Hinter dem Schleier der Täuschung

Am folgenden Tag reisten Hua Li und Apio nach Shoudu. Hua Li hatte Xiong Mao vorgeschickt, wie er versprochen hatte, und der Junge war mit der Nachricht zurückgekehrt, dass Hai Tun eine Versammlung abhielt, bei der alle namenhaften Kultivatoren zugegen waren. Eine gute Gelegenheit also, um Aufsehen zu erregen.

Nur ... so viel Aufsehen hatte Apio dann doch nicht erregen wollen.

Sie waren in Hua Lis Kutsche – die Kutsche, die von Skelett-Pferden gezogen wurde – vor die Stadttore gefahren und nachdem beide ausgestiegen waren, löste sie sich in einem Feuerwerk auf.

Damit zogen sie sämtliche Blicke auf sich und während sich Hua Li daran nicht störte, wäre Apio am liebsten im Boden versunken.

Was habe ich mir dabei nur gedacht?, fragte sich Apio und beantwortete die Frage sofort. Nichts. Absolut gar nichts.

„Wollen wir?", fragte Hua Li. Er konnte es offenbar gar nicht abwarten, für Ärger zu sorgen.

Apio warf ihm einen Blick zu und verengte die Augen. Es sollte ein Wehe, du richtest irgendwas an sein, aber das Lächeln des Dämons wurde nur noch breiter. Er genoss es wirklich viel zu sehr.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit sämtlicher Menschen passierten sie die Tore und gelangten zu Hai Tuns Palast.

Apio klopfte gegen die Holztür in der Mauer, die das Grundstück umgab. Kurz darauf öffnete sich schon das kleine Fenster und ein Wachmann tauchte dahinter auf. Seine Augen weiteten sich bei Hua Lis Anblick und er stammelte einige unverständliche Wortfetzen.

Apio räusperte sich und lenkte die Aufmerksamkeit des Wachmannes auf sich. „Ich bitte um eine Audienz bei Hai-Zhangmen. Das", er deutete auf Hua Li, „ist mein Begleiter."

Hua Li lächelte ein Lächeln, das kein wirkliches Lächeln war und dem Gegenüber Dolche durch die Brust trieb.

Der Wachmann musterte beide mit großen Augen. „Eine ... eine Audienz bei Zhangmen?"

Apio nickte.

„Er ... er möchte derzeit nicht gestört werden."

„Wie –" Bevor Hua Li noch mehr sagen konnte, hob Apio die Hand und der Dämon verstummte.

Apio wollte nicht riskieren, dass er etwas wie ‚Wie wichtig ist dir dein Leben? Muahaha', sagte.

Traute er so etwas Hua Li wirklich zu?

Ja, das tat er.

„Erinnert Ihr Euch an mich?", fragte Apio. „Ich bringe wichtige Kunde und Hai Tun sollte sie anhören."

„Ihr?!" Der Wachmann hatte nun offensichtlich erkannt, wer vor ihm stand. Nicht alle Tage streckte jemand seine Hand durch das Fenster und riskierte Knochenbrüche.

„Ja, ich", sagte Apio. „Und jetzt lasst mich hinein. Was auch immer es ist, was Zhangmen als so wichtig ansieht, es kann warten."

In Wirklichkeit wusste er, dass Hai Tun gerade eine Versammlung mit den Kultivatoren abhielt. Genau deshalb war Apio in erster Linie dort.

Der Wachmann sah zwischen Hua Li und Apio hin und her und sagte schließlich: „Wie Ihr wünscht. Tretet ein."

Das Tor öffnete sich und beide taten, wie ihnen geheißen wurde. Sie folgten dem Weg durch die Gärten, stiegen die Treppen hoch und standen vor der Tür zum Palast. Aus dem Inneren kamen schon laute Stimmen.

Apio holte tief Luft und stieß die Tür auf. Sofort verstummte jeder. Diesmal war der Saal gefüllter als zuvor. Jeder der führenden Kultivatoren saß an einem der Tische – Apio kannte sie nicht alle mit Namen; er hatte sich immer nur die Namen derjenigen gemerkt, mit denen er viel Kontakt hatte.

Eine Person erkannte er aber trotzdem. Nichts hätte ihn dazu bringen können, sie zu übersehen. Eingehüllt in eine dunkelviolette Robe, an deren Kragen ein goldener Lotus prangte – das Zeichen für das Bündnis, das die Kultivatoren untereinander geschlossen hatten. Die dunklen Haare in einem strengen Knoten zusammengebunden und ihre Brauen waren finster zusammengeschoben.

Eine Person, die auffiel wie keine zweite. Und der Grund: Sie war die einzige Frau im Kreise der Kultivatoren.

Xuan Wu.

Sie stand und drohte Hai Tun mit dem Zeigefinger, aber der oberste Kultivator saß nur lässig auf seinem Platz, das Kinn in die Hand gestützt und eine Frau in seinem Arm. Er schien gelangweilt von ihren Worten und sah nun zu den beiden Ankömmlingen.

Xuan Wu erkannte, dass sie Hai Tuns Aufmerksamkeit nun vollends verloren hatte und ließ sich mit einem genervten Stöhnen auf ihren Platz fallen.

„Liu-Shixiong, welch eine Überraschung", sagte Hai Tun. „Und auch Hua Li ist wieder hier. Ist es nicht schön, dass sich jemand aus unserer Mitte so gut mit einem Dämon versteht?"

Apio ignorierte den bissigen Kommentar und verbeugte sich. „Zhangmen, eine Freude, Euch wiederzusehen."

Hua Li verneigte sich nicht. Er blieb hinter Apio stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wie ich sehe, kommen wir zu einem guten Zeitpunkt", sprach Apio weiter. „Ich denke, Ihr könnt Euch sicherlich denken, weswegen ich hier bin. Der Angriff auf Bai Tian. Ich –"

„Ugh, hast du immer noch nicht eingesehen, dass es mich nicht kümmert?"

Apio zuckte zusammen.

„Du tauchst hier auf, in Begleitung eines Dämons – und vor allem Hua Lis – und denkst, dass ich dir auch nur ein Wort glaube?", sagte Hai Tun. „Haben wir das nicht beim letzten Mal schon geklärt. Du hast keinen Beweis, der dich freispricht. Was sagt mir, dass du nicht selbst für Bai Tians Untergang verantwortlich bist?"

Apio wartete, bis Hai Tun zu Ende gesprochen hatte, ehe er antwortete: „Ich habe den Mörder gefunden und es ist kein Dämon."

Blässe legte sich auf Hai Tuns Gesicht. Oder täuschte es nur? Welchen Grund hätte er, zu erbleichen?

„Sein Name ist Ying Diao und er stammt aus dem Osten. Er hat mir gegenüber alles gestanden und bei ihm ist sogar die Leiche eines Schülers aus Bai Tian."

„Und ich soll dir glauben?", fragte Hai Tun. „Liu-Shixiong, verzeih mir meine Direktheit, aber du hast in der Vergangenheit bewiesen, dass du nicht vertrauenswürdig bist."

Apio knirschte mit den Zähnen. Sie drehten sich im Kreis. Dass er den Namen des Mörders genannt hatte, hatte die Situation nicht geändert. Hai Tun wollte ihm nicht glauben, also glaubte er ihm nicht. So einfach machte er es sich.

Und Apio hatte doch gewusst, dass es so laufen würde. Trotzdem schnürte sich seine Kehle zu.

„Und Ihr habt kein Interesse, ihn überhaupt anzuhören?", durchbrach eine weitere Stimme das Gespräch. Xuan Wu war zwar nicht aufgestanden, hatte den Blick aber auf Hai Tun gerichtet, als wollte sie ihn damit erstechen.

„Hat er dich etwa betört?", keifte Hai Tun zurück. „Oder bist du Hua Lis hübschem Gesicht verfallen? Auf eine Frau werde ich gewiss nicht hören. Du hast doch keine Ahnung, was hier vor sich geht. Grenzt dich seit Monaten ab und kommst nur hierher, wenn ich nach dir schicke."

„Das hat nichts damit zu tun, dass ich eine Frau bin", sagte Xuan Wu und neigte den Kopf. „Es gibt also keinen Grund, weshalb Ihr das auf den Tisch bringt. Außer natürlich, Ihr habt Angst vor Frauen."

Die Blässe in Hai Tuns Gesicht wechselte zu Zornesröte. „Was maßt du dir an?", rief er. „Du hast mir nichts zu sagen?!"

„Sie scheint aber recht zu haben", klinkte sich nun auch Hua Li ein. „Weshalb sonst reagierst du so, sobald dir eine Frau die Stirn bietet? Und weshalb verbietest du es, Mädchen und Frauen in Sekten aufzunehmen?"

„Was wagt er zu sprechen?!"

Der zornige Ausruf war an Apio gerichtet, aber dieser zuckte nur mit den Schultern. All dies kam ihm äußerst verdächtig vor. Hai Tun reagierte bei diesem Thema zu sensibel.

„Es ist kein Geheimnis", warf Xuan Wu ein. „Seit Jahren versucht Ihr mich und Wei Yuncai zu Fall zu bringen. Seit Jahren schickt Ihr Drohbriefe, dass ich Shan Shui schließen soll."

„RUHE!", rief Hai Tun und sprang auf.

„Shulang wollte zum ersten Mal ein Mädchen aufnehmen", sagte Apio. Es ergab alles Sinn. Es ergab alles so viel Sinn.

„SEI STILL!"

Bai Tian sollte als abschreckendes Beispiel herhalten. Es sollte zeigen, dass Frauen in der Kampfkunst nur Schlechtes brachten und gleichzeitig Xuan Wu und Wei Yuncai demonstrieren, dass Selbiges auch ihnen widerfahren könnte, wenn sie ihren Weg weitergingen.

„Shulang wollte ein Mädchen aufnehmen, obwohl er nicht nur keine Unterstützung erfuhr, nein, Ihr, Zhangmen, habt es ihm sogar ausdrücklich verboten", sprach Apio weiter, ohne auf Hai Tun zu achten. „Und Ying Diao war auf der Suche nach mir. Ich frage mich nur: Wer hat ihm gesagt, dass ich in Bai Tian lebe? Wie konnte er davon erfahren?"

Hai Tun hatte es ihm gesagt.

Er sah zu jedem einzelnen Kultivator und jeder einzelne senkte den Blick. Jeder außer Hai Tun. Mittlerweile hatte er aufgehört, Apio zum Stillsein bewegen zu wollen, aber seine Augen sprühten Funken.

Und da traf es Apio. Er wollte es Hai Tun allein andichten, aber die Kultivatoren steckten alle unter einer Decke.

Allesamt Sexisten.

Niemand hatte sich je gegen Hai Tun gestellt und noch mehr als das: Sie hatten ihn zum obersten Kultivator ernannt.

Xuan Wu schnaubte und schlug auf den Tisch. Das Holz splitterte entzwei, Tassen und Schüsseln klirrten zu Boden.

Sie erhob sich ruckartig. In einer schwungvollen Bewegung riss sie das Lotusabzeichen von ihrem Kragen und ließ es auf das Chaos zu ihren Füßen fallen.

Ein Raunen ging durch die Menge und auf Hai Tuns Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Xuan Wus Geste benötigte keine Worte, damit sie jeder Anwesende verstand. Sie war soeben aus dem Bündnis der Kultivatoren ausgetreten.

Wortlos und ohne einen Blick auf Hai Tun oder einen der anderen Kultivatoren zu werfen, trat Xuan Wu die Stufen hinab.

Apio brachte ihr eine Verbeugung entgegen, aber auch bei ihm blieb sie nicht stehen. Sie verließ den Raum mit wehender Robe und hinter ihr fielen die Tore ins Schloss.

Hai Tuns Lächeln war nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Eine Hürde weniger, die er bewältigen musste. Xuan Wu – die Einzige, die ihm so erbittert die Stirn geboten hatte – hatte das sinkende Schiff verlassen.

Apio räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. „Zu meiner Angelegenheit –"

„Hast du es immer noch nicht begriffen, Liu Shijia?", unterbrach Hai Tun ihn. „Niemand hier interessiert sich für deine Worte."

Apio presste die Lippen zusammen und sah ihn für einige Augenblicke schweigsam an, ehe er von neuem ansetzte, zu sprechen. Diesmal nicht, um über Bai Tian zu reden – Hai Tun hatte deutlich gemacht, dass es ihn nicht kümmerte.

„Ich hielt Euch stets für einen ehrlichen Mann, Zhangmen." Das war nicht einmal gelogen. Vor dem Update hatte Hai Tun mit gerechter Hand geführt, jeden unterstützt und jedem seine Freiheiten gelassen, sofern man sich an wenige Regeln hielt: Kein Morden, kein Plündern, keine Angriffe auf andere Sekten. Doch nun hatte es sich geändert. Das System hatte aus diesem edlen Mann einen Verbrecher gemacht.

„Ihr hättet als jemand regieren sollen, der die Wünsche der anderen respektiert, der den Willen eines jeden in sich vereint, der Gerechtigkeit und Gleichberechtigung als höchstes Gut ansieht. Doch ich irrte mich in Euch."

Er war sicher, dass Hai Tun sich für keines seiner Worte interessierte, aber er fuhr trotzdem fort.

„Und ich bin nicht wütend, ich bin enttäuscht – nicht von Euch, sondern von mir. Ich bin enttäuscht von mir, weil ich Eure Absichten nicht auf den ersten Blick erkannte und Euch um Hilfe bat, selbst nachdem ich es hätte besser wissen sollen. Letztlich bleibt mir nichts anderes übrig, als zu sagen: Ich wünsche Euch ein schönes Leben, Zhangmen. Mögen die Götter Euch wohl gesinnt sein und gutmütig auf Euch hinabblicken."

Er brachte die Hände zusammen und verbeugte sich. „Lebt wohl."

Und mit diesen Worten wandte er sich ab. „Lass uns gehen", flüsterte er Hua Li zu und verließ mit ihm gemeinsam den Palast.

So dramatisch wie Xuan Wus Abschied war seiner nicht und er hatte sich auch keinen goldenen Lotus vom Kragen reißen können, aber ein wenig stolz war er trotzdem auf seine Rede ... Obwohl er wusste, dass Hai Tun sie bald wieder vergessen hatte.

Hua Li hinter ihm stieß ein Schnauben aus. „Hast du wirklich gedacht, dass er sich für deine Worte interessieren würde?", fragte er. Die Worte frostig, der Ton so scharf, dass Apio zusammenzuckte. „So naiv zu glauben, dass du etwas ändern könntest, dass du in irgendeiner Form wichtig wärst."

...

Was?

Betont langsam drehte sich Apio um. Derjenige, der diese Worte ausgesprochen hatte, konnte doch nicht Hua Li sein. So etwas würde er doch nie sagen.

Doch diese Person war Hua Li. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Blick von oben herab in Apios gebohrt.

„Ich ...", setzte Apio an. Was sollte er sagen?

Seine Kehle schnürte sich zu, sengende Hitze flammte in seiner Brust auf.

Wie sollte er nur auf die Worte reagieren?

„Das ..." Er konnte nicht mehr als stammeln.

„Das ist so arrogant", fuhr Hua Li fort und ging auf ihn zu, die Schritte langsam gesetzt. Wie ein Raubtier, das sich seiner Beute näherte.

„Ich wollte nie arrogant sein", hauchte Apio und wich zurück. Sein Fuß fand keinen guten Halt, rutschte von der Stufe, auf der er stand, ab.

Blitzschnell schoss Hua Lis Hand hervor und fasste ihn am Handgelenk. Doch die Berührung war nicht sanft und stattdessen schoss Schmerz durch Apios Arm, als würde der Knochen jeden Moment nachgeben und brechen.

„Lass mich los ..." Apio wollte fest und selbstsicher sprechen, doch seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Und da kam es ihm. Ein Gedanke wie ein Blitz.

Qi-Deviation.

Er halluzinierte. Natürlich würde Hua Li solche Worte nie sagen, doch es war eine von Apios Ängsten, die von der dämonischen Energie aufgegriffen und ihm auf diese Art gezeigt wurde.

Er riss sich aus Hua Lis Griff los und schlug gegen die Akupunkturpunkte an seinem Schlüsselbein, die eine Lähmung hervorriefen. Denn wenn dies wirklich eine Qi-Deviation war – und daran zweifelte er nicht – so würde er früher oder später durchdrehen und bevor dies geschah, setzte er sich lieber selbst außer Gefecht.

Sofort gaben seine Knie nach und er wäre zu Boden gefallen, hätte Hua Li ihn nicht aufgefangen.

Er schloss seine Augen, versuchte das Chaos in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen, zu meditieren.

Hua Li hielt ihn nur, wusste nicht genau, was er tun sollte. Wenn er versuchte, Apio um die dämonische Energie zu erleichtern, war die Gefahr groß, dass noch mehr in dessen Körper gelangte.

Nur was konnte er anderes machen?

Eines fiel ihm ein. Eine Person, die Apio helfen könnte.

Und mit diesem Gedanken hob er ihn an und machte sich auf den Weg. Der Körper in seinen Armen zitterte und gleichzeitig standen Schweißperlen auf seiner Stirn. Stumm focht er den Kampf in seinem Inneren.

Hua Li beschleunigte seine Schritte und rannte schließlich. Vorbeiziehende Leute sahen von ihm nicht mehr als einen Schatten und glaubten, es handelte sich nur um eine Täuschung. Seine Füße berührten kaum den Boden und er schien mehr zu fliegen, als zu laufen.

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