Die Heimat in Trümmern II
Bai Tian lag am Rande des Gebietes, über das Hai Tun herrschte. Eine Sekte, die von den meisten weltlichen Angelegenheiten abgeschnitten war und in der sich Schüler und Lehrer zurückziehen konnten, um in Abgeschiedenheit ihr Qi zu kultivieren.
Zumindest war dies bis vor kurzem so, doch als Apio und Hua Li am folgenden Tag dort ankamen, erkannten sie nichts mehr von dem Frieden, für den Bai Tian einst bekannt gewesen war.
Die Sekte befand sich in einem kläglichen Zustand. Die Tore waren weit aufgebrochen, die Mauern eingerissen, Hütten zu Schutt zerfallen und über allem schwebte eine düstere Wolke, die den Geruch von Tod und Verwesung trug.
Niemand hatte sich die Mühe gemacht, die Toten zu finden und zu begraben. Der oberste Kultivator würde auch keine Hilfe schicken, das hatte er deutlich gemacht. Apio konnte nur hoffen, dass Shulang mehr Erfolg hatte, Hai Tun von den Geschehnissen zu unterrichten.
„Willst du reingehen?", fragte Hua Li.
„Ja, klar", murmelte Apio. „Gib mir nur noch einen kurzen Moment." Er holte Luft, doch nur der schwere Rauch gelangte in seine Lungen. Er hustete.
Hua Li klopfte ihm sanft auf den Rücken und hörte auf eine Handbewegung Apios hin auf.
Apio straffte die Schultern und blickte der Sekte entgegen. Eine seichte Furche entstand zwischen seinen Augenbrauen und Blässe sammelte sich um seine Nase.
„Lass uns schauen, was wir dort finden", sagte er und ging voran. Er strich mit der Hand über den Torbogen und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Staub und Schmutz und ein dunkelrotes Pulver, das er als getrocknetes Blut erkannte.
Was hatte er auch erwartet?
Dass alles wieder gut wäre, sobald er zurück war? Dass Makiro wieder am Leben wäre und der Plot seinen gewohnten Weg gehen würde?
Nein, natürlich war es nicht so einfach und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde ihm bewusst, wie töricht dieser Gedanke war.
Die Leichen im Inneren waren schon von der Verwesung ergriffen. Raben und Krähen saßen auf den Körpern und auch Insekten labten sich an dem toten Fleisch.
Apio presste die Lippen zusammen. Er erwartete, dass Übelkeit einsetzen, er sich vielleicht sogar übergeben würde. Dass sich ihm der Magen umdrehen und er sich abwenden müsste. Dass er vielleicht auch weinen würde.
Doch nichts dergleichen geschah. Er starrte nur auf die Leichen und flüsterte: „Hilfst du mir, sie zu begraben?"
Wenn sich Hai Tun schon nicht für die Toten interessierte, dann tat zumindest er es. Er kannte kaum die Hälfte der Menschen, die in der Sekte gelebt hatten, wusste nicht, zu welchen Familien sie gehörten, hatte teilweise nicht einmal ein Wort mit ihnen gewechselt. Ihren Familien konnte er nicht von dem Verlust berichten oder die Toten zu ihren Vertrauten bringen. Er konnte nichts tun, außer sie zu begraben.
Und beinahe wäre auch er einer von ihnen gewesen.
„Du willst sie begraben?", fragte Hua Li. „Das wird doch Stunden dauern. Vielleicht den ganzen Tag."
„Hilfst du mir?", wiederholte Apio. „Du brauchst nicht, wenn du nicht möchtest. Aber ich werde es so oder so machen."
Kurz schwieg Hua Li, meinte aber dann: „Keine Sorge, ich helfe dir."
Apio nickte. „Danke. Hier in der Nähe ist eine Lichtung. Dort wird genug Platz sein. Ich muss nur vorher noch etwas überprüfen." Er hatte nicht vergessen, dass er bei dem Angriff Kinder gefunden und zu seiner Hütte geschickt hatte.
„Zeigst du mir die Lichtung? Dann fange ich schon mal an, die Leichen dorthin zu bringen."
Apio nickte.
Hua Li hob den ersten Körper an. Ein junger Mann von vielleicht siebzehn Jahren. Die meisten Toten hatten das Erwachsenenalter noch nicht erreicht und die Ausbildung noch nicht abgeschlossen. Deshalb waren sie schließlich der Sekte beigetreten; um in einem sicheren Umfeld unter der Aufsicht und dem Schutz der Kultivatoren zu lernen. Ohne Angst, dass sie eine Aufgabe bekamen, bei der sie sterben könnten und mit der Gewissheit, dass die Mentoren stets in der Nähe waren, sollte es doch einmal brenzlig werden.
Nur hatte es nichts genützt. Es hatte alles nichts genützt.
Apio selbst nahm ebenfalls einen Körper auf. Die dämonische Energie, die noch am Vortag in ihm zirkuliert war, hatte sich mittlerweile aus ihm zurückgezogen, aber sein Qi floss noch immer nicht ungehindert.
Daher spürte er das Gewicht uneingeschränkt auf seinen Schultern. Irgendwas in dem Körper des Jungen knirschte, knackte und bewegte sich auf eine Art, dass Apio wusste, er hatte irgendetwas in dessen Inneren zerstört.
Hatte er nicht ständig nur alles verschlimmert?
Hatte er nicht Hua Li die Tür geöffnet und hatte der Angreifer nicht diesen Moment der Unaufmerksamkeit genutzt, um hineinzugelangen?
War es nicht alles seine Schuld?
Er schluckte. „Folge mir", flüsterte er. Seine Stimme verschwand hinter dem rauschenden Blut in seinen Ohren.
Er führte Hua Li auf den kleinen Trampelpfad zu der Lichtung, auf der Apios Hütte stand. Es war, als hätte der Kampf dort nie stattgefunden, als wäre dort die Zeit stehengeblieben. Sanfter Nebel lag über der Wiese, die Sonne ließ ihn silbern schimmern. Sogar die Übungspuppe, die Apio am Rumpf gespalten hatte, lag immer noch im Gras.
Dort legte er die Leiche ab und betrat sein ehemaliges Zuhause. Im Inneren war es ruhig und leer. Der Staub hatte sich wie ein Schleier über Boden und Möbel gelegt und färbte das Bild vor seinen Augen grau.
Sein Blick schweifte zu dem Regal, in dem er stets Qiufeng aufbewahrt hatte, doch wie er erwartet hatte, war die Halterung leer.
Er trat einen Schritt in die Hütte, wirbelte den Staub auf. Im Licht der Sonne tanzte er durch den Raum und legte sich langsam wieder.
Apio schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er war nicht hier, um dem Staub zuzuschauen oder der Vergangenheit hinterher zu trauern, sondern um die Kinder zu suchen. Und hier im Inneren waren sie nicht.
Er verließ die Hütte wieder. Hua Li brachte gerade eine zweite Leiche und blickte kurz zu ihm, ehe er sich wieder abwandte, um seiner Aufgabe nachzugehen.
Apio umrundete seine Hütte, durchsuchte jedes Schlupfloch, jeden Schuppen, aber die Kinder fand er nicht und gab die Suche nach ihnen letztlich auf. Vermutlich hatten sie auf ihn gehört und waren geflohen.
Hoffentlich ...
Und hoffentlich hatten sie dabei auch überlebt. Es wäre nicht das erste Mal, dass er einen schlechten Ratschlag gegeben hatte. Doch das lag nicht mehr in seiner Macht.
Statt der Kinder fand er eine Schaufel in einem Schuppen. Sie hatte sicherlich schon bessere Tage gesehen, aber sie würde ausreichen, um Gräber auszuheben.
Eine Bahre fand er jedoch nicht. Es hätte den Transport der Leichen ungemein erleichtert, doch Hua Li stellte sich als ebenso praktisch heraus. In den wenigen Minuten die Apio fort gewesen war, hatte der Dämon bereits einige Tote herangetragen. Und viele weitere folgten noch.
Sobald Apio und Hua Li unten fertig waren, wartete an der Spitze des Berges noch mindestens eine Leiche auf sie, die bestattet werden musste.
Makiro.
Dass Apio jemals den leblosen Körper des unsterblichen Protagonisten sehen würde, hätte er niemals gedacht.
Stumm machte er sich daran, die Gräber auszuheben, während Hua Li weitere Leichen herantrug. Als er damit fertig war, nahm er Apio die Schaufel ab und gönnte ihm eine kurze Pause.
So wechselten sie sich ab, bis sich die Sonne dem Untergang neigte und die Baumwipfel in ihrem orangen Schein erhellte. Der Himmel färbte sich rötlich und die Wolken nahmen ein dunkles Violett an.
Apio seufzte leise und wischte sich mit dem Ärmel Schweiß von der Stirn. Sie hatten beinahe die gesamte Lichtung umgraben müssen, aber letztlich hatte der Platz ausgereicht.
„Oben auf dem Berg sind noch mehr", sagte Apio. Seine Stimme war kratzig. Die letzten Stunden hatte er nicht gesprochen, nichts gegessen, nichts getrunken und das hörte man in dem Klang.
Hua Li nickte nur und folgte ihm durch die ausgestorbenen Straßen, an den abgebrannten Häusern vorbei. Die kleinen Brücken waren eingestürzt, sodass sie über die Bäche springen mussten.
Die Treppe, die zu Shulangs Tempel führte, hatte hingegen kaum einen Schaden davongetragen.
Wortlos stieg Apio die Stufen hoch und während er schon nach wenigen Minuten bemerkte, weshalb er Treppen so hasste, gab der Dämon keinen Ton des Missfallens von sich.
Die Tempel lagen in Trümmern, denn bisher hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie wieder aufzubauen. Große Steinblöcke waren über den gesamten Platz verteilt und hatten jede Schönheit, die hier einst geherrscht hatte, zerstört.
Apio stieß einen Seufzer aus. Wie hatte Hai Tun ihm nur nicht glauben können? Wie konnte Hai Tun es einfach ignorieren?
„Meintest du nicht, hier wäre noch jemand?", riss Hua Li ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, da ist –" Apio brach ab, als er in die Richtung deutete, in der Makiro liegen müsste.
Doch der Protagonist war verschwunden.
Apio runzelte die Stirn. „Er sollte genau dort liegen." Blutige Flecken, die der Staub überlagerte, waren noch zurückgeblieben, doch die Leiche war fort.
Er eilte zu der Stelle, sah sich um und fand sie aber nicht. Dunkelrote Schleifspuren führten über den Platz und in den Wald, wurden dort jedoch von dem erdigen Boden verschluckt.
Ohne nachzudenken, lief Apio in den Wald und Hua Li folgte ihm wortlos. Gemeinsam suchten sie für etwa eine halbe Stunde und gaben es dann auf.
„Er ist nicht mehr hier", murmelte Apio und schüttelte den Kopf. „Er ... er ist fort." Aber wer sollte die Leiche mitgenommen haben? Was wollte dieser jemand überhaupt mit ihr?
Hua Li trat an ihn heran und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Erst jetzt bemerkte Apio, dass er fror und zitterte. Sein Herz schlug panisch in seiner Brust und entspannte sich bei der Berührung ein wenig.
„Es wird schon dunkel", sagte Hua Li. „Vielleicht sollten wir morgen weitermachen. Und dann können wir auch dein Schwert suchen."
Apio nickte nur geistesabwesend. Es war das Klügste, das wusste er, und doch fiel es ihm schwer, unverrichteter Dinge die Treppe wieder hinunterzusteigen.
„Wir können in meiner Hütte unterkommen", murmelte er und wollte schon losgehen, aber Hua Li hielt ihn am Arm zurück.
„Bist du sicher?", fragte er. Im Halbdunkeln blitzte etwas in den dunklen Augen auf, das Apio als eine Mischung aus Angst und Neugier erkannte. „Mit den Gräbern auf der Lichtung?"
Apio zuckte mit den Schultern. „Die Toten sind Kultivatoren. Sie können nicht wiederauferstehen."
„Wie du meinst", murmelte Hua Li.
„Du glaubst was anderes?"
„Nicht wirklich. Ich denke nur, dass es hier nicht sicher ist. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir in Schwierigkeiten geraten könnten, wenn wir hierbleiben. Wir wissen nicht, wer Bai Tian angegriffen hat und ob er vielleicht zurückkehren wird. Da scheint es mir gefährlich zu sein, hier zu bleiben."
Apio nickte. „Da hast du recht. Ein paar Minuten von hier entfernt ist eine Stadt. Da können wir die Nacht verbringen."
„Das klingt schon besser."
„Aber besser ist nicht gut ...?", fragte Apio, setzte sich aber bereits in Bewegung. Sie sollten sich eine Schlafmöglichkeit gesucht haben, solange das Licht der Dämmerung ihnen noch den Weg wies.
„Ich bleibe am liebsten in meinen eigenen vier Wänden", antwortete Hua Li. „Aber mach dir um mich keine Gedanken. Ich komme schon zurecht."
„Verstehe", murmelte Apio. Er selbst blieb auch am liebsten Zuhause ... wo auch immer dieses Zuhause nun sein sollte. In der Realität hatte er schon so lange nicht mehr gelebt, dass er sich kaum erinnern konnte, wie es dort aussah.
Je länger er darüber nachdachte, desto mehr Bilder blitzten auf. Helle Lichttafeln, die irgendetwas anwarben, für das sich niemand interessierte. Die Städte waren laut und geschäftig. Niemand kam je zur Ruhe und Natur sah man nur in künstlich angelegten Parks, in einer virtuellen Welt – wie in dieser, in der sich Apio zurückgezogen hatte – oder aber in den Außenbezirken. Einer der Gründe, weshalb Apio die Stadt verlassen und sich ein ruhiges Fleckchen in einem kleinen Dörfchen gesucht hatte.
Er stieß einen leisen Seufzer aus, als er bemerkte, dass er die Realität nicht vermisste. Nicht einmal, obwohl er hier gefangen war. Wenn er jemals in seine Welt zurückkehrte, gab es tausende Fragen, mit denen er sich befassen müsste.
Wie viel Zeit war vergangen? Hatte man ihn schon längst gefeuert, weil er seit Wochen nicht mehr bei seinem Job aufgetaucht war? Wurde er vielleicht gefunden, ins Krankenhaus gebracht und an die Notversorgung angeschlossen oder war er schon lange verhungert?
Und vor allem: Wie ging es seiner Katze?
Er schüttelte den Kopf. Um sie musste er sich keine Gedanken machen. Sie hatte sicherlich jemanden gefunden, der sie versorgte.
„Du wirkst aufgewühlt", sagte Hua Li. Die Mauern Bai Tians hatten sie hinter sich gelassen.
„Ein bisschen", antwortete Apio. „Aber mach dir keine Gedanken um mich. Ich muss nur ein bisschen nachdenken und ... weiter nachdenken."
„Dann möchtest du nicht darüber sprechen?"
Apio schüttelte den Kopf.
„In Ordnung", murmelte Hua Li und hakte nicht weiter nach.
Auf dem restlichen Weg schwiegen sie und keine halbe Stunde später passierten sie die Tore der Stadt. Nur wenige Menschen bewegten sich noch auf den Straßen und diese auf dem Weg in ihre Häuser. Die Dunkelheit hatte nun schon vollends die Welt eingehüllt und nur tanzende Lichtflecken – Lampen am Wegesrand – erhellten die Straße. Silberne Tupfer spickten den Nachthimmel und der Mond zeigte sich in einer schmalen Sichel.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top