzt würde ich ihm den Kopf abreißen, sodass er mir nicht den Kopf abreißen kann. Jetzt hoffe ich für Can, dass er wenigstens ruhig ist.

"Ja, aber es kommt auf die experimentelle Evidenz an." Aykan schaut benommen durch die Bibliothek und legt den Kopf auf den Tisch. Der Arme kommt nicht weiter. "Können wir eine Pause machen? Mein Kopf platzt gleich." Lächelnd nicke ich und strecke mich dabei, wobei mein Oberteil hochrutscht. Can ist natürlich wie eine Überwachungskamera und greift sofort ein. "Musst du auch so kurze Sachen tragen?", brummt er. Ich will antworten, doch beschließe mich, ihn zu ignorieren. Das Oberteil geht mir über den Bauch und weil ich mich strecke, ist es eben normal, dass es hochrutscht. Wieder entferne ich seine Hände von mir und strecke mich noch einmal aus Prinzip. "Haben wir hier in der Uni einen Kiosk?", frage ich Aykan, welcher es verneint. "Aber fünf Minuten von hier entfernt, auf der anderen Seite ist einer." Ich hole mein Portmonee raus und nicke ihm zu. "Ich hole mir etwas zu trinken." Meine Jacke nehme ich mit und stecke mir mein Portmonee in meinen Mund, damit ich meine Jacke anziehen kann. Diese scheußlichen Temperaturen lassen einen auch wirklich leiden. Ich sollte mir wirklich einen Schal zulegen, aber sie kratzen dann immer an meiner Haut. Stattdessen halte ich mir die Hände um den Hals, nachdem ich mein Portmonee in meine Jackentasche gesteckt habe. Ich hoffe, dass Can die Finger von Aykan lässt, da ich ihn sonst mit meinem Kugelschreiber attackieren werde. Wieso ist er nicht einfach zu Hause geblieben, wenn er überhaupt nach Hause gefahren ist? Denkt er wirklich, dass ich mich an Aykan ranmachen würde? Ich bleibe an der Ampel stehen und reibe mir meinen Nacken, damit er wärmer wird, woraufhin sich ein dunkelblauer Schal um meinen Hals legt. Er riecht nach Can. Ich drehe mich ruckartig um und sehe, wie Can sich die Hände in seinen schwarzen Mantel steckt. Verdammt, er sieht so verdammt sexy aus in diesem Mantel! Nicht beeinflussen lassen, Shana! Stimmt, das habe ich vergessen. Mit einem finsteren Blick drehe ich mich um und nehme seinen gut riechenden Schal ab. "Shana, dir ist kalt." "Nein." Er soll sich seine Fürsorge sonst wohin stecken! "Du zitterst wegen der Kälte." Can legt den Schal wieder um mich und hält ihn fest, damit ich ihn nicht abnehmen kann. "Was suchst du hier?", frage ich genervt und laufe über die Straße. "Denkst du ernsthaft, ich bleibe mit diesem Opfer am selben Platz?" Ich verdrehe meine Augen und schnaube. "Nenn ihn nicht Opfer und außerdem bist du bis gerade eben noch dort geblieben." Ich laufe schneller und versuche seine Hände von seinem Schal, der meinen Hals wärmt, zu entfernen. "Hat er dich dazu beauftragt, dass du ihn verteidigst?", will er spottend wissen, was mich reizt. "Wie wäre es, wenn du einfach nach Hause fährst, Can?", zische ich, als wir über die Straße gelaufen sind. Seine arrogante Art geht mir auf die Nerven! "Geh einfach und reg mich nicht auf! Ich verstehe nicht, was du damit bezwecken willst, dass du jetzt bei Aykan und mir bleibst. Hast du kein Vertrauen in mich? Denkst du, ich werde mich von ihm belästigen lassen, falls dieser arme Junge es überhaupt in Erwägung ziehen würde? Du bist krank, Can. Irgendetwas stimmt in deinem Kopf einfach nicht, du hast Störungen und Komplexe-," "HÖR AUF!", schreit er urplötzlich und ist total wütend.

Er atmet viel schneller und schaut auf den Boden, während sein Kiefer sich verkrampft. "Ich habe keine Störungen!" Ich sehe, wie sich seine Brust unter seinem Mantel schnell bewegt. Was ist los mit ihm? "Sag nie wieder, dass ich Störungen habe", flüstert er und sieht mich verletzt an. Wieso ist Can verletzt? Ich spüre sehr stark, dass etwas nicht stimmt. Etwas, dass Can nicht wohlfühlen lässt. Es verletzt ihn und macht ihn fertig. Sein Blick wird wieder wütend, doch trotzdem ist Trauer zusehen. Er tut mir leid, er versteckt etwas. Er hasst das, was ich gesagt habe. "Das sind keine Komplexe." Er zeigt mit dem Finger auf mich und bewegt ihn schnell. "Das sind Sicherheitsmaßnahmen." Sein Kiefer zuckt und seine Stimme wird langsam kalt. Es kommt mir so vor, als ob er langsam alexithymisch wird. "Ich habe keine Störungen", knurrt er leise und ballt seine Fäuste, dabei ist sein Blick auf den Boden gerichtet, den er nach einer kurzen Zeit auf mich richtet und mit schnellen Schritten auf mich zu kommt. Ich mache mich bereit, seine Hände abzublocken, falls er meinen Kiefer packen will, doch er zieht mich nur sehr fest in seine Arme. Sein Herz pocht ja richtig, was ist los mit ihm? "Das sind keine Komplexe, Shana", flüstert er und fährt vorsichtig über mein Haar. Ich komme gerade gar nicht mit. "Das sind keine Störungen, ich habe keine Störungen. Ich habe-, das sind nur-," Er beendet seinen Satz nicht, sondern drückt mich seufzend und fester an sich. Irgendetwas lässt ihn nicht in Ruhe. Er wird wütend, wenn ich ihm vorwerfe, dass er Störungen hat. Liegt es an seinem Trauma? Weil er leicht eingeschränkt ist? Ich komme mir so schlecht vor, weil ich ihm so etwas vorgeworfen habe. Was muss er wohl denken, wenn er diese Wörter hört? Ich weiß nicht wieso, aber mir steigen die Tränen auf. "Verzeih mir, ich werde mich beherrschen, Shana. Ich habe Angst, keine Störungen. Ich liebe dich zu sehr und habe Angst um dich, ich träume wieder schlecht, das sind keine Komplexe. Ich mag es nicht, wenn du das zu mir sagst. Bitte verzeih mir dieses Mal, ich werde es nicht mehr tun, ich werde dir alles schenken, was du willst, alles für dich machen, aber bitte verzeih mir und lass zu, dass ich deine Wärme um mich habe." Mir kullert eine Träne hinunter, obwohl ich keinen Grund zu diesem Anlass habe. "Ich mache es wieder gut, wirklich." Er hört sich verzweifelt an, weswegen sich meine Brust schwer anfühlt. Ich will so sehr wissen, was sein Hintergrund ist. "Bitte, Shana." Can streicht mir über meinen Rücken und will mich gar nicht loslassen. Das ist so paradox, da er davor so rabiat war und jetzt verzweifelt und verletzt ist. Was versteckt er vor mir? Er ist doch sonst so arrogant und selbstverliebt, neckt mich, falls ich ihn begaffe, aber jetzt erscheint er mir so zerbrechlich. Ich habe das Bedürfnis ihn zu beschützen, mich um ihn zu kümmern, egal wie widersprüchlich das jetzt auch ist, egal wie sehr das mein Nachtragen und meinen Stolz bröckeln lässt. Meine Liebe und meine Fürsorge sind gerade stärker und bringt mich dazu, diesen großen und starken Jungen zu trösten und einfach bei ihm zu sein. Langsam lege ich meine Arme um ihn, egal wie sehr mich mein Stolz auch anschreien würde, wenn er eine Person wäre. Ich merke, dass sich Can entspannt, da seine Umklammerung lockerer wird. "Verzeih mir, ich mache es auch wirklich wieder gut. Diesmal verletze ich dich nicht, ich werde deinen Kiefer nicht packen oder sonstiges. Shana, ich trage dich auf Händen, aber verzeih mir einfach." Er küsst meine Schläfe und drückt wieder feste zu. Ich weiß, dass ich es spätestens beim nächsten Streit bereuen werde, aber ich muss ihn wieder bei mir haben. Es ist für mich so verrückt, dass ich von Can nicht ablassen kann, weil er meine große Liebe ist, weil er mich kennt und sich um mich gekümmert hat, auch wenn er mich verletzt hat. Das Ganze ist ein verrücktes Spiel mit so vielen Gefühlen, sowohl mit schönen, als auch mit schlechten Gefühlen. Ich will eigentlich fern von ihm bleiben, damit er darüber nachdenken kann, doch das weiß er jetzt schon. Trotzdem sollte ich ihn warten lassen, aber ich habe so starke Sehnsucht zu ihm, ich liebe ihn einfach zu sehr. "Ich-," Langsam drücke ich ihn weg von mir und wische mir über meine Wange. Can schaut mich besorgt an und ich versuche genau deswegen objektiv zu bleiben. Er hat mich bedrängt, das darf ich nicht vergessen. Ich darf ihn nicht so schnell wieder an mich heran lassen. "Ich brauche etwas Abstand von dir, ich will dir nicht so schnell verzeihen." Can presst seine Lippen aufeinander und muss schlucken. "Can, bedenke, was du getan hast. Am Ende wärst du noch weiter gegangen, weil du betrunken warst."

Can zieht beschämt seine Augenbrauen zusammen und fährt sich durch sein Haar, wodurch ich auch gerne meine Hand fahren lassen würde. "Ich werde mich darum kümmern, ich werde es nie wieder tun, Shana." Es hört sich so schön an, wenn er so sanft redet und mir Versprechen gibt. Er gibt mir Hoffnungen, doch ich weiß, dass er wieder einen Aggressionsanfall bekommt, dass er mich wieder mit seinen Griffen verletzen wird. Seufzend senke ich meinen Blick und lege seinen Schal fester um mich. "Bitte, dieses Jahr wird alles gut. Ich werde dafür sorgen, dass es dir gut geht, dass du nur noch lachst." Can legt seine Hände auf meine Arme und zieht mich ein Stück an sich, hebt mein Kinn an und schaut mir flehend in die Augen. "Ich will dich nicht alleine sehen, ich will dich bei mir haben." Es schmerzt, so verrückt es sich auch anhört. Es ist ein kleiner, nerviger Schmerz in der Brust, weil wir bemerken, dass wir uns angreifen, obwohl wir uns so sehr lieben. Manchmal ist unsere harte Schale stärker, als unser weicher Kern. Ich will nicht, dass unsere Ignoranz unser Uns zerstört. "Ich will nur einige Tage alleine bleiben, okay?", bekomme ich heiser raus, weil sich meine Augen wieder mit Tränen füllen. Langsam nickt er und fährt sich gestresst über seine Stirn. "Komm, du hast Durst." Ich nicke und laufe neben Can her. Den kleinen Klos schlucke ich hinunter und seufze kaum vernehmbar. Es wird alles gut, es war nur ein Fehler. Ein Fehler hält uns nicht auf. Wir betreten den kleinen und warmen Kiosk, der durch das Öffnen der Tür ein leises Klingeln von sich gibt. Eine ältere Frau mit einer runden Brille begrüßt uns und wartet an der Kasse, während ich aus dem Kühlschrank eine Mineralwasserflasche raushole. Can gibt ihr zwei Euro, bevor ich die Flasche auf den Tresen legen konnte. Die Frau bedankt sich und Can schiebt mich lächelnd raus. "Das hätte ich auch alleine bezahlen können." Ich versuche die Flasche zu öffnen, die meine Handinnenfläche schmerzen lässt, und zische deswegen leise auf. Can nimmt mir die Flasche aus der Hand und öffnet sie für mich. Dankend nicke ich und trinke aus ihr, verziehe wegen der Kälte und der Kohlensäure das Gesicht und halte die Flasche Can hin, der ebenfalls aus ihr trinkt. Es mag sein, dass dieser Gedanke grotesk ist, doch ich habe das Gefühl, dass Can nur aus der Flasche getrunken hat, weil ich aus ihr getrunken habe und meine Lippen somit auf dem Plastik waren. Er trägt die Flasche und mustert mich, als wir an der Ampel stehen. Ich sehe ihn nicht an, doch spüre seine stechenden Augen. Meinen Blick senke ich und atme sein Parfüm ein, der auf seinem weichen Schal versprüht wurde, während ich meinen Stiefel in den Schnee drücke, damit dieses knirschende und beruhigende Geräusch entsteht. Ich habe Angst vor diesem Jahr, ich habe Angst vor den Auseinandersetzungen, ich habe Angst vor den Sätzen, mit denen wir uns abwerfen und uns schneiden werden und dabei verstehe ich nicht einmal wieso. Ich liebe ihn, er liebt mich, er hat den Gedanken, mich zu heiraten, er will mich an seiner Seite haben, er lässt seinen Stolz liegen, um mir hinterher zu rennen. Er ist perfekt, es kann doch nichts schief laufen?

Benebelt von meinen Gedanken, laufe ich über die Straße, als es mir die Ampel erlaubt und seufze. Ich muss aufhören so pessimistisch zu denken. Unsere Liebe ist stark genug, um diese Hürden zu überwinden. Das haben wir bis jetzt immer geschafft und wir werden es auch hoffentlich immer und immer wieder schaffen. Ich brauche ihn und er braucht mich. Zu gerne würde ich ihn fragen, wieso er so sensibel auf meine Wörter reagiert hat. Bei den zerstören Hoffnungen war es auch so, er ist sofort ausgerastet und wurde kalt, er hat sich verschlossen und nur, weil er nicht weiter verletzt werden wollte. Nur will ich den Grund dafür jetzt auch wissen. Can ist zu stolz um zuzugeben, dass ihn jemand verletzt und kränken kann, er ist zu stolz, um einzusehen, dass er Makel hat und Fehler begangen hat. Er ist wie ich und obwohl wir uns so ähnlich sind, sind wir uns manchmal so fremd. Wie viel Antagonismus in uns schlummert, der mit so viel Stolz und Ignoranz gepaart ein mächtiges Gift für unsere Beziehung zaubert. Ich schüttele diese Gedanken vorerst ab, da wir uns wieder in der Uni befinden und ich mich auf meine vorstehende Klausur vorbereiten muss. Cans Schal nehme ich ab und gebe ihn ihm zurück, woraufhin er mir meine Flasche gibt. Wir haben den ganzen Weg über nicht geredet, da wir beide in Gedanken waren und es vermutlich immer noch sind. Ich weiß, dass Can über uns nachdenkt. Seine Verlustangst spricht dafür, er will mich nicht verlassen, er würde daran vielleicht kaputt gehen und ich auch. Das hier ist unsere aller erste Beziehung, wir beide lieben zum aller ersten Mal. Da kann nicht alles glatt laufen, wenn keiner von uns wirklich eine Ahnung hat, wie er was angehen soll. Can hat davor keinem Mädchen etwas geschenkt und ich könnte es ihm nicht glauben, wenn er mit einem anderen Mädchen spontan nach Paris gefahren wäre. Er hatte schon vor fast sechs Jahren geheime Gefühle für mich und auch ich war nicht unbekümmert nach einer Zeit. Es war einfach nur eine Zeit der Realisierung. Schweigend, wie zuvor auch, betreten wir die große und warme Bibliothek, welche schon viel voller ist, als vor wenigen Minuten. Meine Jacke ziehe ich aus und hänge sie um meinen Stuhl. "War ich lange weg?", frage ich mit gedämpfter Stimme, woraufhin Aykan mit einem Nein antwortet. "Ich habe ein passendes Buch gefunden." Er legt das Buch in die Mitte, woraufhin wir drei unsere Köpfe mehr nach vorne legen. Dadurch muss Can sich mir nähern und legt seine Hand auf mein Knie, zeichnet kleine Kreise drauf und streift meine Wange kurz mit seiner. Er sucht Zuneigung, die er für eine kurze Zeit nicht bekommen hat und vor mir nie richtig spüren und genießen konnte. Er ist abhängig von mir. Er vermisst das Dopamin, was ihn glücklich macht und das Oxytocin, was ihn geliebt fühlen lässt und dabei habe ich mich nicht länger als eine Woche von ihm distanziert. Wie faszinierend die Liebe und ihre Hintergründe doch sind. Aykan erzählt uns etwas zur Kausalität, wobei ich mir wieder Notizen mache und Cans Hand von meinem Knie schiebe, da seine Berührungen mich ablenken. Ich muss mich gerade auf das Lernen konzentrieren. Wenn ich später im Bett liege, kann ich mir dann meinen Kopf zerbrechen.

Wir haben kurz vor Mitternacht und mussten aufbrechen, da die Bibliothek um 00:00 Uhr schließt. Ich habe mich dazu entschlossen mit Can zu fahren und lächele leicht, als Can kurz am Gurt zieht, um verifiziert zubekommen, dass mich der Gurt schützt. Ich bin müde vom ganzen lernen und freue mich auf jeden Fall, wenn ich zu Hause etwas essen kann. Can hat mich gefragt, ob ich etwas essen möchte, doch ich habe abgelehnt, weil ich so schnell wie möglich bei mir sein will. Es ist bedrückend, wie sehr uns ein Streit mitnehmen kann, vor allem da wir unsere Gefühle nicht preisgeben wollen. Wir sind ja so kompliziert. Wie es wohl für die Paare ist, die nicht nachtragend sind? Und was ist mit denen, dessen Stolz nicht so groß, wie Berge sind? Wie handeln diejenigen, die einen Streit in Ruhe klären und die Entscheidung und Meinung ihres Partners akzeptieren oder wenigstens tolerieren? Die, die ihrem Partner keine Regeln aufschreiben und ihnen nichts verbieten, wie kriegen die das hin? Wieso kommt es mir so vor, dass es alle so einfach haben, aber wir nicht? Was wird auf uns zu kommen und wieso wird ausgerechnet das uns noch unbekannte Ereignis uns so belasten? Ich spüre es, ich weiß, dass etwas Schlimmes passieren wird. So sehr ich die Nacht mag, so sehr kommt sie mir unsympathisch vor, weil ich erst jetzt diesen schlimmen Gedanken habe. Jetzt symbolisiert die Nacht für mich Kälte, Geheimnisse und Düsterkeit. Die kalte Luft des Neujahres umschließt meinen Körper, als ich aussteige und Cans großen Schatten vor mir sehe. Er begleitet mich wie immer, da er seit seinem Albtraum Angst hat, dass mir Cihan etwas antut, doch Cihan würde sowas nicht mehr tun, Cihan hat sich zum Guten gewendet und ist glücklich mit Elif. Mit meinem Schlüssel öffne ich die Tür und gehe zwei Schritte, als mich Can sanft gegen die Wand drückt und mir voller Sehnsucht in die Augen sieht. "Bleib heute bei mir", flüstert er schon fast und fährt mir hauchzart über meine Wange, wo sich meine Härchen aufstellen und mein linker Arm mit einer Gänsehaut überzogen wird. Es ist ein schönes Gefühl, welches ich nie im Leben missen will. "Ich will mit dir in meinen Armen schlafen, Shana." So schwer es auch ist, ich muss es verneinen, was ihn enttäuscht. Er hätte so gerne mit mir sein wollen und ich wünsche es auch, aber wegen diesem Fehler an Silvester will ich etwas alleine sein. "Darf ich dich anrufen, falls ich schlecht geträumt habe?", fragt er mich, was mir das Herz bricht. Wie kann ein so starker Mann doch so schwach und ängstlich in seinem Inneren sein? Ich hätte mir nie im Leben vorstellen können, dass Can doch so große Schwächen hat. Ich wäre ein Biest, eine Schlange, eine Herzlose, wenn ich es ihm verbieten würde, mich aus dem Schlaf zu holen, nur weil er Angst hat, nur weil er wissen will, ob es mir gut geht. "Natürlich", flüstere ich nickend und genieße diese Nähe. Es kommt mir vor, als ob ich mich viel fitter und besser fühle, so viel wohler und wacher. Es liegt daran, dass ich Can nah bei mir habe und genau das mein Gehirn mit Dopamin belohnt. In meinem Bauch kribbelt es, doch ich muss hoch. Langsam weiche ich zur Seite und laufe die Treppen hoch, dicht gefolgt von Can. Würde er es auch tun, wenn alles vorbei wäre? Würde er mich immer noch die Treppen hoch begleiten? Wieso muss ich so verdammt pessimistisch sein und nicht einmal optimistisch in so einer Situation denken? Weil ich mir keine Hoffnungen machen will? Ja, das kann nur der ausschlaggebende Punkt sein. Wir sind oben und schauen uns wieder an. Can will etwas sagen, deswegen warte ich. "Du meintest ja, ich soll tun, was ich will." Etwas zögernd nicke ich. Das habe ich zwar aus Wut gesagt, aber gesagt ist gesagt.

"Ich werde etwas tun, aber du darfst mir nicht böse sein." Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und wünscht mir eine gute Nacht, bevor er die Treppen runter läuft und mich verwirrt im Treppenhaus stehen lässt.

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