Rot wie Ahornblätter II

„Daozhang?"

Die Stimme hallte in seinem Kopf wider, als wäre sie direkt neben ihm und gleichzeitig in weiter Ferne oder wie hinter einer dicken Glasscheibe. Er hörte sie, aber es machte ihm keine Mühe, sie auszublenden.

„Daozhang!"

Erst jetzt riss Apio die Augen auf und hob den Oberkörper an, sodass er dem Kind, das sich über ihn gebeugt hatte, beinahe den Kopf gegen die Stirn gedonnert hätte, wäre es nicht aufgesprungen.

„Ihr lebt," rief es. Ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren. „Ihr lebt! Wir sind gerettet!"

Ein zweiter Junge boxte dem ersten in die Rippen. „Brüll hier nicht so rum", zischte er. „Was, wenn wir gehört werden?"

Eine Gruppe aus vier Kindern, allesamt etwa in demselben Alter, hatten sich um Apio herum versammelt und beäugten ihn. In den Blicken lag Hoffnung, aber auch Angst. Zuversicht, aber auch Schrecken.

Apio sah zwischen den Kindern hin und her und erst dann dämmerte es ihm, wer sich vor ihm befinden musste.

Die Rekruten.

... oder zumindest einige von ihnen. Für gewöhnlich nahmen zehn bis zwanzig an dem Auswahlverfahren teil und nicht nur vier.

Er wandte sich von den Kindern ab und fragte: „System, wo bin ich?" Der Wald um ihn herum wirkte vertraut und fremd zugleich. Das Grün war von grauer Asche belegt und in einen feurigen Schimmer getaucht, als würde die Welt in Flammen stehen. „Was ist los?"

Eine vage Erinnerung kämpfte sich durch den Nebel in seinem Kopf. Der Mann in rotem Gewand. Der Angriff. Er war von den Füßen gerissen worden und hatte danach das Bewusstsein verloren.

Doch ... dieser Angriff hätte nicht geschehen sollen. Das war nicht das Schicksal, das Bai Tian hätte ereilen sollen.

„System?", fragte er. Türkise Pixel sammelten sich neben ihm, doch zerfielen nur einen Augenblick später wieder. „System?! Hilf mir gefälligst!"

Einer der Jungen neigte den Kopf. „Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Daozhang?", fragte er.

Apio stockte und wandte sich ihm zu. Rundliche Wangen gaben dem Gesicht einen kindlichen Ausdruck, der von großen dunklen Augen noch verstärkt wurde. Die Haare zusammengebunden, damit sie nicht die Sicht versperrten.

Apio musterte es von oben bis unten und runzelte die Stirn. Ein Mädchen? Die Sekte nahm keine weiblichen Rekruten auf, was also machte ein Mädchen hier?

„Daozhang?", riss ihn ein weiteres Kind aus seinen Gedanken.

Apio winkte ab und erhob sich vorsichtig. Eine Hand legte er an einen nahen Baum, um sich abzustützen, denn seine Knie zitterten, sein Kopf dröhnte und seine Sicht war leicht verschwommen.

„Keine Sorge", sagte er. „Was ist geschehen?"

Ein allgemeines Gemurmel ging durch die Kinder, ehe eines – das, das ihn geweckt hatte – antwortete: „Keine Ahnung. Als wir angekommen sind, standen die Tore offen und die Häuser und Brücken und Straßen waren kaputt. Dann haben wir Euch gefunden – Ihr lagt direkt am Eingang – und hierher gebracht."

„Immer noch in Bai Tian?"

Das Kind nickte.

Apio sah sich ein weiteres Mal um. Ja, tatsächlich befand er sich in dem Wald, den er mittlerweile so gut kannte. Die Birken, die seine Hütte umgaben und der schmale Weg, der ihn direkt zu seinem Zuhause führte.

Doch der Geruch von Rauch stieg ihm in die Nase. Rauch und verbranntes Fleisch. Er hielt ein Würgen zurück und zwang sich, Ruhe in seine Miene zu legen, um die Kinder nicht noch mehr zu verunsichern.

„Wisst ihr, ob noch jemand am Leben ist?", fragte er in die Runde, aber jedes der Kinder schüttelte den Kopf.

Seine Lippen öffneten sich zu einem lautlosen Seufzen. „In Ordnung." Er deutete in die Richtung seiner Hütte. „Wenn ihr dorthin geht, dann werdet ihr bei einem kleinen Haus ankommen. Dort könnt ihr euch zunächst verstecken, während ich das hier in die Hand nehme." Oder es zumindest versuche.

„In der Hütte solltet Ihr in Sicherheit sein." Wenigstens war sie weit genug von dem Rest der Sekte entfernt und der Pfad so im Wald verborgen, dass ihn niemand fände, wenn er nicht wüsste, wo er suchen müsste.

„Wenn ich nicht zurückkehre, dann bleibt dort bis zum Abend, bevor ihr euch wieder hinaustraut. Dann sollte der Kampf beendet und die Angreifer fort sein." Hoffentlich, ergänzte er in Gedanken.

Die Kinder nickten und folgten seinen Anweisungen, ohne zu zögern. Nur das Mädchen drehte sich nochmal zu ihm, musterte ihn von Kopf bis Fuß und kniff misstrauisch die Augen zusammen, ehe es sich wieder abwandte und den anderen hinterherlief.

Er selbst ging in die andere Richtung und tastete nach dem Knauf des Schwertes, das er an seinem Gürtel befestigt hatte. Doch seine Hand griff in die Leere.

Wie eingefroren blieb er stehen und blickte an sich hinab, aber Qiufeng war verschwunden. Er schluckte hart und setzte sich wieder in Bewegung. Der Kampf schien ihm nun noch aussichtsloser.

Je näher er der Straße kam, desto beißender wurde der Geruch des Rauchs und desto präsenter wurde der Gedanke, dass sich die Sekte nicht von dem Angriff erholen würde. Er biss die Zähne zusammen und beschleunigte die Schritte, rannte schließlich, bis er an der Hauptstraße angekommen war und das volle Ausmaß der Zerstörung sah.

Große Gesteinsbrocken waren aus der Mauer herausgebrochen, lagen im Inneren verteilt und begruben die Holzhäuser unter sich. Der Fluss, in dem stets klares Wasser geflossen war, schlängelte sich nun in Rot gefärbt durch die Straßen.

Wie ausgestorben fand er die Sekte vor. Kein Angreifer kreuzte seinen Weg, doch auch kein Verbündeter. Zumindest kein lebendiger, aber Tote türmten sich zu genüge. Mehr als er dachte, wären überhaupt ein Teil der Sekte.

Sein Magen drehte sich, die Kehle schnürte sich ihm zu und er hielt ein Würgen zurück. Er sah in den Himmel, um dem Anblick der Leichen zu entkommen.

Doch Rauch schwärzte das helle Blau und lenkte Apios Blick auf die qualmende Spitze des Berges und zu Shulangs Tempel.

Angst kroch seinen Rücken hinab und ließ ihn frösteln. Er wollte nicht weiter gehen, viel lieber umkehren und die Sekte verlassen, aber seine Füße bewegten sich ohne sein Zutun und er rannte weiter.

Wenn hier unten schon nichts als Zerstörung vorzufinden war, dann wollte er sich nicht ausmalen, wie es an der Spitze des Berges aussah. Er wollte es sich nicht ausmalen, doch er musste es wissen.

Und so rannte er weiter, ignorierte die Leichen links und rechts des Weges. In der kurzen Zeit, die Apio sein Bewusstsein verloren hatte, war jeder dem Kampf auf Leben und Tod zum Opfer gefallen.

Bis auf das Knistern des Feuers legte sich Stille über die Welt, als wäre der Angriff schon lange vorüber, doch eine leise Stimme sprach zu Apio, dass er weiterhin vorsichtig sein musste. Sie könnten ihn jederzeit überraschen, jederzeit aus den Schatten auftauchen und ihn umbringen. Wie könnte er sich schon verteidigen, wenn nicht einmal Qiufeng an seiner Seite stand.

Und ständig tauchte der Mann in Rot vor seinem inneren Auge auf. Ob er die Schuld an dem Angriff trug? Ob er den Anschlag anführte?

Auf dem Weg zur Treppe wurde Apio nicht aufgehalten und auch nicht als er Stufe für Stufe hochrannte, seine Muskeln schon brannten und er eigentlich keine Kraft mehr besaß, um überhaupt noch die Füße zu heben.

Aber je höher er stieg, desto lauter drängte sich ein neues Geräusch durch die Stille. Klirren, wie Metall, das gegen Metall schlug. Reißen von Stoff. Schmerzerfülltes Keuchen.

Der Kampf war noch in vollem Gange und hatte sich nur von der Ebene zu Shulangs Tempeln verlagert.

Das Ende der Treppe erreichte Apio nur mit Keuchen und Schnaufen. Von dem Adrenalin, das ihm Kraft geben sollte, spürte er kaum mehr etwas.

Erst als er das Bild sah, das sich ihm bot, vergaß er die vorherige Mühe und sein Herz schlug schneller in der Brust und versorgte ihn mit neuer Energie.

Jeder der Tempel lag eingestürzt über dem Platz verteilt. Die mintgrünen Bändchen qualmten und Flammen fraßen an ihnen.

Und inmitten der Trümmer stand ein hochgewachsener Mann, größer als jeder Mensch sein könnte. Gekleidet in eine Lederkluft, die an den Ärmeln abgeschnitten war und die muskulösen Arme entblößte. Grobgeschnitten das Gesicht, wild und roh die Miene. Er glich kaum mehr einem Menschen.

In der Hand hielt er ein gebogenes Schwert, mit dem er mühelos parierte und zum Schlag ausholte.

Doch das, was Apio am meisten ängstigte. Das, was ihn lähmte und vor Angst Übelkeit in ihm auslöste: Dieser Mann war der einzige seines Volkes. Als einziger Angreifer hatte er die Sekte zerschlagen und sah nun dem letzten Gegner entgegen. Dem Letzten, der Bai Tian noch verteidigen konnte.

Makiro.

Der Junge hielt dem Hieb stand, stolperte jedoch mehrere Schritte zurück und verlor beinahe sein Schwert aus den Händen. Risse zogen sich durch seine Robe und Blut quoll aus unzähligen Schnitten hervor.

Aber Apio machte sich keine Gedanken um ihn. Makiro war schließlich der Protagonist. Wenn auch jeder einzige Mensch auf dieser Erde sterben würde, der Junge könnte sogar das Ende der Welt überleben.

Und nun lenkte er den Angreifer ab, sodass Apio den Blick ein weiteres Mal über das Tempelgelände schweifen ließ. In einer Ecke fand er Shulang. Zusammengekrümmt kauerte er hinter den Trümmerresten. Das bleiche Gesicht blutüberströmt, die Augen geschlossen. Er glich mehr einem Geist als einem Menschen.

Doch die große Frage: Lebte er noch?

Apio hechtete zu ihm, fiel neben ihm auf die Knie und rüttelte sanft an dessen Schulter. „Shiye?", flüsterte er und betete, dass er überlebt hatte.

Doch der Großmeister rührte sich nicht. Apio schüttelte ihn ein weiteres Mal, immer noch vorsichtig, denn er wollte die Verletzungen nicht verschlimmern, und rief ein wenig lauter. „Shiye?"

Langsam öffnete Shulang die Augen, blinzelte mehrfach. Gläsern und unfokussiert blickte er seinen Shidi an. Er wollte etwas sagen, doch statt Worten kam nur Blut aus seinem Mund.

„Es wird alles gut", sagte Apio, obwohl er seinen Worten nur zur Hälfte glaubte. Es würde schon an ein Wunder grenzen, wenn sie heil hinauskamen, und dabei beachtete er noch nicht einmal, wie es danach weiterginge. Der Angriff kam einer Kriegserklärung gleich. So viel stand fest.

Shulang nahm die Worte kaum wahr und konnte sie noch weniger verarbeiten. Er ließ den Kopf wieder nach vorne kippen, unfähig, ihn länger zu tragen.

Apio legte einen von Shulangs Armen um seine eigene Schulter, griff nach dessen Taille und versuchte ihn anzuheben. Ein unterdrücktes Keuchen trat dem Großmeister über die Lippen, ehe er sie fest zusammenpressen konnte und nur noch eine Furche zwischen seinen Augenbrauen die Schmerzen verriet.

„Tut mir leid", murmelte Apio und versuchte ein weiteres Mal, Shulang auf die Füße zu hieven. Unter dessen Gewicht brach er fast zusammen und bedauerte in einem leisen Gedanken, dass seine Figur nie Krafttraining betrieben hatte. Aber schnell lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt zurück.

Er lehnte den Großmeister auf sich und diente ihm als Stütze, da Shulangs Beine dessen Gewicht nicht halten konnten und jedes Gramm von Apio getragen werden musste.

Doch er hatte sich noch nicht einmal an die Last gewöhnt, noch keinen einzigen Schritt gemacht, da ertönte ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Ein erstickendes Gurgeln. Ein dumpfes Poltern, als ein Körper zu Boden fiel.

Apio wirbelte herum und vergaß dabei den Großmeister, der bei der Bewegung ein leises Wimmern ausstieß, den Halt verlor und wieder im Staub landete.

Makiro war gestürzt. Blut spritzte aus Schulter und Hals und sammelte sich in einer Lache unter seinem Körper. Der unbekannte Angreifer stand über ihm und stellte einen Fuß auf den Brustkorb des Jungen, um ihn somit davon abzuhalten, zu entkommen.

Makiro röchelte. Das Gewicht auf seinem Brustkorb erschwerte das Atmen, machte es gänzlich unmöglich. Er streckte den Arm nach seinem Schwert aus, das einige Meter weiter geschleudert worden war, doch schnell musste er bemerken, dass er die Kontrolle über den Arm verloren hatte und er nicht länger zu seinem Körper gehörte.

Gelähmt blickte Apio auf das Ereignis. Er erwartete, dass irgendetwas geschah. Dass sich der Himmel spaltete und der Angreifer mit einem Blitz niedergestreckt wurde. Dass ein Stein ihn erschlagen würde. Dass das Schwert weiterhin dem Protagonisten gehorchte und ihn mit einem gekonnten Hieb in Richtung der Kehle des Unbekannten retten würde.

Ein Knacken. Knochen splitterten. Der Fuß des Angreifers durchbrach den Brustkorb und zertrat das Herz.

Apio stieß einen Schrei aus und schlug die Hand zu spät vor den Mund, um ihn zu ersticken.

Der Angreifer wandte sich zu ihm, hatte ihn nun das erste Mal bemerkt. Ein breites freudloses Lächeln legte sich auf sein Gesicht und gab ihm den Ausdruck eines zähnefletschenden Tieres.

Apios Hand tastete nach Qiufeng, doch wieder griff er nur ins Leere. In wenigen Sekunden, die er noch in Schock verbrachte, trat der Unbekannte zu ihm und packte ihn am Kragen.

Erstarrt und von der Angst gelähmt, ließ er sich mehrere Meter mitschleifen, bis er aus seiner Trance erwachte. Mit Fäusten schlug er gegen den Arm des Angreifers, doch dieser beachtete ihn nicht.

Der Griff um seinen Kragen schnürte ihm die Luft ab. Tränen stiegen in seinen Augen auf. Abgehacktes Röcheln verließ seine Kehle.

Aber der Fremde zeigte weder Mitgefühl noch Gnade. Ohne ein Wort, ohne auch nur einen längeren Blick auf ihn zu werfen und ihn als Gegner anzuerkennen, holte er aus und warf ihn über das Geländer in den Abgrund.

Kurz fühlte sich Apio, als würde er wie in einem Cartoon in der Luft stehen, doch die Schwerkraft folgte kurz darauf. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen und hämmerte im nächsten Augenblick wild in seiner Brust.

Er würde sterben.

Wieder einmal würde er sterben.

Und er konnte nichts anderes tun, als zuzusehen, wie der Boden immer dichter kam, bis er letztlich die Augen schloss und darauf wartete, dass sein Körper auf den harten Stein traf.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top