Kapitel 102
Mittwoch, 15. November
Bis jetzt läuft es gut. Ich habe fast zweihundert Euro. Aber irgendwie wird es mit der Zeit knapp. Bald ist es schon Heiligabend und ich habe immer noch nicht das Geld für die Uhr zusammen. Was, wenn ich es gar nicht schaffe, die Uhr zu kaufen? Ich habe noch Geld auf meinem Konto und meine Eltern überweisen mir auch immer etwas drauf. Vielleicht arbeite ich auch von Nachmittag bis Mitternacht und so verdiene ich mehr. Das wird alles bestimmt reichen - hoffentlich. Ich sollte vielleicht wirklich zum Arzt gehen, aber das ist nur unnötige Zeitverschwendung, wenn ich schon weiß, was ich habe. Ein bisschen Ibuprofen und schon geht es mir besser. Ich habe zwar das Gefühl, dass ich immer schwächer werde, aber wenn ich schon weiß, was in meinem Körper abgeht, kann ich es auch selber heilen. Ich studiere ja nicht umsonst Medizin. Frühstücken tue ich mit den beiden Mädchen nicht mehr, da ich den Schlaf einfach brauche. Butterkekse und Mineralwasser reichen mir völlig aus. Müde verlasse ich das Badezimmer und trinke zwei Gläser Multivitaminsaft. Nein, es sind doch vier Gläser am Ende. "Shana?" Ranja hört sich sehr vorsichtig an. Wenn sie mir jetzt wieder mit ihren Weisheiten und Empfehlungen ankommt, kann sie es direkt sein lassen. Es mag zwar sein, dass sie es nur gut meint, aber ich werde nichts davon befolgen. "Ja?", brumme ich und versuche die Augen offen zu halten. "Wieso bist du immer so spät zu Hause?" Ich kratze mir die Stirn. "Spätschicht", gähne ich. "Hat dich mein Onkel eingeteilt? Ich kann mit ihm reden." Sofort schnalze ich mit meiner Zunge. "Lass gut sein. Ich will es machen. Falls jemand fragt, dann wisst ihr von nichts." Saliha und Ranja ziehen die Augenbrauen zusammen. "Tut mir einfach den Gefallen." Stutzig nicken beide, woraufhin sich Saliha räuspert. "Wegen meinem Geburtstag noch mal, also Can und du-," Mein Handy klingelt, weswegen ich Saliha kurz bitte zu warten und Cans Namen lese.
"Ja?"
"Komm sofort runter." Verdammt, er hört sich gar nicht gut gelaunt an.
"Was-,"
"Komm sofort runter, habe ich gesagt!", faucht er. Was ist passiert?
Ich nehme mir schnell meine Tasche und ziehe mir meine Schuhe an. "Wir reden später darüber, Saliha", verspreche ich ihr und laufe die Treppen runter. Ich lege auf und steige mit einem leicht erhöhtem Herzschlag ins Auto. Can sieht total angespannt aus. Was ist passiert? "Schnall dich an." Ich tue, was er sagt und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. "Can, was ist passiert?" Er ignoriert mich und fährt los, weswegen ich resigniert seufze. Hat er irgendetwas mitbekommen? Hat er Stress mit jemanden? Antworten tut er mir nicht und solange sind mir die Hände gebunden. Ich bemerke erst jetzt die Rose auf dem Armaturenbrett, die ich an mich nehme und über meine Wange streifen lasse. Ich hoffe, Can schreit mich nicht an. Er hält vor einer Bäckerei an und schnallt sich ab. "Möchtest du etwas essen?" Er hört sich schon viel ruhiger an, was mich beruhigt. Wenn ich Nein sagen würde, würde er wütend werden? "Ich weiß es nicht", flüstere ich, weswegen er seine Augenbrauen anzieht. "Ja oder Nein?", zischt er, was mich zusammenzucken lässt. Er ist aggressiv und ich weiß nicht einmal wieso. "Wirst du wütend, wenn ich Nein sage?" Cans Blick wirkt verblüfft. Ihm muss wohl wieder nicht aufgefallen, dass er total aggressiv zu mir war. "Die-, die haben laktosefreien Kakao, ich hole dir einen." Schnell steigt er aus dem Auto und wird von meinen verwirrten Blicken verfolgt. Was zum Teufel ist mit ihm los? Er hat schlimmere Stimmungsschwankungen als früher. Ich will nur wissen, ob er irgendetwas erfahren hat und das der ausschlaggebende Punkt für seine Wut ist. Als Can wieder ins Auto steigt, fängt es an süß zu riechen. "Hier, iss das." Er hält mir eine Tüte mit einem Croissant hin und schnallt sich an. Vorsichtig halte ich ihm mein Croissant hin, damit er auch davon essen kann. "Iss mit mir", nuschele ich und streife seine Lippen mit dem Croissant. Er öffnet seinen Mund und beißt ein Stück davon ab. Ich weiß nicht wieso, aber dass er abgebissen hat, beruhigt mich. "Willst du auch Kakao?" Er schnalzt mit seiner Zunge und trinkt seinen Kaffee. "Willst du mir erzählen, wieso du so aufgebracht bist?", frage ich vorsichtig. Ihm entkommt ein langer Seufzer. "Ich habe dich vermisst." Ouh. Ich konnte ihn nicht wirklich sehen, beziehungsweise die Zeit mit ihm genießen, weil ich immer arbeiten gehen muss. "Und das reizt dich so stark?", hake ich nach und trinke vorsichtig den heißen Kakao, welcher Balsam für meinen Hals ist. "Ja", seufzt er und beugt sich vor, um mir einen Kuss zu geben. "Tut mir leid, dass ich dich verschreckt habe. Ich-," Wieder seufzt er. "Ich kann es irgendwie nicht erklären." Verstehend nicke ich und gebe ihm wieder ein Stück von meinem Croissant. Wir fahren los und kommen Minuten später auf dem Parkplatz an. Die altbekannten Blicke spüre ich wieder auf mir und seufze. Haben diese Studenten noch nie ein kompliziertes Paar gesehen?
Mit meinem Kakao in der einen und der Rose in der anderen Hand, laufe ich neben Can her und lasse mich im Hörsaal nieder, wo ich nicht mehr ganz so doll die penetranten Blicke spüre. In diesem Semester freue ich mich eigentlich nur auf die Pathologie irgendwie. Oh und auf die Virologie. Die Epidemiologie hat mich noch nicht ganz so sehr überzeugt, wegen dem kleinen Rechnen, aber ich glaube mit ein bisschen Übung wird auch dieses Fach mir gefallen. "Can, verstehst du in Epi das mit der Prävalenz? Dieses Mathematische will mir nicht ganz in den Kopf." Er nickt und küsst meine Schläfe, was meine Wangen kribbeln lässt. "Ja, keine Sorge, das bringe ich dir schon bei. Wirst du heute mit zu mir kommen?" Scharf ziehe ich die Luft ein und sehe sofort, dass es Can nicht gefällt, dass ich ihm absagen muss. "Das geht leider nicht." Sein Mundwinkel zuckt. "Wieder das, wovon ich nichts wissen darf?" Er bemüht sich ruhig zu klingen. "Ja." Nervös presse ich meine Schenkel aneinander und fange an mit meinem Bein zu wippen. Er schließt einen Moment seine Augen und schaut dann nach vorne. "Sei mir bitte nicht sauer, es dauert nicht mehr lange." "Das sagst du diesen Monat ziemlich oft, Shana." Es kränkt mich, dass er mir nicht glaubt. Er ist immer noch misstrauisch. "Hier." Ich gebe ihm mein Handy und sehe ihn enttäuscht an. Meine Gefühle werde ich ganz sicherlich nicht verstecken. "Was soll ich damit?", fragt er mich. "Lies dir alle Chats durch, wenn du mir keinen Glauben schenkst. Ich sehe dir doch an, dass du mir immer noch misstraust. Du denkst dir immer noch, dass ich mich heimlich mit weiß Gott wem treffe, weswegen ich am liebsten ausrasten würde, wenn doch bloß die Kraft dazu hätte", kommt es am Ende krätzig von mir. "Manchmal habe ich echt das Gefühl, dass du mich als eine falsche Person ansiehst. Jemand, der nicht loyal ist und falsche Dinge hinter deinem Rücken treibt, aber was ich da gerade mache, ist weder illoyal, noch falsch. Can, es ist bald endlich vorbei und dann wird dein Misstrauen verschwinden, ich verspreche es." Flehend sehe ich in seine nachdenklichen Augen und seufze. Etwas geniert beuge ich mich vor und küsse ihn, was ihn wohl überrascht. "Ich glaube Saliha wollte mich heute auf uns ansprechen, aber du hast angerufen und ich bin sofort runtergekommen." Er spitzt seine Lippen und brummt. "Ich werde mich gedulden. Sei mir bitte nicht sauer, wenn ich mich nicht beherrschen kann." Ich fühle mich sofort wohler und freue mich, dass Can versucht, sich zu beherrschen. Es wird also alles gut werden. Erleichtert seufze ich und trinke meinen Kakao aus. Jetzt habe ich Durst. "Hast du zufälligerweise Mineralwasser dabei?" Sofort holt Can ein Wasserflasche hervor und öffnet sie mir. Dankend nehme ich sie und trinke aus ihr, bevor ich dann schnell meine Unterlagen raushole und Aykan anlächele. Es ist gut möglich, dass mich der Kakao etwas wacher gemacht hat und deswegen aufmerksamer im Unterricht aufpassen kann, als sonst. Ich solle öfters einen heißen Kakao trinken. Ich werde aber niemals Can verstehen können. Wäre es Milchkaffee, dann wäre es noch in Ordnung, aber purer schwarzer Kaffee? So bitter noch und er genießt es? Cans sinnliche Zunge ist komisch, wenn es ihm schmeckt. Vielleicht hat er eine Fehlbildung? Oder ihm schmeckt es einfach, du Idiot.
Diese vertrauten Fuß- und Beinschmerzen sind wieder da. Gerade mag ich die kalte Luft um Mitternacht und bedanke mich ein weiteres Mal bei Jannik, der mich abgesetzt hat und losfährt. Ich humpele leicht wegen meiner Müdigkeit und den womöglichen Blasen, die ich bekomme und erschrecke mich, als ich Cihan auf der Treppe vor der Tür sitzen sehe. "Wieso bist du noch so spät unterwegs?", fragt er mich verwundert. "Wieso sitzt du auf der Treppe?", stelle ich ihm die Gegenfrage. "Gute Frage", murmelt er und rutscht, damit ich mich ebenfalls hinsetzen kann. "Ich kann es Elif nicht sagen", seufzt er. Was meint er? "Ich habe seit Monaten das Ergebnis vom Kardiologen bekommen." Sofort weiten sich meine Augen. "Nein", hauche ich. Er ist doch nicht gefährdet? "Doch, Shana", seufzt er. "Er meinte, es wäre die koronare Herzkrankheit." Ich verkrampfe mich sofort. Es mag zwar sein, dass er mir schlechtes in der Vergangenheit angetan hat, aber er hat sich entschuldigt und hat sich verändert und er ist immer noch mein Kindheitsfreund. Mir steigen Tränen in die Augen. "Und bist du... hast du Chancen?" Er nickt. "Ich warte auf eine Transplantation. Solange darf ich mich nicht überanstrengen. Ich muss mich viel gesünder ernähren, Thrombozytenaggrega... , ähm Thrombo-," "Blutverdünner", helfe ich ihm leicht schmunzelnd auf die Sprünge. "Ja, genau das und andere Medikamente, aber du weiß bestimmt welche. Der Arzt hat mir eine Art Plan erstellt, damit ich Sport treiben kann und nicht wegen Atemnot oder sonstigem am Boden liege." Wegen dieser Nachricht kullert mir eine Träne aus dem Auge. Gerade will ich Herz-Thorax-Chirurgin werden, nur damit ich ihm helfen kann. Er wird nicht sterben, ich werde ihm helfen. Ich durchsuche von mir aus alle Doktorarbeiten, damit ich etwas zu KHK finde, was ihn weiterhelfen kann. "Wie lange musst du auf ein Spenderherz warten?", frage ich und wische mir über meine Wange. "Nicht weinen, Shana." Er lächelt aufmunternd, was mich noch sentimentaler macht. "Ich versuche es", flüstere ich und blinzele die Tränen weg. Das Beben meiner Unterlippe versuche ich zu unterdrücken. "Die Ärzte sehen mich nicht als Notfallpatient. Sie meinen, dass ich wegen des Trainings, was ich ja davor gemacht habe eine gute Ausdauer habe und die Krankheit nicht stark ausgeprägt ist. Wenn ich mich an den Plan halte, sollte ich eigentlich keine Bedenken haben. Vielleicht muss ich sechs Monate warten, vielleicht auch vierundzwanzig. Ich glaube, ich muss lange warten, da ich ja so gesund bin." Ich senke meinen Blick. Ich kann das nicht nachvollziehen. Er ist krank, wie können sie Cihans Lage so verharmlosen?! Elif wird total verzweifelt sein, wenn sie es erfährt. Sie wird am Boden zerstört sein. Gerade habe ich mich spontan dazu entschieden keine Unfallchirurgin zu werden, sondern Allgemeinchirurgin. Da habe ich mehr mitzureden und kann mehr helfen, auch bei Herzkrankheiten darf ich mitsprechen. "Hältst du dich denn auch schön an alles, was dir der Doktor sagt?", frage ich leicht tadelnd, was ihn lächeln lässt. "Ja und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sogar bald eine Hausärztin habe." Neckend hebt er seine Augenbrauen. "Das stimmt." Ich schniefe. "Wissen deine Eltern davon Bescheid?" Cihan seufzt und schaut auf die Straße. "Nein, nur du." Es kehrt Stille ein. Die Stille ist irgendwie beruhigend. "Aber genug von mir. Wie läuft es bei dir?" Ich spitze meine Lippen. Wie soll es gerade bei mir laufen? Can hat Aggressionen, ich bin im fünften Semester, ich ackere bis Mitternacht und komme bei meiner Doktorarbeit nicht weit voran. "Es ist stressig", seufze ich. "Du und Can... ihr seid verlobt?" Oh Gott. "Nein, das sagt er nur so. Er sagt nicht, dass ich seine Freundin bin, sondern sofort, dass wir verlobt sind", nuschele ich leicht verlegen.
"Ihr habt es also endlich geschafft, zusammen zu kommen?" Ja, endlich. "Ja, aber wie kommst du darauf?", will ich wissen. War es so offensichtlich für alle, dass uns etwas verbindet, außer für uns selbst? "Shana, das war sowas von klar. Ich dachte, du bist ein kluges Köpfen, aber das mit den Gefühlen von anderen war noch nie dein Talent." Da hat er recht. Ich kann mich auch nur selten in die Lage anderer versetzten. Das liegt mir einfach nicht. "Das stimmt", nuschele ich. "Aber verlobt seid ihr nicht?" Ich schnalze mit meiner Zunge. "Das muss sich wohl sehr schnell und sehr weit verbreitet haben. Can und seine Kontakte." Ich schnaube leicht. "Ja, der Junge ist nicht unbekannt. Er hat sich in Hamburg einen Namen gemacht." Das habe ich bemerkt. Egal wo wir sind, man kennt Can. Ich sage doch, dass Can Hamburgs Bürgermeister ist. Hamburgs hübscher, großer und starker Bürgermeister, der leider Gottes an starken Stimmungsschwankungen leidet. "Aber ich wünsche euch viel Glück." Ja, das können wir echt gut gebrauchen. "Danke, dir und Elif auch." Er lächelt mich an. "Wie wäre es, wenn du mal zu uns zum Essen kommst?" Can würde mir den Kopf abreißen. Aber wenn er weiß, dass ich Cihan zur Seite stehen will, wird er es auch tun. Ahnungslos fasse ich mir an meinen Nacken und zucke mit meinen Schultern. "Ich hoffe, ich kriege es hin." Ich würde wirklich gerne zu ihm gehen, aber da gerade Can so aggressiv ist, weiß ich nicht, wie ich es ihm beibringen soll. "Hast du sonst Probleme mit Can?" Ich nicke seufzend. "Falls du Hilfe brauchst, sag mir Bescheid." Ich danke ihm. Unterstützung ist immer gut. Gott, ich habe das Gefühl, dass dieser Monat oder gar bis zum Ende des Jahres schlechte Dinge passieren.
Ich hoffe so sehr, dass ich mich irre.
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