Die Ruhe vor dem Sturm I

Shan Shui war schon von weitem zu sehen. Die Wasserfälle stürzten an felsigen Wänden hinab und glitzerten im Licht der Sonne. Obwohl die Sekte inmitten von Bergen lag, tat dies der Vegetation keinen Abbruch. Dichte Wälder zogen sich um die Felsen, Blumen, Gräser und Moose sprossen am Wegesrand.

Die Häuser in Shan Shui waren aus weißem Stein gefertigt und Bändchen und Wimpel in Violett tanzten im Wind.

Überall eilten Schülerinnen durch die Straßen. Jede hatte eine Aufgabe – übte Schwertkampf, meditierte, führte Botengänge aus – und jede war in die charakteristische violette Robe gehüllt.

Eine von ihnen kam auf die Gruppe zu und verbeugte sich vor den Ankömmlingen.

„Xuan-Zongzhu erwartet Euch bereits", sprach sie und deutete ihnen mit einer Handbewegung an, ihr zu folgen. Die Botin verabschiedete sich derweil und verschwand in der Menge an Hütten und Bäumen.

Die Schülerin führte sie an unzähligen Häusern vorbei, über mehrere Brücken – bei denen Apio unwillkürlich an Bai Tian dachte –, ehe sie vor einem kleinen Pavillon zum Stehen kam.

Dort wartete Xuan Wu. Sie saß an einem runden Tisch, eine Tasse Tee in der Hand und drei weitere standen noch vor ihr.

Als sie den Klang der Schritte hörte, sah sie auf. „Ah, meine werten Gäste. Wie schön, dass Ihr die Reise hierher auf Euch genommen habt. Ich hoffe, sie war nicht allzu beschwerlich."

Mit einer Handbewegung schickte sie das Mädchen fort und lud danach die Ankömmlinge ein, bei ihr Platz zu nehmen.

„Keinesfalls", ergriff Shulang das Wort. Er kam ihrer Bitte nach und setzte sich. „Es ist uns eine Freude, dass Ihr uns eingeladen habt."

Oho, er kann also auch freundlich sein. Bevor Apio noch mehr Shulang-Feindliches denken konnte, ließ er sich ebenfalls auf einem der Stühle nieder.

Nur Hua Li blieb stehen und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen eine Säule des Pavillons.

„Der junge Herr begleitet Euch noch immer, wie ich sehe, Liu-Shixiong", sagte Xuan Wu. „Ihr pflegt eine interessante Gesellschaft. Einige Kultivatoren könnten es als Hochverrat ansehen." Ihr Blick schweifte kurz zu Shulang und dann wieder zurück zu Apio. „Aber Ihr scheint Euch sehr wohl zu fühlen."

Apio winkte ab. „Ich denke nicht, dass wir hier sind, um uns darüber zu unterhalten, zu wem ich Kontakte pflege."

„Ich denke, es gehört durchaus zum Thema", griff Shulang ein. „Es hinterlässt bei niemandem einen guten Eindruck, wenn dir ständig ein Dämon folgt. Wie ..." Er machte eine kurze Pause.

„... ein ..."

Apio ahnte Schreckliches.

„... Hund."

Etwas Silbernes blitzte in Apios Augenwinkel auf und raste auf Shulang zu, wurde jedoch aufgehalten, ehe es den Großmeister verletzen konnte.

Mudian hatte sich gezückt und hielt Hua Lis Dolch auf.

„Da zeigt er nun also sein wahres Gesicht", sagte Shulang und konnte nicht verhindern, dass seine Mundwinkel zuckten.

Hong-er schlug von einer anderen Seite zu, aber wieder parierte Mudian.

Diesmal aber erhob sich Shulang und ballte die Hand zur Faust. Apio sah blaue Blitze, die um dessen Arm herum knisterten.

„Shi—", setzte Apio an, doch ehe er zu Ende sprechen konnte, schnellte Shulang schon nach vorne und öffnete die Hand. Er wollte sie Hua Li gegen die Brust schmettern, aber der Dämon wich aus.

Shulang traf nur den Pfeiler, an den sich Hua Li nur einen Wimpernschlag zuvor noch gelehnt hatte.

Der Pavillon bebte. Apio sah an die Decke, erwartete schon, dass er aufspringen müsste, um nicht unter dem Dach begraben zu werden. Doch das Holz hielt.

Xuan Wu schob ihm eine Tasse zu und wirkte, als zwang sie sich mit aller Macht, ein Augenrollen zurückzuhalten. „Sorgt Euch nicht, Shixiong", sagte sie. „Ihnen wird schon nichts geschehen."

Das war einfach gesagt, aber die Tatsache, dass die beiden in den wenigen Sekunden schon Dutzende Schläge ausgetauscht hatten, legte nahe, dass sich einer der beiden – wenn nicht gar beide – bei diesem Kampf ernsthaft verletzen könnten.

Und trotzdem wandte sich Apio von den Kämpfenden ab. Sie würden sich schon nicht umbringen.

„Verzeiht die Unannehmlichkeiten", entschuldigte sich Apio. „Die beiden mögen sich nicht besonders."

„Ist mir nicht aufgefallen."

Apio hielt ein Lächeln zurück. Er hatte nie zuvor einen wirklichen Kontakt zu Xuan Wu gepflegt, doch ihm kam die leise Ahnung, dass sie sich gut verstehen würden.

„Weshalb wolltet Ihr, dass wir hierher kommen?", fragte er und griff nach einer der Tassen. Wenn schon Shulang anderweitig beschäftigt war, konnte sich zumindest Apio um den eigentlichen Grund des Treffens kümmern.

Im Hintergrund ertönte das Geräusch von Klingen, die aufeinander trafen. Dumpfes Poltern, elektrische Schläge. Apio wollte sich gerade umdrehen, um sicherzugehen, dass Hua Li und Shulang sich noch nicht die Köpfe eingeschlagen hatten, aber da ergriff Xuan Wu das Wort und lenkte Apios Aufmerksamkeit auf sich.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass jemand Hai Tun Einhalt gebietet", sagte sie. „Er herrscht schon seit Jahren mit ungerechter Hand."

„Ich dachte mir bereits, dass dies das Thema hier ist", sagte Apio. „Ihr habt schon lange Schwierigkeiten mit ihm, so wie ich es verstanden habe. Ich stehe dabei vollkommen auf Eurer Seite, nur scheint es mir zu utopisch, zu glauben, man könnte einen Umsturz herbeiführen. Es liegt nicht allein an Hai Tun, sondern auch an den anderen Kultivatoren. Die Großmeister gaben ihm seine Macht und er folgt ihren Interessen. Wir sind zu wenige, um etwas ausrichten zu können"

„Da habt Ihr recht", sagte Xuan Wu. „Und deshalb bat ich um Hua Lis Anwesenheit." Sie machte eine Handbewegung und der Pavillon bebte.

Kurz war Apio verwirrt, was geschehen war. Er drehte sich um und sah, dass sie eine Barriere errichtet hatte, gegen die Hua Li geschleudert wurde. Der Dämon richtete sich wieder auf, schüttelte den Schmerz ab und stürzte sich auf Shulang.

„Ich denke, dass er ein guter Verbündeter sein kann, sofern er sein Temperament zügeln kann", fuhr Xuan Wu fort, ohne weiter auf die Kämpfenden zu achten. „Die Dämonen haben schon vor ewigen Zeiten den Gleichstand zwischen Männern und Frauen beschlossen; einer der Gründe, weshalb Hai Tun so hartnäckig versucht, ihnen alles Böse dieser Welt anzuhängen. Und Hua Li ist machtvoll. Er tötete Jun Renyi und hat sich damit einen Namen unter den Dämonen gemacht. Sicherlich wird es viele geben, die ihm gern folgen würden."

Xuan Wus Blick richtete sich kurz auf die beiden Gestalten, die immer noch miteinander kämpften, und Apio konnte seine Neugierde nicht zurückhalten und drehte sich um.

Mittlerweile hatte sich eine kleine Traube aus Schülerinnen um sie herum gebildet. Jede trug eine unterschiedliche Miene. Mal war es Faszination, denn nicht häufig sah man einen solchen Kampf; Sorge, denn es war deutlich, dass der Sieger nicht durch den ersten Treffer entschieden war; bis hin zu Missmut und einige rollten sogar mit den Augen.

Und Apio konnte es ihnen nicht verdenken. Shulang und Hua Li verhielten sich wie Kleinkinder.

„Sollten wir nicht vielleicht doch ...?" Apio ließ die Frage offen und deutete nur auf den Kampf.

„Wenn Ihr dadurch Euer Gewissen beruhigen möchtet", sagte Xuan Wu.

Apio nickte ihr zu. „Vielen Dank", sagte er und sprang auf. Er quetschte sich zwischen den Zuschauern hindurch und hastete direkt zwischen die beiden Kämpfenden.

„Das reicht jetzt!", rief er. Qiufeng zog sich und wehrte Mudian ab, das fehlgeleitet auf Apio zugerast war.

Sofort ließ Mudian von dem Angriff ab und begann zu zittern. Für gewöhnlich hätte Apio automatisch geglaubt, dass es aus Mordlust wäre, doch diesmal konnte er nicht anders, als zu denken: Will es sich entschuldigen?

„Schon gut", meinte er und tätschelte vorsichtig den Griff des Schwertes. „Mir ist ja nichts geschehen."

Shulang beobachtete die Szene nur wenige Augenblicke lang, ehe er sagte: „Shidi, lass mein Schwert in Ruhe."

Apio zuckte zusammen. Er kam sofort der Bitte nach und ließ seine Hand sinken, ehe er sich räusperte. „Wir sind hier, um mit Xuan-Zongzhu zu sprechen", sagte er in einem möglichst tadelnden Ton, der jedoch eher nüchtern als tadelnd klang. Mit ‚nüchtern' gab er sich aber auch zufrieden.

„Diese Fehde kann zumindest so lange ruhen, bis wir die Sache hier geregelt haben. Okay?" Er sah erst zu Shulang, der daraufhin ein Schnauben ausstieß, und dann zu Hua Li, der die Lippen zusammenpresste und zu seinen Stiefeln sah.

Wie kleine Kinder.

„Gut", sagte Apio. „Dann haben wir das jetzt geklärt und können uns wieder um wichtigere Dinge kümmern."

Er schlug die Ärmel zurück und wandte sich um. Xuan Wu war mittlerweile ebenfalls an den Rand des Kreises aus Schaulustigen getreten und betrachtete Apio mit einer Mischung aus Anerkennung und Erheiterung.

Apio ging zu ihr – sie hatten schließlich Dinge zu besprechen. Bei ihr angekommen rollte er mit den Augen und flüsterte: „Männer."

Sie lachte leise. Etwas, das ihrem Rang völlig unpassend erschien, Apio aber ein Lächeln ins Gesicht zauberte. „Wo Ihr recht habt, Shixiong", sagte sie.

Ein Räuspern ließ Apio zusammenfahren und er machte einen Satz zur Seite. Shulang war aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht, obwohl Apio gedacht hatte, er wäre noch damit beschäftigt, Hua Li missgünstige Blicke zuzuwerfen.

„Du hast mich gehört?", fragte Apio und zog den Kopf ein.

„Habe ich", meinte Shulang und warf nun ihm und nicht länger dem Dämon die vernichtenden Blicke zu.

Apio zog den Kopf noch weiter ein wie eine Schildkröte, die sich in ihrem Panzer versteckte. Nur besaß Apio keinen Panzer und konnte sich daher auch nicht verstecken.

Hua Li folgte in einigen Schritten Entfernung und blieb wieder außerhalb des Pavillons stehen. Erst als Apio ihn mit einer Handbewegung einlud, trat er ein und setzte sich an den Tisch.

Und Apio ... Apio bereute schon, ihn eingeladen zu haben. Shulang saß rechts von ihm, Hua Li links und beide fochten bereits jetzt stumme Blickduelle über Apios Kopf aus. Apio machte sich kleiner, um nicht von fehlgeleiteten Geschossen getroffen zu werden.

Xuan Wu räusperte sich, um die Aufmerksamkeit zu sich zu holen. „Die Lage lässt sich recht simpel zusammenfassen", sagte sie. „Hai Tun hält schon seit Jahren Frauen von der Kultivierungswelt fern und daran sollte sich langsam etwas ändern."

„Sicher", sagte Shulang. „Was schlagt Ihr vor? Ich versuchte schon vor Jahren Hai Tun auf diplomatischem Wege zu überzeugen, aber er hörte mich nie an. Ich vermute, Ihr hattet ähnlich wenig Erfolg, Shimei?"

Xuan Wu nickte.

„Ein Umsturz scheint mir jedoch zu utopisch."

Apio warf ihm einen Blick von der Seite zu. Das war exakt das, was er Xuan Wu auch gesagt hatte.

„Wir sind zu wenige, um wirklich etwas ausrichten zu können."

Nun ergriff Apio das Wort. „Genau das waren auch meine Worte, Shixiong. Hättest du dir mit meinem Gast nicht die Köpfe eingeschlagen, hättest du es auch gewusst."

„Die Köpfe eingeschlagen?", fragte Shulang und hob eine Augenbraue. „Er hat doch angefangen."

„Unwichtig", unterbrach Xuan Wu die beiden. „Ja, es ist ein utopischer Gedanke, doch wir sind nicht so wenige, wie Ihr vielleicht glaubt. Shan Shui ist in den letzten Jahren gewachsen, wie Ihr sehen könnt, und wir haben Verbündete gesammelt. Wenn nicht jemand anfängt, dann wird sich nie etwas ändern."

Shulang nickte langsam. „Habt Ihr ihn", er deutete mit dem Kopf auf Hua Li, „deshalb eingeladen? Ihr wollt Euch mit ihm verbünden?"

„Genau", sagte Xuan Wu. „Wir haben keinen Ruf mehr, den wir verlieren könnten. Ein Bündnis mit den Dämonen kann uns nicht mehr schaden. Vorausgesetzt Ihr", diesmal richtete sie ihre Worte an Hua Li, „möchtet uns helfen, Gongzi."

Shulang warf Hua Li einen Blick zu und Hua Li verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hätte sicherlich die Mittel, Euch zu unterstützen", sagte er. „Jiaoji ist gut gerüstet und ich besitze eine treue Anhängerschaft. Nur gebt Ihr mir keinen Grund, Euch zu helfen. Die Fehden der Kultivatoren interessieren mich nicht."

Apio hielt sich zurück, Hua Li nicht entgeistert anzuschauen. Er hatte erwartet, dass sie, da Hua Li ihn so lange schon begleitete und unterstützte, auf demselben Weg gingen und dieselben Ziele hatten. Doch nun traf ihn die Realität.

Hua Li begleitete ihn weder auf seinem Pfad, noch hatte er das Ziel vor Augen, das Apio erlangen wollte. Er unterstützte zwar Apio, aber, wie er gemeint hatte: Die Kultivatoren interessierten ihn nicht.

„Ich bin mir sicher, wir finden eine Übereinkunft, wenn Euch schon die Vorstellung einer besseren Zukunft nicht reizt", sagte Xuan Wu, die offenbar Hua Lis Reaktion erwartet hatte.

„Ihr liegt falsch", sagte Hua Li. „Eine bessere Zukunft reizt mich schon, nur weiß ich, wie die Bündnisse zwischen Kultivatoren und Dämonen bisher immer ausgegangen sind. Wir sind gut genug, um Euch im Kampf zu unterstützen, aber sobald der Krieg vorbei ist und Frieden einkehrt, werden wir wieder in unser Reich verbannt und zu den Bösen ernannt. Wer garantiert mir, dass es diesmal anders wird?"

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