Und am Ende steht die Nacht II
Makiros Augen weiteten sich.
Apio fiel das Luftholen schwer. Es klang mehr nach Keuchen als Atmen.
Wenn er schon auf die nette Art nicht weiter gekommen war, dann sollte der Protagonist doch nun einen so schmerzhaften Hieb erlitten haben, dass er nicht mehr kämpfen wollte. Wer würde schon ohne Schwert kämpfen?
„Du kannst ..." Apio gelang es nicht, den Satz an einem Stück auszusprechen. Zu schwer keuchte er, zu trocken war seine Kehle. „Du kannst nicht gegen mich ankommen, Junge", sagte er. „Gib doch endlich auf." Seine Stimme brach am Ende. Die Heiserkeit ließ seinen Hals schmerzen.
„Nein", sagte Makiro. Er schüttelte den Schock und all die Kraftlosigkeit ab und hob das, was von seinem Schwert noch übrig geblieben war.
„Makiro –"
„NEIN!", rief er. „Ich werde nicht zulassen, dass Ihr weiterhin Krieg über das Land bringt. Die Dämonen wollen nur Böses und Ihr habt Euch ihnen angeschlossen. Ich werde Euch aufhalten oder bei dem Versuch untergehen."
Gab es wirklich keinen anderen Weg? Töten oder getötet werden?
„Makiro, einen zweiten Schlag wirst du nicht überleben." Die Ruhe in seiner Stimme ängstigte ihn. So kühl, so nüchtern. Sie verbarg sein panisch schlagendes Herz. „Sei nicht töricht."
„Wenn mein Sinn für Gerechtigkeit bedeutet, dass ich töricht bin, dann lasst mich töricht sein."
Apio erschauerte unter dem kühlen Herbstwind. Es gab wirklich keinen anderen Ausweg.
Ein letztes Mal hob er Qiufeng.
Nur ein NPC, dachte Apio. Wenn er nur lange genug an diesem Gedanken festhielt, nur bis alles vorbei war ...
Keinen Augenblick später schoss die Energie auf Makiro zu.
Diesmal gelang es ihm nicht, ihr auszuweichen. Diesmal traf sie ihn mit sämtlicher Kraft und schleuderte ihn nach hinten.
Sein Körper schmetterte gegen einen Baum, rutschte zu Boden und blieb liegen.
Apio senkte sein Schwert. „Makiro?"
Der Junge rührte sich nicht.
Apios Kehle schnürte sich zu. Nur ein NPC. Der Gedanke war nicht mehr so standhaft wie zuvor. Er wackelte, kippte, fiel.
Qiufeng traf auf den Waldboden. Apio rannte zu dem Jungen und stürzte neben ihm ins Gras.
Makiros Körper zitterte, die Augen waren weit aufgerissen und starrten in den Himmel. Er öffnete die Lippen, doch nur ein Röcheln verließ seinen Mund.
Wangen und Hals mit Blut besprenkelt und dort, wo einst sein Oberkörper war ... Ein Schlachtfeld aus zerfetztem Gewebe und gesplitterten Knochen.
Wenn es doch nur ein NPC war, weswegen verschwamm Apios Blick? Weswegen bekam er keine Luft, erstickte an Tränen?
„Ich ...", setzte er an, doch seine Stimme versagte.
Makiros Blick richtete sich auf ihn. Nicht mehr lebendig, nicht mehr lebensfroh. Tränen tropften auf seine bleichen Wangen, zogen Rillen durch das Blut.
„Es tut mir so leid." Apio schluchzte. Er vergrub das Gesicht in den Händen und wischte die Tränen fort, doch neue folgten.
Was hätte er anderes tun sollen? Es war doch der einzige Weg gewesen. Er musste zu Hua Li und ihn retten. Da konnte er sich durch nichts aufhalten lassen.
Obwohl Hua Li in seinen Gedanken war, gelang es ihm nicht, aufzustehen.
„Ich wollte das nicht." Eine Berührung auf seinem Oberschenkel ließ ihn das Gesicht aus seinen Händen nehmen.
Makiro hatte die Hand kurz über sein Knie gelegt, sah aber weiterhin in den Himmel.
Rote und gelbe Blätter schwebten durch die Luft und legten sich sanft auf den Boden, bedeckten Makiros Robe und eines strich zärtlich über Apios Schulter.
„Der Herbst ...", sprach Makiro. Die Stimme nur ein Hauchen.
„Spar deine Kraft", sagte Apio, aber Makiro missachtete ihn.
„... ist so schön." Kurz flackerte sein Blick zu Apio und schweifte dann wieder gen Himmel. Blut rann an seinem Mundwinkel hinab. „Obwohl alles ..."
Er holte tief Luft, brachte ein letztes Wort hervor.
„...stirbt."
Die Hand rutschte ab und fiel ins rotgefärbte Gras. Die Augen starrten matt in die Leere und der letzte Funken erlosch.
„Makiro?" Wie ein Dolch bohrte sich etwas in Apios Herz, ließ ihn aufschluchzen.
Er wusste, was geschehen war, was er getan hatte. Und doch realisierte er es nicht.
Hilflos drehten sich seinen Gedanken im Kreis, während sich die Blutlache auf dem Boden ausbreitete und von Apios Robe aufgesogen wurde.
Wie lange er dort saß, wusste er nicht. Ob Sekunden oder Minuten. Doch irgendwann kam er zu sich.
Er riss einen Fetzen Stoff von seiner Robe ab und presste ihn auf die Wunde. Sofort sog er sich mit Blut voll.
Es hat keinen Zweck.
Er legte das Ohr auf Makiros Brust. Kein Herzschlag.
Wie von selbst platzierten sich seine Hände auf die Wunde. Herzdruckmassage war aussichtslos, wenn der ganze Brustkorb zerstört war.
Und obwohl er um diese Aussichtslosigkeit wusste, begann er damit.
Etwas knirschte, etwas knackte. Er hatte davon gehört, dass Rippen beim Wiederbelebungsprozess brechen konnten, aber nun erlebte er es selbst, fühlte, wie die Knochen sich unter seinen Händen bewegten. Ekel ließ ihn erschauern.
„Leb doch!" Sein Blick verschwamm. Der Stofffetzen war blutgetränkt.
Nutzlos.
Er hörte mit der Herzdruckmassage auf und legte stattdessen eine Hand unter Makiros Kinn und hob es leicht an.
Er holte tief Luft. Hätte er doch bloß besser im Erste-Hilfe-Kurs aufgepasst, dann wüsste er genau, was er tun musste.
Vorsichtig legte er die Lippen auf Makiros und blies Luft in seinen Körper.
Nichts.
Der Junge starrte weiterhin ausdruckslos gen Himmel.
„Bitte", flehte Apio. „Ich wollte das nicht."
Ein weiteres Mal legte er die Hände auf Makiros Brust, drückte rhythmisch auf das Herz.
Nichts.
Er hörte nicht auf und wiederholte die Prozedur einmal. Zweimal. Dreimal. Irgendwann zählte er nicht mehr mit.
„Shidi ..."
Die Stimme ließ ihn aufhorchen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer zu ihm getreten war.
„Es tut mir leid", flüsterte er. „Ich konnte ihn nicht retten."
Erst jetzt bemerkte er den metallischen Geschmack auf seiner Zunge gepaart mit salzigen Tränen. Wie in Trance erhob er sich und drehte sich zu Shulang um.
„Ich habe alles versucht."
Hatte er das wirklich?
„Ich hatte keine andere Wahl."
Stimmte das?
Shulangs Robe war blutverschmiert, mehrere Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst.
„Ist Hai Tun ...?" Seiner Stimme gelang es nicht, die Frage gänzlich auszusprechen. Zu heiser war sie, zu gebrochen.
Und Shulang antwortete nicht. Wortlos fiel er vor Makiros Körper auf die Knie und schloss ihn in seine Arme.
Nicht nur einmal hatte er ansehen müssen, wie sein Liebster starb. Nicht nur einmal musste er seine Leiche beweinen.
Gerade waren die Wunden erst verheilt und schon rissen sie von neuem auf.
Sein Pfad war düster und einsam.
„Shulang." Apios Versuch, ein Licht zu bringen, schlug fehl.
„Verschwinde." Das Wort war so leise gesprochen, dass Apio glaubte, sich verhört zu haben.
„Shixiong?"
„Verschwinde!"
Die Entschuldigungsversuche blieben Apio im Hals stecken. Durch nichts könnte er das, was er getan hatte, wieder gut machen. Niemals würde Shulang ihm verzeihen.
Hier konnte er niemanden mehr retten. Makiro war ein zweites Mal gestorben, Shulang ein zweites Mal in Trauer gestürzt.
Der Kampflärm in der Ferne erinnerte ihn daran, was sein eigentliches Vorhaben war. Es sollten nicht noch mehr unschuldige Leben aus dieser Welt gehen. Nicht, wenn er es verhindern konnte.
Er wandte sich von Shulang ab, der den Kopf auf Makiros Brust gelegt hatte und leise schluchzte. Auf dem Waldboden fand er Qiufeng und steckte es zurück.
Ehe er aber losstürmte, um Hua Li und Ying Diao zu folgen, drehte er sich noch ein letztes Mal um.
Shulang sah nicht auf, seine Schultern bebten.
„Es tut mir leid", flüsterte Apio. Wenn er es nur irgendwie rückgängig machen könnte, er würde es tun.
Es kam keine Reaktion. Ob Shulang es hörte, wusste er nicht.
Er wandte sich ab und folgte dem Pfad tiefer in den Herbstwald hinein, dem Lärm von aufeinandertreffenden Klingen hinterher.
[Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die Quest e-erfolgreich abgeschlossen und k-können sich nun frei in d-der Spielwelt bewegen.]
Er hörte dem System nur mit einem Ohr zu, bemerkte nicht einmal, dass es hackte.
Die Risse im Display, die Apios Schläge hinterlassen hatten, waren noch nicht geheilt, und die Ecken splitterten.
[W-wichtige Dinge müssen d-dreimal gesagt werden. H-herzlichen Glückwunsch, herzlichen Glü-Glückwunsch, herzlichen Gl–]
Das letzte ‚herzlichen Glückwunsch' ging in Stottern unter.
Apio holte tief Luft, versuchte den Schock abzuschütteln und seine Rationalität zurückzuerlangen. Wäre es nur so einfach getan, wie gesagt.
„System?", fragte Apio. „Wohin muss ich?"
Es hatte sich zweifelslos einen Bug eingefangen. Er hoffte nur, dass es die letzten Meter des Weges noch an seiner Seite stehen würde.
Auf dem Bildschirm zeigte sich eine Karte mit zwei Punkten. Einer in Rot, der andere in Gelb.
Rot war sicherlich Hua Li und Gelb Ying Diao.
„Wie heißt Ying Diao wirklich?", fragte er.
[H4lcon.]
Apio stieß ein Schnauben aus. „Halcon? Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen?"
[Wir sind nicht für die Entscheidungen der Spieler verantwortlich.]
Apio antwortete nicht und machte sich stattdessen auf den Weg, den das System ihm wies. Seine Schritte waren steif. Alle paar Minuten verschwamm sein Blick und er musste sich immer wieder die Tränen von den Wangen wischen. Dabei verteilte er nur Blut auf seinem Gesicht, doch das kümmerte ihn nicht.
Aus der Ferne hörte er dumpfes Dröhnen, helles Klirren, Beschimpfungen und Flüche.
Er begann zu rennen, stolperte, fing sich aber an einem nahen Baum ab. Wie seine Beine ihn überhaupt halten konnten, war ihm ein Rätsel.
Letztlich kam er an einer Lichtung an. Keine die auf natürlichem Wege entstanden war, nein, es wirkte, als hätte ein Tornado die gesamte Vegetation zerstört. Die Bäume lagen zersplittert auf dem Waldboden, die Blätter bedeckten die gesamte Szenerie.
Energie blitzte auf. Rot und Gelb. Hua Li und Ying Diao.
Beide so schnell, dass Apio sie mit bloßem Auge kaum verfolgen konnte.
Er blieb am Rande der Lichtung stehen. Seine Hand legte sich an Qiufeng, aber er wagte es nicht, es ein weiteres Mal zu ziehen. Das erste Mal hatte schon für genug Chaos gesorgt.
Einer der Körper schleuderte zurück und kam unsanft auf dem Boden auf. Apio erkannte Hua Lis Rot. Auf dessen Wange erstreckte sich ein tiefer Schnitt, seine Kleidung war zerschlissen.
Dem anderen Kämpfenden ging es ähnlich. Er traf mit dem Rücken gegen einen Baum, sprang aber sofort wieder auf die Beine. Ying Diaos Nase sah seltsam schief aus und Blut sickerte von seinem Mundwinkel.
Sie würden sich gegenseitig umbringen, wenn nichts geschah.
„System, wenn ich sterbe, dann sind die beiden befreit, richtig?"
[Wir würden Ihnen von dieser Handlung abraten.]
„Das weiß ich, aber das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Die beiden haben den Auftrag, mich zu töten. Wenn ich also sterbe, dann kann ich sie retten, oder etwa nicht?"
[Vermutlich. Wir sind uns nur zu 95% sicher, dass Ihre Entscheidung dieses Resultat haben würde.]
„Und was würde mit mir geschehen?"
Hua Li und Ying Diao stürzten wieder aufeinander zu. Keiner der beiden hatte Apio bemerkt, der am Rande der Lichtung stand.
[Das ist ungewiss.]
So wie Apio es sah, könnten drei Dinge geschehen.
Erstens: Er würde unversehrt vor seinem Schreibtisch aufwachen, dies alles als bösen Traum ansehen und nie wieder an diese Zeit zurückdenken. Aber das System wollte ihn nicht gehen lassen, weil es nicht sicher war, ob er überleben würde – so vermutete er. Es wollte denjenigen, den es als Freund ansah, nicht in den Tod schicken. Vielleicht hätte es am Anfang noch Hoffnung gegeben, vielleicht hätte er gehen können, hätte er es früh genug versucht.
Zweitens: Das Spiel würde von vorn beginnen. Er würde wieder mit jedem Schritt fürchten müssen, zu sterben und vielleicht würde das, was jetzt schon Leute nach ihm geschickt hatte, ihn zu töten, es wieder tun. Vielleicht würden mehr Spieler auftauchen, vielleicht würde es einem von ihnen gelingen, den Auftrag auszuführen.
Und drittens: Er starb. Nicht nur in dieser Welt, sondern auch in Realität.
Er hatte den Kontakt zu seiner Familie schon vor Jahren abgebrochen, hatte jeden Freund von sich gestoßen und übte einen Job aus, der ihm zwar Geld brachte, bei dem er aber jedes Mal, wenn er in seinem Büro saß, das Gefühl hatte, er würde seine Seele verkaufen.
Ying Diao versuchte nur, zu seiner Tochter zurückzukehren, und Hua Li hatte noch sein ganzes Leben vor sich, hatte Freunde und Familie.
Zwei Leben zum Preis von einem. Konnte man das ein tragisches Ende nennen?
Apio holte tief Luft. Seine Entscheidung war gefallen.
In einer schwungvollen Bewegung zog er Qiufeng und legte es an seinen Hals. Das Metall auf der empfindlichen Haut ließ ihn frösteln.
Er nahm sich keine Zeit zum Nachdenken oder dazu, seinen Entschluss zu ändern.
Und überraschenderweise galt sein letzter Gedanke nicht denjenigen, die sich vor ihm befanden – weder Hua Li noch Ying Diao. Vor seinem inneren Auge tauchte Makiros Gesicht auf und er fragte sich: Ging er den einfachsten Weg, weil er mit der Schuld nicht leben konnte?
„NEIN!"
Ein Schrei hallte durch den Wald, doch es war zu spät.
Qiufengs Stahl benetzte sich mit Blut und Blut tropfte in das grüne Gras zu Apios Füßen.
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