Der Weg zum Glück II

Nach der Hälfte der Treppen stützte er die Hände auf seine Oberschenkel und japste kläglich nach Luft. Es war Folter. Reinste Folter. Wie konnte man einem Menschen nur so etwas antun?

Er richtete sich wieder auf und ging zum Geländer, das zur Sicherheit an dem Rand der Treppe befestigt war, der in die Tiefe führte. Wie eine riesige Wendeltreppe schlang sie sich um den Berg. Die eine Seite stets dem Gestein zugewandt und auf der anderen konnte man einen Blick auf die Stadt erhaschen. So früh am Morgen war die Aussicht kaum magisch. Viel schöner war es, wenn abends und nachts sanfte Lichtpunkte erstrahlten.

Er legte eine Hand auf den glatten, teilweise schon von Moos bewachsenen Stein und lehnte sich an.

Wie Silber zogen sich die Flüsse und Bäche durch die Landschaft. Hier und da ein brauner Tupfer, der eine der Holzbrücken darstellte. Wege umrahmten die Gebäude – einige aus Stein und einige nur einfache Bambushütten – und Grün spross an einigen Stellen in dem Grau. Bäume, die bald in Rosa blühen würden.

Ganz in der Ferne hob sich die Mauer über die Wipfel der Bäume, die das einfache Volk abhielt. Und dahinter erstreckte sich eine Stadt, die noch schlief, denn gewöhnliche Menschen waren noch nicht auf den Beinen. Die Regeln in der Sekte sahen es vor, die Schüler zu einer Zeit zu wecken, in der noch kein normaler Mensch aufgestanden war.

Die Dächer der Stadt glühten rot im Licht der aufgehenden Sonne. Heute würde ein warmer Tag werden, vermutete Apio. Selbst jetzt schmeckte die Luft schon schwül, sodass er kaum Atmen konnte. Vielleicht würde sogar ein Gewitter aufziehen.

Kurz vor den Mauern in einem Wäldchen sah er einen kleinen Kreis, in dem keine Bäume standen. Dort war seine Hütte errichtet. Einsam und allein, nur von Natur und einem kleinen Trainingsplatz, auf dem aber kaum jemand übte, umgeben. Dadurch war ihm viel Ruhe vergönnt und allein diese geborgene Stille hielt ihn in dieser Welt am Leben.

Nun ... die Stille und die Tatsache, dass er von dem Geländer wegtrat, ehe es sich kaum eine Sekunde später aus der Verankerung löste und in die Tiefe stürzte. Durch die Musik hatte er das leise, aber verräterische Knarzen nicht gehört und konnte nun nur mit schreckgeweiteten Augen in den Abgrund schauen, während er vergeblich versuchte, sich nicht auszumalen, was geschehen wäre, hätte er noch dort gestanden.

Er wich zurück, bis er den kalten Stein im Rücken spürte. Eine Todesmöglichkeit, die er nicht gekannt hatte. Sie ließ ihn furchtsam auf das restliche Tutorial blicken. Wie viel hatte sich noch geändert? Was kannte er noch alles nicht?

Sein Herz raste mehr, als er zugeben wollte. Seine Kehle schnürte sich zu, sodass ihm das Luftholen noch schwerer fiel.

Er zwang sich, den Blick von dem Abgrund abzuwenden und seinen Weg fortzusetzen. Seine Knie zitterten bei jedem Schritt und er fürchtete, dass sie jeden Moment seinem Gewicht nachgeben könnten.

Eine Hand legte er an den Stein und blieb so weit wie möglich von dem Abgrund und dem Geländer entfernt. Noch einmal wollte er so ein Beinahe-in-den-Tod-Stürzen nicht riskieren.

Das bisschen Sicherheit, das er verspürt hatte, da er den Anfang schon kannte, war ihm aus den Händen gerissen worden. Nun konnte er nur noch vorsichtig jede einzelne Stufe hochsteigen und hoffen, dass er die Steine, durch die das System ihn zum Stolpern bringen wollte, früh genug sah und ihnen aus dem Weg gehen konnte.

Die zweite Hälfte der Treppe ging Apio langsamer. Nicht nur, weil die Erschöpfung ihren Tribut forderte, sondern auch weil er sich um Vorsicht bemühte. Er erwartete, dass hinter jeder Ecke sein Untergang lauerte, doch zu seinem Glück blieb der restliche Weg zum Großmeister ereignislos.

Die letzten Stufen keuchte er nur noch und wäre am liebsten zusammengebrochen, doch er beließ es dabei, eine kurze Pause zu machen, in der er sich an dem hölzernen Torbogen, der das Ende der Treppe schmückte, abstützte. Sein Schnaufen dröhnte in seinen Ohren und die Sonne löste langsam, aber sicher Kopfschmerzen aus.

Der ganze Tag war zum Scheitern verurteilt. Sport gleich als Erstes nach dem Aufstehen hatte er schon immer verabscheut. Er hielt inne. Sport insgesamt hatte er immer verabscheut. Da machte es keinen Unterschied zu welcher Tageszeit es geschah und vor allem Treppen – so war seine Meinung – kamen direkt aus der Hölle.

Er richtete sich auf und hob den Blick an. Vor ihm befand sich eine freie mit Stein gepflasterte Fläche, die an zwei Seiten von Tempeln eingerahmt war. Der Haupttrainingsplatz für die jungen Rekruten und der Ort, an dem Gäste empfangen wurden. Vorausgesetzt sie durften überhaupt die Tore passieren und erklärten sich bereit, die fünfhundert Stufen hochzusteigen.

Doch am heutigen Tag zeigte sich hier keine Menschenseele. Nur der Wind brachte die mintgrünen Bänder zum Schwingen, die überall befestigt waren – an den Pfosten des Zaunes, der den Platz zierte, den Säulen der beiden Tempel und auch an dem hohen Torbogen unter dem Apio stand.

Mit einem Seufzen setzte er sich wieder in Bewegung. Er strich die Strähnen, die ihm an der Stirn klebten aus seinem Gesicht und ordnete sie, um zumindest den Anschein zu erwecken, dass ihn der Aufstieg nicht sämtliche Anstrengung gekostet hatte.

Die Kieselsteine knirschten unter seinen Sohlen, als er den Platz überquerte und zu einem der beiden Tempel ging. Säulen, in die Muster geschnitzt waren, stützten das Dach. In all der Zeit hatte Apio nie herausgefunden, was genau diese Verschnörkelungen darstellen sollten. Nur wirre Wirbel, ineinander verschlungen und chaotisch, aber jedes Mal, wenn er an diesem Fleck gestanden hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass von dem Muster eine Bedeutung ausging.

Er schritt die wenigen Stufen hoch, die zu dem Eingang des Tempels führten. Die Muskeln in seinen Oberschenkeln protestierten lautstark, aber er biss nur die Zähne zusammen und wies sie an, still zu bleiben. Schließlich musste er sich auch zusammenreißen, nicht einfach auf den Stufen sitzen zu bleiben und über sein Leid zu klagen.

Mit einer Hand schob er die Tür zur Seite und betrat das Innere. Licht flutete den kleinen Raum, denn die Fenster fingen die Strahlen der Morgensonne auf, aber die Wärme hatte sich noch nicht im Tempel ausgebreitet. Apio schloss die Tür schnell wieder hinter sich, damit das auch so blieb.

Vor einem Durchgang an der hinteren Wand hing ein heller Vorhang, in den grüne Fäden gewoben waren. Dahinter befanden sich die Gemächer des Großmeisters.

Auf einem Altar daneben standen Räucherstäbchen, von denen sich weißer Qualm in die Höhe schraubte, ehe er sich auflöste. Geruch nach Sandelholz füllte den Raum und sorgte dafür, dass sich Apios Magen umdrehte. So ganz war ihm der Nutzen von Räucherstäbchen noch nicht bewusst.

„Shiye?", rief er in den Raum. Shulang hatte ihn schließlich herbestellt, da sollte er ihn nun nicht länger als notwendig warten lassen. Sein Blick richtete sich zur Decke und er trat einen Schritt zur Seite. Dieses Fleckchen Boden schien ihm auf einmal sicherer zu sein, aber die Furcht, dass das Dach ohne Ankündigung einbrechen könnte, blieb.

Der Vorhang schob sich zur Seite und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der sogleich in den Hauptraum trat. Die dunklen Haare waren bereits mit grauen Strähnen gespickt, obwohl das Gesicht höchstens Mitte dreißig wirkte. Lange hatte er hinter verschlossener Tür meditiert, um seine Kultivierung zu stärken und den Alterungsprozess so weit aufzuhalten, wie er konnte. Doch Unsterblichkeit hatte er bisher nicht erlangt und obwohl er den Posten des Großmeisters innehatte, war es unwahrscheinlich, dass er je zu den Göttlichen aufsteigen würde. Nur den wenigsten und nur den besten gelang es und Shulang gehörte nicht zu Letzteren.

In mintgrün formten sich Buchstaben neben ihm zusammen. Name: Shulang.

Apio hielt sein Augenrollen zurück. Wie oft wollte das System ihm noch Figuren vorstellen, die er schon lange kannte?

„Ah, Apio, schön, dass du endlich hier bist", sagte der Großmeister.

Apio zuckte zusammen. Er würde sich nie daran gewöhnen, von ihm mit Vornamen angesprochen zu werden.

Shulang trat auf ihn zu. Das Kinn ein Stück zu weit gehoben, das Lächeln eine Spur zu herablassend. Andächtig sein Gang und die Hände hinter dem Rücken zusammengefaltet.

Apio machte eine höfliche Verbeugung, als der Großmeister vor ihm zum Stehen kam, aber dieser erwiderte den Gruß nicht, gab ihm nicht einmal ein Nicken.

„Ich habe eine äußerst wichtige Aufgabe für dich", sagte Shulang. „Nicht nur äußerst wichtig, sondern sogar überaus wichtig. Eine Aufgabe, die keine Verzögerung duldet."

Apio nickte. „Natürlich", sagte er. „Was auch immer es ist, ich werde es sofort ausführen." Innerlich rollte er aber mit den Augen. Anfangsquests waren immer die Schlimmsten und dieses Spiel bildete da keine Ausnahme.

Shulang streckte einen Arm aus und deutete in eine Ecke des Tempels. „Schau dir meine Blumen an", sagte er.

Apio folgte dem Blick und fand trockene Gebilde ohne Grün und ohne Blüten, die kaum noch als Pflanzen bezeichnet werden konnten. Sie waren schon lange gestorben, weil diese Person, von der die gesamte Sekte geleitet wurde, vollkommen unfähig war, Verantwortung für lebende Geschöpfe zu übernehmen.

„Ja, ich sehe sie", antwortete Apio nüchtern und mit ausdrucksloser Miene. Er riss den Blick von den sogenannten Blumen los und richtete ihn wieder auf den Großmeister.

„Sie brauchen Wasser", sagte Shulang. „Bevor es noch zu spät ist."

Apio seufzte nur innerlich. Neben ihm öffnete sich das vertraute türkise Fenster. [Wollen Sie die Quest annehmen?]

Nein, dachte er, doch er sagte: „Natürlich" und nickte dem Großmeister zu. „Ich werde Eurem Wunsch sofort nachkommen."

Shulang klatschte verzückt in die Hände. „Sehr schön. Die Gießkanne ist, wie du weißt, im Schuppen und Wasser kannst du einfach aus dem Fluss schöpfen. Nur hüte dich davor, Meerwasser zu nehmen. Davon werden sie nur eingehen."

Das sind sie schon längst, dachte Apio. „Sicherlich", sagte er. „Darüber müsst Ihr Euch nicht sorgen. Ich werde mich sofort auf den Weg machen."

„Dann beeile dich." Shulang machte eine Handbewegung, die sein Gegenüber offensichtlich fortscheuchen sollte und sagte: „Husch, husch."

Apio ließ es sich nicht nehmen, erneut eine Verbeugung anzudeuten, ehe er sich abwandte und den Tempel wieder verließ. Und wie er es angekündigt hatte, machte er sich sofort daran, diese ach so wichtige Aufgabe zu bewältigen. Erst dann würde Shulang – und vor allem das System – sich zufriedengeben.

Und daher wollte er keine Zeit mehr verschwenden. Er überquerte erneut den Pfad, doch diesmal nicht in Richtung der Treppen, sondern zu einem kleinen Trampelpfad, der mitten in ein kleines Wäldchen führte. Die Bäume standen in einigem Abstand, sodass weiterhin Sonnenlicht durch die Blätterdecke fiel.

Neben ihm öffnete sich das Systemfenster. [Lieber Spieler, für das Abschließen von Quests, Entdecken von Side-Stories, Lösen von Rätseln und indem Sie die Entwicklung der Geschichte vorantragen, erhalten Sie OC-Punkte, die Sie einsetzen können, um Items zu erwerben oder Gebiete freizuschalten. Abgezogen werden Punkte, wenn eine Quest fehlschlägt oder Sie die Ereignisse der Story hindern. Sinken ihre OC-Punkte auf null, wird ihre Figur entfernt.]

Apio schluckte. Letzteres war neu. Bisher konnten die Punkte zwar bis null sinken, aber er hatte nie Nachteile deswegen davongetragen. „Was genau heißt ‚entfernt'?", fragte er.

[Darüber können keine Informationen gegeben werden. Bei weiteren Fragen wenden Sie sich bitte an den Support.]

Apio seufzte und beschloss sich langsam daran zu gewöhnen, dass er von dem System nie Antworten bekam.

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