Und am Ende steht die Nacht I
„Shifu?"
...
Nein.
Nein, nein, nein, nein, nein, nein.
Das konnte nicht passieren! Das war doch unmöglich!
Tote waren tot und sollten auch tot bleiben.
„System, warst du das?", flüsterte Apio, ohne sich zu dem Neuankömmling umzudrehen. Solange er ihn nicht sah, würde er sich einreden, dass das alles nur ein böser Traum war.
Doch das System antwortete ihm nicht. Es war – wie so oft in den wichtigsten Momenten – verschwunden und Apio musste sich der nächsten Gefahr allein stellen.
Betont langsam drehte er sich um und betete dabei: Bitte, lass es nicht wahr sein. Bitte, lass es nur eine Illusion sein.
Aber es war keine Illusion.
Der Tote war wiederauferstanden, hielt das Schwert fest in der Hand und hatte die Brauen finster zusammengeschoben.
„Makiro."
Apio flüsterte nur, unfähig, sich zu bewegen oder gar Qiufeng zu erheben.
Wie hatte er auch nur für einen Moment glauben können, dass der Junge wirklich gestorben wäre? Er war schließlich der Protagonist und besaß einen goldenen Schutzschild, der ihn vor allem retten würde. Selbst vor dem Tod.
Obwohl Ying Diao ihm den Arm abgeschlagen und das Herz zertreten hatte, stand er nun vor Apio. Unversehrt und mit der finsteren Entschlossenheit, alle Ungerechtigkeit in dieser Welt auszulöschen.
„Wie konntet Ihr nur?", rief Makiro. „Ihr habt Euch mit Dämonen zusammengeschlossen und Bai Tian verraten! Für was? Sagt mir, was versprachen sie Euch!"
Das war nun so gar nicht das, was geschehen war, obwohl Apio nicht abstreiten konnte, dass sich ein Dämon auf seiner Seite befand, aber die Anzahl der Kultivatoren überwog doch bei weitem.
„Du bist mit Hai Tun hier, richtig?", fragte Apio vorsichtig. Mit wem sonst? „Hat er dir gesagt, dass wir die Bösen und er der Gute ist?"
Natürlich hat er das.
Makiro antwortete nicht. Er presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen.
„Egal, was er dir gesagt hat, es stimmt nicht. Er ist für den Angriff auf Bai Tian verantwortlich und er hat –"
„Shifu!", unterbrach Makiro ihn. „Ich werde Euren Lügen keinen Glauben schenken."
Aber es war doch die Wahrheit.
Apio schluckte hart. Qiufeng, das er immer noch in seiner Hand hielt, zitterte. Nein ... nein, es war seine Hand, die zitterte.
Er verstärkte den Griff.
„So muss es doch nicht enden, Makiro", sagte er. Diese Worte kannte er. Er hatte sie schon so oft gesagt und nie hatten sie etwas ausrichten können.
„Doch!", schrie Makiro ihm entgegen. Die Maske aus Ruhe und bitterer Entschlossenheit splitterte und dahinter sah Apio Verzweiflung. Dem Jungen brach es das Herz, sich gegen seinen ehemaligen Lehrer stellen zu müssen.
„Genau hier muss es enden!", fuhr Makiro fort. „Ihr habt Euren Weg gewählt! Ihr habt Euch für eine Seite entschieden! Ich hätte nie gedacht, Euch mit den Dämonen kooperieren zu sehen."
Tat er das wirklich? Mit den Dämonen kooperieren?
Hatte er nicht eher alles daran gesetzt, die Kultivatoren zu unterstützen? Nicht Hai Tun, aber Shulang und Xuan Wu.
Hatte er sich nicht um Gerechtigkeit bemüht und versucht, den Angreifern auf Bai Tian ihrer gerechten Strafe zuzuführen?
Hatte er sich nicht so weit von dem Weg seiner Figur entfernt, wie es ihm nur irgendwie möglich war?
Und doch stand er wieder hier.
In einem Herbstwald und Makiro gegenüber.
Letztlich hatte das System ihn wieder in die Rolle gedrückt, in der es ihn haben wollte.
Apio holte tief Luft. In der Ferne erklangen weiterhin die Geräusche des Kampfes zwischen Ying Diao und Hua Li. Zwei Spieler, zwei echte Menschen, deren Leben hier auf dem Spiel stand.
Doch vor ihm stand Makiro als Gegner. Der Kampf war aussichtslos. Niemand konnte den Protagonisten besiegen.
...
War es aber nicht Ying Diao gelungen? Makiro lebte zwar nun wieder, aber die Schlacht damals hatte er verloren.
„Ich werde mich nicht ergeben", sagte Apio. Zu sich selbst, zu Makiro, zu dem System. Zu jedem, der ihn immer wieder in die Knie zwingen wollte.
Er hob Qiufeng. Seine Hand zitterte wieder, wollte nicht ganz wahrhaben, was sie soeben getan hatte.
„Aber, Shifu ..." Makiros Stimme brach ab. An seinen Wangen rollten Tränen hinab und hinterließen feuchte Spuren, in denen sich das Sonnenlicht verfing. „Ihr kämpft Seite an Seite mit Dämonen. Erkennt Ihr nicht, dass dieser Weg unrecht ist?"
Apio rang sich ein Lächeln ab, konnte aber nicht verhindern, dass sich seine Augen, angesichts dessen, was ihm bevorstand, mit Tränen füllten und sein Sichtfeld verschwamm. Warum nur? Makiro war doch nur ein NPC.
„Ich will dich nicht töten", sagte Apio. Er wünschte, seine Stimme wäre fester. Er wünschte, seine Knie würden nicht beben. „Aber ich werde nicht zulassen, dass du mich aufhältst."
Er richtete Qiufengs Spitze in Richtung von Makiros Brust.
Es wurde nicht geschmiedet, um zu töten, hallten Shulangs Worte nach. Doch welche Wahl blieb ihm? Er musste echten Menschen helfen.
Auch Makiro hob sein Schwert und auch er sträubte sich gegen diesen Kampf.
Wenn beide nun doch nicht kämpfen wollten, wer sollte den ersten Schritt machen? Wer griff zuerst an?
Apio holte tief Luft. Spirituelle Energie sammelte sich an Qiufengs Spitze, blaue Blitze umgaben die Klinge.
Einen Wimpernschlag lang kehrte Stille ein. Makiros Augen weiteten sich.
Die Energie entlud sich mit einem Knall, schoss auf den Jungen zu.
Makiro hatte den Bruchteil einer Sekunde genutzt, um sich auf den Angriff vorzubereiten. Er sprang zur Seite, rollte sich ab und kam wieder auf die Füße.
Nun versuchte er kein zweites Mal an Apios Vernunft zu appellieren. Er stürzte auf seinen ehemaligen Lehrer los.
Die Wucht des Schlages riss Apio beinahe das Schwert aus der Hand. Er stolperte zurück. Fing sich. Wich dem nächsten Angriff aus.
Er hatte geahnt, dass ein Kampf nicht einfach sein würde, hatte doch gewusst, dass sich der Protagonist nicht mühelos bezwingen ließ.
Wie konnten seine zitternden Beine ihn überhaupt halten?
Er hob Qiufeng, parierte den Schlag, wich wieder aus.
Jede typische Ästhetik der Kampfkunst fehlte. Keiner der beiden erinnerte sich an die Schlagkombinationen, die Formationen, die Wege spirituelle Energie einzusetzen.
Ein Kampf auf Leben und Tod war etwas anderes als die Übungen auf dem Trainingsplatz.
Apio setzte zum Angriff an, aber Makiro wehrte die Klinge ab.
Greller Schmerz flammte in Apios Arm auf. Qiufeng fiel fast aus seiner Hand und nur im letzten Moment gelang es ihm, es wieder zu packen.
Er wich zurück, wollte sich einen kurzen Augenblick nehmen, um die Wunde zu begutachten, aber Makiro gewährte ihm keine Sekunde Zeit. Er setzte ihm nach.
Apio riss Qiufeng hoch. Metall klirrte aufeinander, als die beiden Klingen sich trafen.
Wie hieß Makiros Schwert noch gleich?
Apio konnte sich nicht erinnern. So oft war er durch dieses Schwert gestorben und nie hatte er sich dessen Namen gemerkt.
Makiro machte einen Ausfallschritt und riss Apio aus seinen Gedanken – wie hatte er sich auch in einem solchen Moment von solchen Nichtigkeiten ablenken lassen können?
Er strauchelte, fing sich und sprang zur Seite, ehe das namenlose Schwert ihn am Hals treffen konnte.
Obwohl er zurückweichen und zu Atem kommen wollte, ignorierte er diesen Drang. Den Schmerz in seiner Seite und seinem Arm schluckte er hinunter. Seine Kehle trocknete mit jeder Sekunde aus. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn.
Doch er hatte keine Zeit, sich über sein Leid zu beklagen.
Er wich einem Schwerthieb aus, versuchte sich dann selbst an einem Angriff. Wohin zielte er? Auf den Kopf, den Hals, den Oberkörper? Er wusste es nicht. Blind schlug er zu.
Makiro parierte ... und gab Apio einen Hoffnungsschimmer, dass er vielleicht doch eine Chance hatte.
Denn der Junge stolperte, als die Wucht des Schlages seine Klinge traf.
Apio könnte ihm nachsetzen, könnte es so schnell wie möglich beenden.
Er blieb stehen und ließ Qiufeng sinken. „Ich will nicht kämpfen", sagte er. Die Anstrengung des Kampfes gab seiner Stimme einen rauen, atemlosen Klang. „Lass mich einfach vorbei und dann können wir getrennte Wege gehen." Dann würde Makiro weiterhin leben. Shulang würde sich freuen, ihn wiederzusehen.
Makiro hob sein Schwert. Die Reflexion blendete Apio und er kniff die Augen zusammen.
„Ich kann Euch nicht gehen lassen, Shifu." Makiros Adamsapfel hüpfte. Einige Strähnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und hingen in seinem Gesicht. ‚Wild' könnte man sein Erscheinungsbild nennen, doch Apio sah nur die Entschlossenheit in den dunklen Augen. Die Entschlossenheit, das Richtige zu tun oder bei dem Versuch zu sterben.
Dann musste es nun so enden.
Was sonst konnte er noch versuchen?
Ungeachtet, was er auch sagen würde, Makiro würde seinen Worten nicht lauschen. Und der Junge war nur eine Figur, Apio hingegen musste echten Menschen helfen. Das Leben echter Menschen war doch mehr wert als das einer Figur ... oder?
Spirituelle Energie legte sich um Qiufengs Klinge, elektrische Spannung, die blau aufleuchtete und leise knisterte. Ein Vorzeichen für das, was kommen würde.
In einer kraftvollen Bewegung schwang Apio das Schwert.
Die Klinge traf Makiro nicht, gelangte nicht einmal in dessen Nähe. Der Junge riss sein Schwert hoch und diese Tat war das Einzige, das ihn am Leben hielt.
Qiufeng setzte die Energie frei, spaltete jeden Stamm neben und hinter Makiro. Die Baumkronen donnerten auf den Waldboden. Die Erde bebte. Die Vögel flohen panisch in den Himmel.
Ein Schweißtropfen lief an Apios Schläfe entlang und bis zu seinem Kinn, von dem er dann hinuntertropfte und in der Robe aufgefangen wurde. Sein Körper war erhitzt und gleichzeitig zitterte er vor Kälte.
Das war nun also die Kraft, die das System ihm zur Verfügung gestellt hatte. Es kostete ihn alles, Qiufeng in der Hand zu behalten.
Sein Blick schweifte über die Zerstörung, die dieser eine Schwerthieb angerichtet hatte. Inmitten des Chaos stand Makiro, das Schwert vor sich gehalten und weitestgehend unbeschadet. Nur ein kleiner Schnitt zog sich durch seinen Arm und Blut sickerte in den Stoff seiner Robe.
Nicht ganz so unversehrt war es seinem Schwert ergangen. Wie in Zeitlupe splitterte es und fiel ins Gras.
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