Kein Blick fällt zurück I

Bald erreichten sie ein Haus, dessen Eingang hell erleuchtet und an dessen Eingang ein Schild mit der Aufschrift Gasthaus angebracht war. Aus dem Inneren drangen Stimmen, laute Gespräche und Lachen.

Apio lief jetzt schon ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte, dass er sich unter Menschen begeben musste; so kurz es auch war.

Und doch brachte es nichts, sich zu beschweren. Er holte tief Luft und trat ein.

Sofort hastete ein älterer Mann zu ihnen, sprach Worte, die in Apios Kopf verschwammen. Glücklicherweise war Hua Li in einer besseren Verfassung als er und verstand jeden Satz.

„Eine Mahlzeit für die jungen Herren?", fragte der Inhaber. „Und zwei Zimmer?"

Hua Li nickte als Antwort auf die erste Frage und sagte zu der zweiten aber: „Ein Zimmer reicht aus." Er steckte die Hand in seinen Ärmel und holte einen Beutel gefüllt mit Münzen hervor, die er dem Inhaber in die Hand drückte. „Ein Zimmer mit Bad. Und das Essen könnt Ihr zu uns bringen, sobald es fertig ist."

Der Mann nickte. „Den Gang entlang", er deutete in einen Flur, „und dann könnt Ihr Euch ab der dritten Tür auf der linken Seite ein Zimmer aussuchen. Sie sind alle frei."

Hua Li strich an Apios Arm entlang und holte ihn damit aus seinen Gedanken. Er deutete ihm mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen.

Apio traf nur kurz seinen Blick und sah dann wieder zu Boden. Trotzdem ließ er sich von ihm in eines der Zimmer führen und versuchte sich zu erinnern, was der Inhaber des Gasthauses gesagt hatte. In seinem Kopf waberte nur dichter Nebel aus Gedanken und Zweifeln.

Er bemerkte erst, dass Hua Li ihn in ein Zimmer gezogen hatte, als er schon mitten im Raum stand und der Dämon sagte: „Du kannst als erstes ein Bad nehmen."

Apio sah an sich hinab. Der Saum seiner Robe war mit Schmutz und Schlamm bespritzt, wie dunkelrote Tupfer zog sich getrocknetes Blut über den Stoff.

„Ich warte hier, bis das Essen ankommt und kann es dann entgegennehmen."

Apio nickte. Er streifte sich die Stiefel schon im Hauptraum aus, um den Schmutz nicht mit sich zu tragen und ging, ohne ein Wort zu sprechen, in das Bad – diesmal, wie er mit Freuden feststellte, eines mit Tür.

Er entzündete eine Kerze, die schummeriges Licht spendete und flackernde Schatten an die Wände warf. Die Badewanne war bereits mit dampfendem Wasser gefüllt und kurz fragte sich Apio, ob die Inhaber ständig dafür sorgten, dass alles bereit war, falls ein Gast das Zimmer mietete.

Er schüttelte den Kopf und beschloss, sich einfach keine Gedanken darüber zu machen. Stattdessen öffnete er seinen Gürtel und ließ ihn auf den Boden fallen. Bald folgte seine äußere Robe, kurz darauf auch die innere und zum Schluss noch sein Haarband.

Ohne Kleidung fröstelte er und er stieg schnell in die Wanne. Das heiße Wasser prickelte auf seiner ausgekühlten Haut und erinnerte ihn daran, wie viel Anstrengung er doch hinter sich hatte.

Er wusch sich das Gesicht, obwohl sich seine Arme schon bleischwer anfühlten. Jeder Muskel brannte, sodass er bald jede Bewegung aufgab und seinen Kopf gegen den Rand der Wanne lehnte.

Ein leises Klopfen ließ ihn hochfahren, aber er erinnerte sich schnell, dass Hua Li noch im anderen Zimmer war und sich um denjenigen kümmern würde.

Schritte erklangen im Nebenraum, dann das Geräusch einer Tür und leise Stimmen.

Apio seufzte leise. Eigentlich wollte er sich doch entspannen und nicht jedem Geräusch lauschen.

Doch nun, da das Essen angekommen war, musste er sich notgedrungen wieder erheben. Dabei hatte er nicht einmal Hunger.

Aber ehe er aufstehen konnte, schwang die Badezimmertür auf. Apio fehlte der Elan, um panisch aufzuspringen und zu schreien. Er zog nur die Beine an und drehte den Kopf langsam. Wie er schon erwartet hatte, war Hua Li eingetreten. In einer Hand trug er ein Tablett, mit der anderen zog er einen Stuhl über die Dielen.

Apio betrachtete ihn stumm, blieb auch stumm als Hua Li den Stuhl neben ihn stellte und das Tablett mit dem Essen darauf platzierte und sagte ebenfalls nichts, als sich Hua Li umdrehte, das Zimmer verließ und mit einem zweiten Stuhl wieder auftauchte.

Erst als Hua Li sich auf den freien Stuhl setzte, fand Apio seine Stimme wieder. „Ich hab nicht besonders Hunger", murmelte er.

Hua Li stockte. „Nicht?", fragte er. Er reichte Apio eine Schüssel und goss Tee in beide Tassen. „Versuch zumindest ein bisschen was zu essen."

Apio hmte leise und sah auf die Schüssel, Nudeln mit verschiedenem Gemüse. Er griff sich seine Stäbchen und bemerkte erst jetzt, dass seine Hand zitterte.

„Geht es?", fragte Hua Li.

Apio nickte, doch das Zittern wurde nur stärker.

Hua Li seufzte. Er machte den Ansatz, aufzustehen, um sich zu Apio zu knien, blieb dann aber doch sitzen. Sein Blick schweifte zu der Kerze, von der sich Wachs löste und langsam hinuntertropfte.

„Sie haben dir sicherlich viel bedeutet", sagte Hua Li.

Apio sah auf. Wer?, wollte er im ersten Moment fragen, aber dann fiel ihm ein, wen Hua Li meinte. Diejenigen, die sie während des Tages begraben hatten.

Er schüttelte den Kopf. „Ich kannte sie kaum." Absurd, wenn er nun darüber nachdachte. Er hätte den ganzen Tag Qiufeng suchen können, hätte es vielleicht sogar gefunden, aber stattdessen hatte er Figuren begraben, die er nicht kannte und die darüber hinaus nur NPCs waren.

„Oh." In seiner Verwunderung hoben sich Hua Lis Brauen leicht. Es lag ihm auf der Zunge, zu fragen, weshalb Apio deren Tod dann so naheging, doch er hielt sich zurück.

„Weil sie es verdient haben, dass sich jemand um sie kümmert", sagte Apio. „Weil ... ich auch wollen würde, dass man mich begräbt, wenn ich sterbe. Weil sie zu Bai Tian gehörten. Weil ich nicht wollte, dass ihre Körper noch länger im Freien herumliegen. Weil ... ich weiß nicht." Er wandte sich zu Hua Li und fragte: „Warum habe ich das gemacht?"

Hua Li seufzte. „Manchmal braucht unser Verhalten keine Erklärung und du musst dich nicht vor mir rechtfertigen."

Apio machte wieder nur „Hm" und schwieg für einige Sekunden. „Ich vermute, du hast recht", sagte er letztlich, neigte aber den Kopf, als würde er weiter über die Worte nachdenken.

„Mach dir keine Gedanken darüber", sagte Hua Li. Nun stand er doch auf und ging neben der Wanne in die Knie. „Die Zeit läuft uns nicht fort, nur weil wir uns heute um die Bestattung gekümmert haben. Morgen können wir dann dein Schwert suchen."

Er schenkte ihm ein Lächeln und Apio konnte nicht anders, als es zu erwidern.

Ungeachtet, wie sehr er nun auch darüber nachdenken würde; an dem, was geschehen ist, konnte er nichts mehr rückgängig machen.

„Da gibt es eine Sache, über die ich gern mit dir sprechen würde", ergriff Hua Li das Wort. Der Ton seiner Stimme hatte sich verändert und Apio hielt unwillkürlich die Luft an.

„Nichts Schlimmes, keine Sorge", sagte Hua Li, aber sein Lächeln wurde schwächer und brachte Apio dazu, sich doch Sorgen zu machen. „Nur eine Sache, die ich schon seit einer Weile erzählen wollte."

Er beugte sich zu Apio, als würde er sicherstellen, dass nur er die Worte hören konnte. „Ich gehöre hier nicht her", sagte er, die Stimme gesenkt und so nah an Apios Ohr, dass ihm ein Schauer über die Wirbelsäule rann.

„Du hast meine Narben schon gesehen, nicht?"

Apio nickte. Als er betrunken war und Hua Li beim Baden beobachtet hatte, waren sie ihm aufgefallen.

„Du hast gefragt, wie ich sie mir zugezogen habe."

Wieder nickte Apio.

„Und ich habe dir geantwortet, dass ich nicht denke, dass du es verstehen würdest. Aber nun habe ich ein wenig darüber nachgedacht und möchte versuchen, es dir zu erklären."

Er machte eine kurze Pause, legte sich offenbar einige Worte zurecht. „Da, wo ich herkomme, zog ich mir die Narben zu. Bei einem Angriff auf meine Familie. Meine Eltern und meine Schwester waren nicht im Haus, nur ich war da. Und daher wurde nur ich verletzt. Das allerdings so schwer, dass ich fast starb und vielleicht wäre ich auch gestorben, wäre mein Bewusstsein nicht hierher gelangt. Dies hier ist zwar eine recht genaue Abbildung meines Körpers – wir hatten zu wenig Zeit, um große Änderungen vorzunehmen. Aber mein eigentlicher Körper liegt momentan im Koma in irgendeinem Krankenhaus in einer anderen Welt und wartet darauf, dass mein Bewusstsein wieder dorthin zurückkehrt."

Apios Herz zog sich zusammen. Das klang ... Es klang fast wie ...

Er schluckte. „Eine andere Welt", hauchte er. Dann war Hua Li wirklich ein Spieler und mit Sicherheit auch dieser Raposa, vor dem das System ihn gewarnt hatte.

Hua Li nickte. „Eine Welt, die in vielen Hinsichten hässlicher ist als diese, aber es ist meine Heimat."

„Und du möchtest dorthin zurück?", führte Apio den Gedanken zu Ende.

„Dort ist meine Familie und meine Freunde. Würdest du es nicht auch wollen?"

Apio schwieg. Das war die Frage: Wollte er überhaupt zurück? Instinktiv hätte er mit ‚Ja' geantwortet, aber wenn er nun darüber nachdachte ... In der Realität war kein Platz für ihn und so sehr es ihn auch genervt hatte, immer wieder in diesem Spiel zu sterben, irgendwie besaß er hier eine Rolle. Selbst wenn es zuvor nur die des Antagonisten war.


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