Der Weg zum Glück III

Vor Apio gabelte sich der Weg. Ein Pfad führte nach rechts und in seinen sicheren Tod. Einmal war er ihn gegangen, ungünstig gestolpert und die Schlucht herabgestürzt.

Er folgte dem anderen Weg und ging tiefer in das Wäldchen, um den Schuppen und damit auch seinen größten Feind im Tutorial – neben den Treppen versteht sich – zu finden.

Auf einer Lichtung fand er die kleine Hütte, aus der er die Gießkanne holen sollte. Nur ein Stockwerk hoch, mehrere Löcher zogen sich durch das Holz und erweckten den Eindruck, als könnte sie jeden Augenblick zusammenbrechen.

Und genau das war seine größte Angst. Er holte tief Luft und trat an den Eingang heran. Die Anfangsquest hatte er schon so oft abschließen müssen, dass er sie auswendig kannte, aber die Angst war er nie losgeworden.

Anstatt sich weitere Schauerszenarien auszumalen, schob er die Tür auf. Er hob den Fuß über einen niedrigen Absatz und betrat das Innere. Das Licht von draußen schien zwar durch die Löcher im Holz und durch die Öffnung der Tür, doch es reichte kaum, um den Raum zu beleuchten. Nur die Staubkörner, die durch den Luftzug in die Höhe geschleudert wurden, und die Spinnenweben, in denen die Spinnen Schutz suchten, als Apio eintrat, erstrahlten in Weiß.

In jeder der dunklen Ecken hielten sich Gefahren verborgen, die nur darauf warteten, hervorzuschnellen, falls er einen falschen Schritt machen sollte. Und ganz hinten, hinter all dem Gerümpel, den herausgebrochenen Dielen und den Stolpersteinen, blitzte es silbern auf. Die Gießkanne.

Noch einmal holte Apio tief Luft und ging los.

Ein verräterisches Knarzen ließ ihn einen Sprung zur Seite machen, ehe das Regal links von ihm in sich zusammenbrach. Der Inhalt schepperte, als er auf dem Boden aufkam. Farbe, Schrauben und diverse Werkzeuge verteilten sich auf dem Boden.

Wäre er nicht zur Seite gesprungen, hätten die Gerätschaften ihn ins Stolpern gebracht und er wäre von der Mistgabel aufgespießt worden, die aus welchen Gründen auch immer mit der Spitze nach oben stand und durch Fügungen des Schicksals – oder eher des Systems – genau in seine Richtung gekippt wäre. Und ja, er wusste es nur, weil es ihm schon passiert war.

Er wich einer morschen Diele aus, die eingebrochen wäre, hätte er einen Fuß auf sie gesetzt. Dann wäre er hier gefangen gewesen und langsam und qualvoll verhungert, denn Shulang hätte ihn schon lange vergessen. Schließlich war er ihm nicht wichtig und an die Blumen würde er sich auch frühestens in zwei Monaten wieder erinnern.

Aber Apio kannte all diese Fallen und ging ihnen aus dem Weg. Ob es nun die Säge war, die von der Halterung herunterkrachte und ihm nahezu den Kopf von den Schultern trennte oder das Loch, das die gesamte Hütte zum Einstürzen gebracht hätte. Jedem Hindernis wich er aus und gelangte ohne einen Kratzer zur Gießkanne.

Rost zog sich durch das Metall und färbte es rötlich. Und über das Eisen hatte sich der Staub mehrerer Jahre gelegt. Lange schon hatte die Gießkanne das Licht der Sonne nicht mehr gesehen und war stattdessen hier verrottet.

Hastig griff er nach ihr, da er keine Sekunde länger als notwendig in dieser Todesfalle verbleiben wollte. Die angehaltene Luft stieß er geräuschvoll durch die Nase wieder aus, doch er wusste, dass die Gefahr noch nicht gebannt war.

Er drehte sich um, bereit, das Hüttchen wieder zu verlassen.

Etwas blitzte vor ihm auf. Mehr aus Instinkt, als mit einem Gedanken duckte er sich und fiel nach hinten. Mit einem dumpfen Geräusch schlug es – was auch immer es war – in die hölzerne Wand.

Er wagte es nicht, aufzusehen. Die Gießkanne vor der Brust umklammert, blieb er sitzen. Sein gesamter Körper zitterte. Das Schlagen seines Herzens konnte er selbst in seinen Ohren hören.

Was war da auf ihn zugerast?

Er schluckte. Vorsichtig, langsam, als fürchtete er, die Wirbel könnten brechen, wenn er sich zu schnell bewegte, drehte er den Kopf. Und was er dort sah, schickte ihm einen eiskalten Schauer den Rücken hinab.

Eine Axt hatte in das Holz geschlagen. Direkt dort, wo sich vor wenigen Augenblicken noch sein Kopf befunden hatte.

Er sah wieder nach vorne, die Augen vor Schreck geweitet und er zitterte. Er redete sich ein, dass nichts geschehen war, dass er das Unheil abgewendet hatte und noch am Leben war. Doch sein Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Die Atmung ging nur stoßweise, in kurzen Schüben und abgehackt.

Diese Axt war eine weitere Neuerung und sie hätte beinahe sein Leben beendet.

Er kauerte sich zusammen und zog den Kopf noch weiter ein, als wollte er eine Schildkröte nachahmen. Nur dass eine Schildkröte sicherlich mehr Verstand hätte und wüsste, dass sie nicht zu lange dort verbleiben sollte, während Apio selbst noch gegen die Wand gelehnt saß und nicht darüber nachdachte, aufzustehen und sich in Sicherheit zu bringen.

In tiefen und langsamen Zügen atmete er ein und wieder aus, um seine Panik zu ersticken, doch an seinem rasenden Herzschlag änderte es nichts. Das Grausen wollte nicht von ihm abfallen, doch ein leises Knarzen verriet, dass er keine Zeit mehr hatte, um sich zu beruhigen.

Er sprang auf die Beine. Beinahe knickten die Knie unter seinem Gewicht wieder ein. Er strauchelte kurz, fing sich aber wieder. Und schon einen Wimpernschlag später rannte er los, die Gießkanne dicht an seine Brust gepresst.

Doch er stolperte mehr, als dass er sprintete und hatte das Gefühl, nicht vorwärtszukommen. Wie in einem Traum, in dem man versuchte, der Rettung in die Arme zu laufen, sich jedoch nur weiter von ihr entfernte.

Gleichzeitig musste er aufpassen, dass er nicht in die todbringenden Fallen im Boden trat, und außerdem mit seinen zittrigen Knien die Hindernisse überwinden, die der Hinweg hinterlassen hatte.

Über ihm knarrten die Dachbalken. Ein Signal, das ihn zu schnelleren Schritten antrieb.

Das Licht, das durch die Öffnung der Tür fiel, kam näher, aber hinter ihm ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen. Ein Pfeiler traf auf den Boden und riss das Dach mit sich. Die Wucht brachte die Erde zum Beben und fegte Apio beinahe von den Füßen.

Doch nur beinahe.

Er rannte weiter, durfte nur nicht nachlassen, obwohl seine Oberschenkel protestierten. Noch müde von dem Aufstieg drohten die Muskeln, jeden Moment zu versagen.

Mit einem heftigen Ruck wurde sein Arm nach hinten gerissen. Die Gießkanne fiel ihm aus der Hand und landete mit einem metallischen Klonk auf den Holzdielen.

Er wirbelte herum und sah, was ihn festhielt. In den Trümmern hatte sich sein Ärmel verfangen, aber er überlegte nicht lange und riss seinen Arm los. Der Stoff zerfetzte, doch zumindest war er befreit.

Er hob die Gießkanne wieder auf, drückte sie an seine Brust und rannte weiter. Nur überleben, das war alles, was er wollte.

Staub wirbelte auf, als ein weiterer Pfeiler einstürzte. Er hinderte seine Sicht und brannte ihm in den Augen, doch zum Stehenbleiben konnte er ihn nicht bewegen.

Apio schoss durch die Öffnung der Tür ins Freie. Draußen angekommen stolperte er, fiel über die eigenen Füße und landete mit dem Gesicht im Gras. Die Gießkanne bohrte sich in seinen Bauch und presste ihm die Luft aus den Lungen.

Hinter ihm bebte die Erde. Der Schuppen fiel gänzlich in sich zusammen und wenn Apio nur zwei Sekunden langsamer gewesen wäre, hätten die Trümmer ihn begraben.

Er hustete. Seine Augen brannten, trocken von dem Staub. Schweißperlen hatten sich auf der Stirn gebildet, sodass die dunklen Haare auf seiner Haut klebten.

Aber er hatte überlebt. Der Schuppen hatte ihn nicht bezwungen.

Er rollte sich von der Gießkanne und blieb rücklings im Gras liegen. Noch immer zitterte sein ganzer Körper. Er holte tief Luft.

Einmal.

Es hatte keine Wirkung. Das Herz hämmerte weiterhin gegen den Brustkorb, das Zittern ließ nicht nach. Seine Augen tränten und die Sonne blendete ihn, sodass er eine Hand über sein Gesicht legte.

Zweimal.

Das Zwitschern der Vögel drang durch das Pulsieren in seinen Ohren. Aber die schwüle Luft trieb ihm weiteren Schweiß auf die Stirn, bis ihm die Tropfen über seine Schläfen und in den Haaransatz flossen. Der Herzschlag beruhigte sich.

Dreimal.

Er hob die Hand von seinen Augen und setzte sich auf. Die Sonne brannte erbarmungslos auf ihn nieder und die wenigen Bäume spendeten keinen Schatten.

Und doch breitete sich Gänsehaut auf seinem Körper aus, als er die Trümmer sah, aus denen kurz zuvor noch das kleine Gebäude bestanden hatte. Er fröstelte trotz des heißen Sommertages.

Langsam raffte er sich auf. Sein Körper zitterte und die Beine wollten kaum stehen. Die Gießkanne hob er ebenfalls hoch und machte sich auf den Weg.

Hier und da stützte er sich noch an einem der Bäume ab, verschnaufte kurz und ging dann aber weiter. Schließlich musste er noch Wasser holen und bei der Gelegenheit würde er auch gleich sein Gesicht waschen und sich ein wenig abkühlen.

Hier oben auf dem Berg befand sich eine Quelle, aus denen die Flüsse entsprangen und am Rande in das Tal fielen. Dadurch erzeugten sie die schönsten Wasserfälle, die diese Welt zu bieten hatte. Hoch und gefährlich sahen sie auf den ersten Blick aus, doch die Gefahr bot Schönheit. Das Wasser glitzerte in der Sonne, als bestünde es aus Diamanten, die in den Abgrund flossen.

In den Strahlen der Morgensonne und auch unter dem rötlichen Abendhimmel färbte es sich stattdessen golden und orange. Feurig, als würde das Wasser in Flammen stehen. Wahrlich ein Schauspiel, das an Schönheit kaum zu übertreffen war, doch nur den wenigsten war es erlaubt, es zu Gesicht zu bekommen. Nur die Sektenmitglieder und ihre Gäste durften sich an diesem Wunder der Natur erfreuen.

Er kannte diesen Weg auswendig und könnte ihn sogar mit geschlossenen Augen gehen. Doch selbstverständlich tat er dies nicht. Er wollte nicht riskieren, dass das System ihm Steine in den Weg gelegt hatte, über die er stolpern könnte. Dabei würde er sich vermutlich das Genick brechen und so kurz, nachdem er doch den Schuppen überlebt hatte, wollte er nicht durch eine Unachtsamkeit sterben.

Er ging zurück zu dem Tempelplatz, überquerte ihn und verließ ihn dann durch ein Tor, das in ein anderes Waldstück führte. Nur wenige Meter weiter hörte er schon das Plätschern des Wassers, wenn die Tropfen an den Steinen in die Höhe geschleudert wurden und beim Fallen die Oberfläche trafen.

Und als er noch einige Schritte ging, sah er den Fluss schon. Auf den ersten Blick wirkte er ruhig und friedlich, doch er erstreckte sich tiefer, als man glaubte und wenn jemand so töricht war und ein Bad in ihm nehmen wollte, dann würde er auf der Stelle fortgerissen werden.

Apio wusste, wovon er sprach. Er hatte es versucht und es war einer der dümmsten Tode, die er jemals gestorben war. So dumm, dass er nicht länger darüber nachdachte und an den Fluss herantrat.

Er kniete sich an das Ufer, füllte die Gießkanne und stellte sie neben sich, ehe er die Hände ins Wasser tauchte und es sich ins Gesicht spritzte. Schmutz, Staub und Schweiß wusch er sich von den Wangen und der Stirn und rieb die Haut anschließend mit einem sauberen Stück seines Ärmels trocken.

Dann löste er den Haarknoten, ordnete die Strähnen und band sie wieder zusammen. Einige standen weiterhin ab, andere hatte er nicht bändigen können. Der Zopf blieb unordentlich und würde ihm sicherlich einige Kommentare und noch mehr Blicke einbringen.

Er presste die Lippen zusammen. Die Hände hob er schon wieder, um die Haare erneut zu öffnen und zu sortieren, doch er ließ sie mit einem Seufzen wieder sinken. So oder so würde er mit Blicken zerstochen werden, denn auch seine Kleidung trug Spuren von dem Erlebnis. Ein Ärmel zerfetzt und der helle Stoff durch den Staub grau gefärbt.

So kleidete sich hier niemand und er konnte gar nicht in Worte fassen, wie sehr er sich schon auf das nächste Treffen mit Shulang freute. Der Großmeister würde sich nicht zurückhalten, die äußere Erscheinung zu kommentieren.

Ein weiteres Seufzen zog sich von seinen Lippen. Er krempelte sich die Ärmel hoch und tauchte die Hände erneut ins Wasser. Bis zu seinen Ellenbogen strich er es, denn an diesem heißen Tag konnte er nicht genug von der erfrischenden Kühle bekommen. Er hatte das Gefühl, dass ihm nicht mehr lange die Möglichkeit gegeben war, es zu genießen.

Ein Knacken ertönte hinter ihm. Nur das Brechen eines Zweiges. Nichts, das unweigerliche Gefahr andeutete.

Aber Apio sprang auf und wirbelte herum. Sein Puls, den er mit so viel Mühe beruhigt hatte, beschleunigte sich nun wieder. „Ist da jemand?", fragte er. Die Stimme, die sein Trommelfell traf, klang fremd. Gepackt von Furcht und kratzig.

Noch eine weitere Änderung?, fragte er sich. Hier war niemals jemand gewesen. Dieses Flussufer hatte er stets als eine Verschnaufpause gesehen.

Zumindest bisher.

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