Rot wie Ahornblätter I

Ring, ring.

Apio brummte, zog sich die Decke über den Kopf und rollte auf die andere Seite.

RING! RING!

Er vergrub den Kopf unter dem harten Kissen und murrte lauter.

[Es ist Zeit, dass Sie aufwachen.]

Türkiser Schimmer flog zu ihm und wollte offenbar der Sonne Konkurrenz machen, denn selbst unter dem Kissen und mit fest geschlossenen Augen entkam er nicht. Er kroch unter der Decke hervor.

Mehrfach blinzelte er, bis er sich an die Lichtverhältnisse des Systems gewöhnt hatte. „Ist es schon so spät?", fragte er und rieb sich die Augen.

[Zeit: 5.02 Uhr. In weniger als einer Stunde werden Sie von Shulang erwartet.]

„In Ordnung", murmelte er. „Ich steh ja schon auf."

Doch beim ersten Schritt aus dem Bett bemerkte er schon, welch fatalen Fehler er begangen hatte. Schmerz zog durch seinen Körper – die Oberschenkel brannten, die Schultern konnte er kaum rühren – und er wäre am liebsten sofort wieder ins Bett gefallen, aber das System würde ihn nur wieder hochjagen.

Stattdessen wusch er sich das Gesicht und kleidete sich in eine neue Robe mit grün-türkisen Ornamenten an Saum und Ärmeln und Pflanzen, die sich durch den Stoff rankten und hier und dort blau blühten. Die Haare ordnete er sich ebenfalls und band sie in einem Haarknoten zusammen.

Er griff sich Qiufeng aus dem Regal und befestigte es an seinem Gürtel. Kurz überlegte er, ob er alles bei sich hatte, was er brauchte und warf einen letzten Blick in seine Hütte. Die Fenster waren geschlossen und nichts stand auf dem Ofen, das Feuer fangen könnte.

Nach dieser Vergewisserung trat er aus der Tür und schloss sie hinter sich. Die Sonne war noch nicht einmal gänzlich aufgegangen und nur vereinzelte Strahlen, von denen die Wipfel der Bäume erleuchtet wurden, erhellten den Morgen. Über der Lichtung schwebte silberner Nebel und Tau glitzerte auf dem Gras.

Apio seufzte und wandte sich ab. Mit schnellen Schritten gelangte er zur Hauptstraße. Noch war die Sekte verschlafen und kaum ein Mensch kreuzte seinen Weg, aber in weniger als einer halben Stunde würden sich die Straßen füllen, denn jeder wollte die neuen Rekruten sehen und dem Auswahlverfahren als Zuschauer beiwohnen.

Er hastete die Hauptstraße entlang, überquerte die vielen Brücken und fand sich vor der Treppe wieder. Ein wehleidiges Seufzen konnte er nicht zurückhalten und trat auf die erste Stufe.

Ein vertrautes Läuten erklang und neben ihm öffnete sich das Display.

[Sind Sie sicher, dass Sie dieses Gebiet betreten wollen?]

Apio stockte und sah auf das Fenster. „Natürlich will ich das. Warum denn nicht?"

[Viel Spaß auf dieser Reise.] Mit diesen Worten und ohne, dass er eine Erklärung bekam, verschwand das Display und ließ ihn allein.

Er schüttelte nur den Kopf und stieg die Treppen hoch. Die schmerzenden Muskeln quälten ihn und der Aufgang erschien ihm unendlich lang und immer länger zu werden, je weiter er voranschritt. Und dies war erst der Beginn des Tages. Er musste noch viele weitere Stunden überstehen, ehe er sich wieder zurückziehen konnte.

Und so kämpfte er sich weiter. Schritt für Schritt und Stufe für Stufe, bis er am Ende angekommen war.

Der Platz vor dem Tempel war menschenleer. Nur die Fähnchen und Bänder, die im Wind flatterten, hauchten dem Ort Leben ein.

Apio stieß einen weiteren Seufzer aus. Ihm kroch Gänsehaut über den Rücken, wenn er nur daran dachte, sich bald inmitten einer Unmenge an Menschen zu befinden, mit denen er sprechen und interagieren musste.

Lange wollte er sich aber nicht mit dem Gedanken aufhalten. Er würde ansonsten womöglich noch der Aufregung Überhand geben und umdrehen, um sich wieder unter seiner Decke zu verstecken.

Und daher trat er in Shulangs Tempel. Der Großmeister war zwar kein angenehmer Zeitgenosse, könnte ihn aber zumindest ablenken.

Die aufgehende Sonne erhellte den Raum und ließ die weißen Schwaden aus den Räucherstäbchen silbern schimmern. Doch es erklangen keine Schritte und der Großmeister blieb fern.

Merkwürdig, dachte Apio. Shulang schätzte es nicht, jemanden in seinem Tempel zu haben, wenn er nicht wusste, um wen es sich handelte.

„Shiye?", rief Apio in den Raum, aber es kam keine Antwort zurück. Er runzelte die Stirn und ging tiefer in den Tempel. Shulang müsste hier irgendwo sein, denn die Rekruten würden doch bald ankommen.

Er schob den Vorhang beiseite und betrat den Flur, der sich dahinter erstreckte. Gemälde, auf denen größtenteils Bambus und Berge abgebildet waren, schmückten die Wände. Auf kleinen Tischen qualmten Räucherstäbchen.

„Shiye?", rief Apio erneut. Ein dumpfes Poltern, rasches Flüstern, das Apio nicht verstehen konnte, Rascheln von Kleidung.

Er runzelte die Stirn und ging an das Zimmer heran, aus dem die Geräusche stammten. Einer von zwei Räumen auf diesem Flur, beide nur mit Türrahmen, aber ohne Tür oder Vorhang abgetrennt.

„Shi—" Apio brach ab, als Shulang in dem Rahmen auftauchte. Nicht nur brach er ab, er blieb sogar wie erstarrt stehen.

Die Haare fielen dem Großmeister noch offen über die Schultern. Die Robe war hastig übergeworfen und ließ die Brust nahezu gänzlich entblößt. Und die Hose hing ihm locker auf der Hüfte und wurde mit einer Hand zusammengerafft und an ihrem Platz gehalten. Nicht einmal Schuhe bekleideten die nackten Füße.

...

Huh?

Apio musterte ihn erneut. Offene Haare, in denen einige Strähnen verräterisch zerzaust waren. Leicht gerötete Wangen, einige Schweißperlen auf der Stirn.

Shulang zog eine Augenbraue hoch und schenkte Apio einen Blick, der deutlich machte, dass er am liebsten die Arme vor der Brust verschränken würde, es aber seinem Shidi zuliebe nicht tat.

Für Apio bestand kein Zweifel mehr. Irgendwas hatte er gerade unterbrochen. „Ich ..." begann er. „Äh ... ich ..." Seine Wangen erhitzten sich, während es ihm weiterhin nicht gelang, ein vernünftiges Wort hervorzubringen. „Die ... die Rekruten sind bald hier." Er wandte den Blick von dem Großmeister ab und auf seine eigenen Füße.

„Ich weiß", erwiderte Shulang. „Bis dahin bin ich hier fertig."

Apio schluckte und machte sich gewiss keine Gedanken darum, was genau der Großmeister ‚beendete'. Er nickte und drehte sich um. „Ich ... ich habe nichts gesehen", sagte er noch schnell, ehe er zurück in den Hauptraum und von dort aus auf das Tempelgelände hechtete.

Gut gelöst, Apio, lobte er sich. Das war gar nicht seltsam oder auffällig von dir.

Er holte tief Luft und ließ sich auf die Stufen vor dem Tempel fallen. Die Morgenluft kühlte seine Wangen, sodass sie bald wieder eine normale Farbe annahmen.

Was hatte er dort gerade mitbekommen?

Das war doch offensichtlich, aber gleichzeitig konnte er es nicht glauben. Nie in seinem Leben hätte er es vom Großmeister erwartet, dieser Figur, die stets auf Abstand bemüht war und niemanden berührte, ohne die Nase zu rümpfen.

Er schüttelte den Kopf in der Hoffnung, den Gedanken verbannen zu können, doch gleichzeitig blitzte etwas Neues auf. Wer wohl der andere Part in dem Geschehen war?

Wieder schüttelte er den Kopf, diesmal energischer, bis ihm ein unerwartet starker Schmerz in den Nacken und bis in seine Schläfen fuhr.

Er sog Luft zwischen zusammengebissenen Zähnen ein und zog die Knie an, um seine Stirn auf sie zu betten. Nun verstand er auch die Warnung des Systems. Es hatte ihn einfach vor dem Anblick bewahren wollen.

Ein Knall ertönte hinter ihm. Er zuckte zusammen und hob den Kopf. Shulang war aus dem Tempel getreten, sein Aussehen nun tadellos. Die Robe sorgfältig angelegt und faltenfrei, die Haare mit Nadeln drapiert und das Gesicht frei von jeder Röte.

Er schritt die Stufen hinunter und meinte: „Steh auf. Deine Robe wird schmutzig."

„Natürlich, natürlich", sagte Apio schnell und sprang auf die Füße, wich gleichzeitig aber einige Schritte vor Shulang zurück. Die Härchen an seinen Armen stellten sich auf und am liebsten würde er die Treppe hinunter flüchten.

Er klopfte sich den Staub aus seiner Robe und warf einen kurzen Blick auf den Großmeister. In dessen Gesichtszügen lag die gewohnte Härte, doch in den Augen ein Hauch von Milde.

Apio schluckte und sah zu Boden. Schweigen legte sich über das Tempelgelände und erdrückte ihn.

Mehrere Minuten lang herrschte Stille, ehe Schritte auf dem Sand knirschten und eine weitere Person zu ihnen trat.

Ein kurzes Aufsehen bestätigte Apios Vermutung, dass es sich um Makiro handelte, doch mehr als diese eine Sekunde Blickkontakt gab er ihm nicht.

Der Protagonist war noch so klein und unschuldig. Er wollte nichts als Gutes tun und die Welt beschützen. Später würde er sich seinen Harem bauen, aber noch war er frei von derartigen Gedanken.

Apio seufzte innerlich. Diese Unschuld hätte er auch gerne wieder. Rein und unverdorben, wie nur der Prota—

Sein Kopf schoss in die Höhe und er gab Makiro nun doch eine genauere Musterung. Denn, obwohl er die Treppe nicht gänzlich im Blick hatte, hätte er doch zumindest aus den Augenwinkeln bemerken müssen, wie der Protagonist das Gelände betreten hatte. Und doch war der Junge einfach aus dem Nichts aufgetaucht, als wäre er schon zuvor dort gewesen.

Apios Blick schweifte von Makiro zu dem Großmeister und zurück zu dem Jungen.

Nein!

Ein helles Klingeln erklang. [+100 für das Entdecken eines Nebenplots]

Apio wandte sich dem türkisenen Fenster zu. „Dafür?!", rief er. „Dafür bekomme ich Punkte? Und gleich so viele?!" Er zwang sich, sämtliche Flüche, die nicht für Kinderohren geeignet waren, hinunterzuschlucken und streckte einen Arm in Richtung Makiro aus. „Er ist doch noch ein Kind! Und vor allem ein Schüler, System. Ein Schüler! Wer hat sich das denn bitte ausgedacht?!"

[¯\_(ツ)_/¯]

Apio stieß einen Frustrationslaut aus und nahm sich vor, dem Entwickler einen langen Brief zu schreiben, dass er dem System verbieten sollte, Smileys zu nutzen.

Mit einer Handbewegung fegte er das Display fort und wandte sich den anderen beiden zu. Er führte die Hände vor sich zusammen und machte eine Verbeugung in Shulangs Richtung. „Ich erbitte die Erlaubnis, mich für heute zurückziehen zu dürfen."

Er sah nicht auf, spürte aber den Blick des Großmeisters auf sich. Es bedurfte keiner Erklärung, weswegen er gehen wollte. Shulang musste glauben, dass die Entdeckung ihn zu sehr erschüttert hatte, doch eigentlich wollte er nur gehen, da er nun ausreichend Punkte gesammelt hatte, um das Tutorial verlassen zu können. Er betete nur, dass Shulang ihn gehen ließ. Andernfalls würde den gesamten Tag eine seltsame Spannung über dem Tempelgelände liegen und darauf konnte er gut verzichten. Es würde ohnehin schwierig genug sein, dem Protagonisten und dem Großmeister wieder unter die Augen zu treten.

„In Ordnung", sagte Shulang, die Hände behielt er hinter seinem Rücken und die Regungen in seiner Miene blieben kühl. „Aber morgen erwarte ich dich hier. Wir sollten ein Wort miteinander wechseln."

Apio nickte, verblieb aber in der Verbeugung. „Wie Ihr wünscht", sagte er und richtete sich erst dann auf. Weder auf Makiro noch auf Shulang warf er einen Blick und rannte sofort zu den Treppen. Er hechtete sie hinunter, obwohl seine Muskeln lautstark protestierten.

Wieder am Fuße der Treppe angekommen, erklang ein Klingeln und ein [+1] schwebte durch sein Sichtfeld, aber er beachtete es nicht. Für ihn war nur noch eines wichtig: Er wollte dieses verdammte Gebiet endlich verlassen.

Erst vor den Toren blieb er stehen. Die Mauern hoben sich vor ihm aus dem Boden und flößten ihm Höhenangst ein, wenn er an ihnen hinaufsah. Er wollte sich gar nicht ausmalen, in welchem Zustand man auf dem Boden ankäme, wenn man von dort oben herunterfallen würde.

Er ging zu einer kleineren Tür, die in das große Tor eingearbeitet war, doch ehe er die Klinke hinunterdrücken konnte, öffnete sich das System-Fenster.

[Wenn Sie durch dieses Tor gehen, dann verlassen Sie das Tutorial-Gebiet. Diese Aktion kostet Sie 100 OC-Punkte; derzeitiger Punktestand: 132. Draußen erwartet Sie eine offene Spielwelt mit wenigen Einschränkungen. Mit jeder Figur besteht die Möglichkeit mehrerer Dialoge zu führen, die sich an Ihre Antworten anpassen. Außerdem wird Ihnen ein Shop freigeschaltet, in dem sie mit den OC-Punkten Gegenstände und Fähigkeiten erwerben können.]

[Wollen Sie das Tutorial jetzt verlassen?]

„Ja", rief Apio. „Ja, natürlich. Bloß weg von hier!" Vor seinen Augen verminderte sich sein Punktestand.

[Wir freuen uns, dass Sie diese Entscheidung getroffen haben und wünschen Ihnen viel Spaß in der Spielwelt.]

Apio atmete tief durch und legte die Hand erneut auf die Klinke. Schon oft hatte er das Tutorial-Gebiet verlassen, doch trotzdem kam das Gefühl in ihm auf, dem Ungewissen entgegenzublicken. Keinerlei Plot-Armor, keine Unverwundbarkeit.

Er war nur er, aber das musste ausreichen, um zu überleben.

Und mit diesem Gedanken stieß er die Tür auf und trat vor die Tore.

Weit kam er jedoch nicht, denn kaum einen Fuß setzte er aus der Sekte, da stieß er gegen jemanden, der gerade die Hand gehoben hatte, um anzuklopfen.

Apio sprang vor Schreck einige Meter zurück. Im ersten Moment sah er nur roten Stoff und erst nach einem zweiten Blick bemerkte er die Person, die darin gekleidet war. Er musste aufsehen, um dem Fremden in das Gesicht zu blicken.

Die Züge vornehm und die Haut weiß wie Schnee. Ein Funkeln lag in den düsteren Augen, das Apio nicht einschätzen konnte, doch sofort lief es ihm kalt den Rücken hinab.

Dunkle Haare fielen ihm über die Schultern. Perlen in verschiedenen Farben waren in die Strähnen geflochten und brachen die Sonnenstrahlen in sich.

An seinem Gürtel war kein Schwert befestigt, doch ein gebogener Dolch, dessen Griff mit Silber geschmiedet und mit Rubinen verziert war.

Apio suchte nach einem Namen, denn das System stellte ihm doch jede Figur vor, doch er fand nichts.

„Ah, ich wollte gerade anklopfen", sagte der Fremde und ließ seine Hand sinken. Seine Lippen formten sich zu einem schiefen Lächeln.

Apio musterte ihn erneut. Ein Rekrut konnte es nicht sein, dafür war er zu alt, doch was wollte er sonst hier?

„Ich hoffe, du kannst mir helfen, Xiaoge", fuhr der Fremde fort und Apio zwang sich, bei der Anrede eine ausdruckslose Miene zu behalten. Er wurde schon als vieles adressiert, doch ‚Xiaoge' war ihm neu.

„Ich suche jemanden und mir wurde versichert, dass er hier lebt."

Apio verschränkte die Arme vor der Brust. Er würde mit Sicherheit keinen Außenstehenden in die Sekte lassen. „Wen?", fragte er knapp.

„Sein Name ist Liu Shijia." Der Mann in Rot kam einen Schritt auf ihn zu und legte eine Hand in den Türrahmen.

Apio wich zurück und musterte ihn erneut, aber nichts an dem Fremden kam ihm auch nur im Entferntesten bekannt vor. „Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen", sagte er. „Hier gibt es niemanden mit diesem Namen."

„Hm?" Der Fremde schob sich in das Innere der Tür, die Apio mit seinem Leben hatte verteidigen wollen, doch nun ohne einen Kampf aufgab. „Das ist äußerst merkwürdig." Er legte den Kopf schief und das Lächeln wurde kälter. „Ich bezweifle nämlich, dass mein Informant mich belogen hat."

Apio tastete nach dem Griff seines Schwertes. Er wollte es nicht ziehen, doch der Fremde ließ ihn frösteln. Seine Kehle schnürte sich zu.

Ein ohrenbetäubender Knall hallte vor den Toren wider und in nächsten Moment schleuderte es Apio von den Füßen. Sein Kopf krachte gegen eine nahe Häuserwand. Er sank auf den Boden, denn seine Beine wollten ihn nicht halten. Unfähig sich zu rühren, sah er den Fremden, der auf ihm gelandet war. Dieser raffte sich schnell auf und verschwand aus seinem Blickfeld.

Apio öffnete den Mund, wollte ihn aufhalten, fragen, welches Anliegen er hatte und was geschehen war, doch kein Laut kam hervor, sodass er sich geschlagen geben musste. Die Ränder seines Sichtfeldes schwärzten sich.

Die Dunkelheit zupfte an seinem Gewand. Er konnte ihrem Griff nicht entgehen und ließ sich letztlich von ihr in die Tiefe reißen.

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