Epilog
Ich werde dich retten.
Egal, wie lange es auch dauern wird, ich werde dich finden.
„Stalker", murmelte er.
...
Er konnte murmeln ...?
Und seine Beine schmerzten. Sein Rücken tat weh.
Das war nun so gar nicht, wie er sich das Leben nach dem Tod vorstellte.
Er schlug die Augen auf und fand sich in einem kleinen Raum wieder, der spärlich mit Kerzenlicht erleuchtet war. Die Morgensonne schien orange durch die Fenster und der Horizont färbte sich rot. Alles kam ihm so vertraut vor, aber ... konnte es sein?
Er war nicht endgültig gestorben, so viel stand fest, aber wo war er? Von seiner Hütte aus hatte er stets in einen Wald gesehen, aber bis auf einige vereinzelt verteilte Birken war die Landschaft karg.
Er erhob sich von dem Bett – das ungewöhnlich bequem war – und sah sich im Raum um. Die einzigen Möbelstücke waren eine Kommode, auf der ein Spiegel stand, und ein Beistelltischchen mit einem Räucherstäbchen, von dem weißer Rauch aufstieg.
...
Räucherstäbchen?
Warum Räucherstäbchen?
Er hatte nie Räucherstäbchen bei sich und hatte auch nie den Sinn darin erkannt. Von dem Geruch wurde ihm nach wenigen Minuten übel und sie machten die Luft seltsam dick.
Shulang war der Einzige, den er kannte, der diese seltsame Obsession mit Räucherstäbchen besaß. Aber was sollte er denn bei Shulang machen? Und vor allem in dessen Schlafzimmer?
Er sah an sich hinab ... und hielt inne.
Das war nicht seine Robe ... oder seine Füße ...
Er schluckte. Was zur Hölle? Erlaubte sich irgendwer einen schlechten Scherz? War er doch im Himmel gelandet und da war es Gang und Gebe, einen neuen Körper zu bekommen?
Er durchquerte mit schnellen Schritten den Raum zur Kommode und sah in den Spiegel. Weit aufgerissene dunkle Augen blickten ihm entgegen. Das Gesicht schien kaum älter als dreißig, aber der Haaransatz und einige Strähnen waren bereits grau gefärbt.
Und das Schlimmste an dem Ganzen: Er kannte das Gesicht.
„AH!" Ihm entfuhr ein Aufschrei. „AAAHHH!"
Womit hatte er das verdient? Das konnte doch nicht wahr sein.
„System!", rief er. „SYSTEM! Was soll das? Ist dir eine Leitung durchgebrannt? WAS MACHE ICH IN SHULANGS KÖRPER?!"
Neben ihm öffnete sich das vertraute türkise Display. [Wollen Sie das Tutorial überspringen?]
„MACH DICH NICHT LÄCHERLICH! WAS SOLL DAS HIER?!"
[Hätten Sie gern einen Tee zur Beruhigung?]
Apio, der nun nicht länger ‚Apio' war, holte tief Luft. „Nein, ich will, dass du das hier sofort rückgängig machst. Wenn ich schon nicht zurück in die Realität kann, dann will ich wenigstens in meinen ... in Apios Körper zurück."
[Das ist leider nicht möglich. Beim Laden gingen Ihre Daten verloren und es kam zu kleinen Fehlern. Der Support ist derzeit bemüht, sich um dieses Problem zu kümmern und hofft, dass Sie so lange geduldig sind.]
„Geduldig? GEDULDIG?? ICH WILL MEINEN KÖRPER ZURÜCK!"
[Aber wir haben auch erfreuliche Nachrichten für Sie], fuhr das System fort, ohne auf Apio zu achten. [Es gab beim Ende des letzten Spielstandes Komplikationen durch die H4lcon und R4posa38 entfernt wurden.]
Apio erstarrte. Was hatte das zu bedeuten und was sollten daran gute Neuigkeiten sein? ‚Entfernt' konnte vieles heißen. Waren sie gelöscht worden, als wären sie einfache Figuren?
Apio schüttelte mit dem Kopf. Nein, nein, bestimmt nicht. Er hatte sich umgebracht, um den beiden die Flucht zu ermöglichen.
„Sind sie wieder bei ihren Familien?", fragte er. Dann hatte er alles erreicht, was er mit seinem Selbstmord hatte erreichen wollen.
[Des Weiteren], das System achtete immer noch nicht auf Apio, [gab es ein Datenleck, bei dem Ihre persönlichen Daten an R4posa38 weitergeleitet wurden. Darunter: Ihr Name, Ihre Anschrift, Ihre Telefonnummer, Ihr Beruf, Ihr Passwort, Ihr Nutzername, Ihre Kennnummer, Ihre IP-Adresse und Ihre Lieblingsfarbe. Wir entschuldigen die Unannehmlichkeiten.]
In jedem anderen Augenblick hätte Apio sich auf den Datenschutz berufen und gedroht, eine negative Rezension zu hinterlassen, doch in diesem Moment war es das Beste, was ihm hätte passieren können.
Er erinnerte sich an die Stimme, die er gehört hatte, als er aufgewacht war. Das war Hua Li gewesen. Er wollte ihn finden, ihn retten.
Schritte ertönten in der Eingangshalle des Tempels. Jemand war hier und wer auch immer es war, näherte sich rasant.
„Mist, Mist, Shit, verdammt", fluchte er. Er hatte gehofft, sich einfach in dem Zimmerchen verkriechen zu können bis Hua Li ihn entweder gerettet, oder der Support ihn zurück in Apios Körper geschickt hatte. Aber nun musste er sich mit jemandem auseinandersetzen. Als Shulang. Er musste der Großmeister Bai Tians sein, Mudian schwingen und selbst für seine Ziele einstehen. Kein Verstecken, kein unter der Bettdecke Verkriechen, bis alles vorbei war.
Er durfte keine Emotionalität zeigen und musste jedem mit stoischer Miene begegnen, immer unfreundlich sein und stets eine gewisse Arroganz an den Tag legen.
Und an all diese Dinge hielt er sich so gar nicht, als die Gestalt im Türrahmen auftauchte. Ihm entfuhr ein Aufschrei und er machte einen Satz nach hinten.
Es war, als würde ein Klon vor ihm stehen. Nur, dass er nicht mehr er war, sondern Shulang und daher Apio wieder Apio.
Die Frage, die er sich nun stellte, war aber: Wenn er Shulang war und Apio wieder Apio, was war dann mit Shulang geschehen?
Ihm rauchte der Kopf, wenn er versuchte, darüber nachzudenken.
Apio, der vor ihm stand, hob eine Augenbraue und verschränkte die Hände hinter seinem Rücken. Das Verhalten passte so gar nicht zu der Apio-Figur, sondern eher zu ...
„Shidi", sagte die Gestalt und damit wusste Apio: Vor ihm stand nicht die Apio-Figur.
„AH!" Apio sprang noch einen Schritt zurück. „System, was hat das zu bedeuten?" Apio war in Shulangs Körper gelangt und Shulang in Apios. „Wie ist das möglich?" Shulang war doch eine Figur gewesen. Wie hatte er Körper wechseln können?
„Mit wem sprichst du, Shidi?", fragte Shulang.
Er hörte ihn? Er sollte ihn nicht hören können, wenn er mit dem System sprach?
Apio räusperte sich und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. „Nur ... nur um sicherzugehen. Du bist Shulang, mein Shixiong, richtig?"
Shulang nickte. „Als ich heute früh aufgewacht bin, habe ich diese ..." Er brach ab, legte sich kurz Worte zurecht, die sein Gegenüber nicht beleidigten und fuhr fort mit: „... habe ich diesen Umstand bemerkt."
Apio musterte ihn von oben bis unten. „Erinnerst du ... du dich an das, was gestern geschehen ist."
„Natürlich." Shulang schnaubte. „Ich ..." Er ließ den Satz offen und schloss seinen Mund wieder. Er sah auf seine Hände, dann wieder zu Apio und legte den Kopf schief. „Da war ein Kampf. Ich habe getötet, du hast getötet und ..."
Shit. Er erinnert sich an Dinge, die für ihn gar nicht stattgefunden haben sollten.
Das hatte das System also mit ‚kleine Fehler' beim Laden des Spielstandes gemeint. Diesmal spielte es ihm keinen Streich und wollte ihn einfach nur leiden sehen, nein, es gab echte Komplikationen.
Wäre er nur in Shulangs Körper gelangt, okay. Aber Shulang hatte es auch beeinflusst.
Er erinnerte sich an den letzten Spielstand – etwas, das für ihn nicht stattgefunden haben sollte.
Er bemerkte, wenn Apio mit dem System sprach – etwas, das er nicht können sollte.
Er hatte ein zumindest grobes Verständnis dafür, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Und dieses Verständnis sollte er nicht besitzen. Er war doch nur eine Figur, eine besonders unfreundliche Ansammlung aus Einsen und Nullen.
Aber nun befand er sich im Kreuzfeuer zwischen Spielern, Systemen, fremden Welten und anderen Realitäten. Wenn er nun schon erkannte, dass etwas nicht stimmte, wie lange würde es dauern, bis er herausfand, dass er nicht real war?
Apio schickte ein stummes Gebet gen Himmel, nur betete er zu keinem Gott, sondern zu dem System.
System, bitte hole mich schnell hier raus. Ich werde dich auch nie wieder anschreien oder beleidigen oder schlecht hinter deinem Rücken reden.
Nur leider erhörte das System ihn nicht. Wie so oft blieb es stumm und überließ Apio seinem Schicksal.
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