Der Weg zum Glück I
Ehe Apio tief Luft holen und sich auf das Geschehen vorbereiten konnte, öffnete sich das System-Fenster erneut. Bläulich hob es sich von der Welt ab, halbdurchsichtig, sodass er das Grün des Waldes dahinter erkennen konnte.
[Wollen Sie das Tutorial überspringen?]
Darunter hoben sich zwei Kästchen von dem Interface ab. Eines mit dem Schriftzug ‚Ja', das andere mit ‚Nein'.
Gott sei Dank, dachte Apio. Das Tutorial hatte er schon so oft bewältigen müssen, dass er jeden Schritt blind gehen und jede Dialogzeile mitsprechen konnte. Er wollte sich lieber keine Gedanken darüber machen, dass dies nur der Fall war, da er schon so oft in diesem Spiel gestorben war. Nach den ersten zehn Malen hatte er aufgehört mitzuzählen.
Er hob seine Hand und drückte auf die ‚Ja'-Fläche. Kurz ertönte ein dumpfes Dröhnen, aber das Fenster schloss sich nicht. Nur das Kästchen, das er ausgewählt hatte, graute sich langsam aus.
Ein leises Seufzen trat über seine Lippen. Er fragte das System nicht einmal mehr, was los war und akzeptierte sein Schicksal, nicht mehr als eine Spielfigur zu sein und das Tutorial jetzt zum x-ten Mal durchleben zu müssen.
Und daher tippte er auf die andere Fläche. Der Schriftzug änderte sich wieder zu [Genießen Sie Ihr Spielerlebnis], ehe das Interface sich schloss. Damit hatte das System sich verabschiedet und ließ ihn nun allein.
Er seufzte erneut. Keine zwei Minuten war er zurück in dieser Welt und schon bemerkte er, wie sich Wehmut um sein Herz schloss. Denn er wollte sich zwar einreden, dass er dieses Mal gewiss überleben könnte, doch so sehr konnte er sich nicht anlügen. Letztlich wartete unweigerlich der Tod auf ihn, ungeachtet, welchen Weg er einschlagen würde.
Er erhob sich von der Holzveranda, auf der er im Schneidersitz gesessen hatte, drehte sich um und verschwand im Inneren seiner Hütte. Ihm stand keine große Behausung zur Verfügung und er wurde auch die meiste Zeit von der restlichen Sekte ferngehalten, obwohl er eigentlich eine hohe Stellung innehatte. Eigentlich.
In der Realität wurde ihm eine kleine Hütte weit abseits der anderen Häuser gegeben, die zwar alles beinhaltete, was er zum Überleben brauchte, doch das leise Gefühl, dass niemand ihn in seiner Nähe haben wollte, blieb trotzdem.
Im Laufe der Zeit war es ihm aber recht geworden, wie ein Ausgestoßener an den Rand der Sekte geschickt worden zu sein, und die Bambushütte hatte er mit jedem neuen Anfang mehr ins Herz geschlossen.
Wenigstens hatte das Update an der Behausung nichts verändert. Das Einzelbett, in dem er sich kaum von einer Seite auf die andere wälzen konnte, ohne auf die Dielen zu fallen, stand in der linken Ecke. Einige Meter davor ein niedriger Tisch, an dem man bequem Tee trinken konnte und an der Wand gegenüber der Tür befand sich ein Regal, in dem einerseits Bücher unsortiert gestapelt waren, in dem sich aber auch eine Halterung aus poliertem Ebenholz befand und in dieser Halterung fand Apio sein Schwert. Qiufeng.
Die weiße Scheide war an der Spitze mit Eisen verstärkt. Obwohl er es eigentlich stets gehegt und gepflegt hatte, hatte er nicht verhindern können, dass sich dunkle Kratzer durch das Eisen zogen. Der Griff selbst war ebenso weiß und mit Silberornamenten verziert.
Heute würde er es nicht brauchen, denn sofern er innerhalb der Mauern blieb, sollte er nicht auf feindliche Geschöpfe treffen und er bezweifelte ohnehin, dass er sich gegen irgendetwas durchsetzen konnte. Ob er nun ein Schwert bei sich trug oder nicht.
Es gab ausreichend andere Wege, wie er in dem Tutorial umkommen konnte, da brauchte er nicht noch in einem Duell sterben.
Ein Gedanke brachte ihn zum Stocken. „System?", fragte er. „Was geschieht eigentlich, wenn ich sterbe?"
Das vertraute bläulich-türkise Interface öffnete sich. [Diese Frage kann leider nicht beantwortet werden. Wenn Sie Näheres erfahren möchten, wenden Sie sich bitte an den Support.]
Na wunderbar, dachte Apio. Das Fenster schloss sich und er war noch genauso klug wie zuvor.
Zwei Möglichkeiten fielen ihm zu seiner Frage ein. Die eine war die bessere. Vielleicht würde er sich einfach einen neuen Spielstand machen müssen und konnte dann mit den normalen Einstellungen fortfahren.
Doch die andere Option ängstigte ihn. Was, wenn er auch in der echten Welt starb? Er war ohnehin schon so lange hier gefangen, dass er nicht wusste, ob sein Körper noch existierte und er in der Realität überhaupt noch einen Platz hatte.
Ein Klopfen riss ihn aus den Gedanken. Er wandte sich zur Tür und holte tief Luft. Siebzehn Wege hier im Tutorial zu sterben und irgendwie musste es ihm gelingen, allen auszuweichen. Er konnte nur hoffen, dass mit dem Update keine neuen Todesmöglichkeiten hinzugekommen sind.
„Komm herein", sagte er.
Die Tür öffnete sich und Makiro trat ein. Die helle, an Saum und Ärmeln olivgefärbte Robe reichte ihm bis zu den Knöcheln und war leicht zerknittert.
Die Haare hatte er gewöhnlich in einem ordentlichen Zopf zusammengebunden, doch nun standen einige der Strähnen ab. Seine Wangen glühten und die Stirn glänzte vor Schweiß. Die Atmung ging lauter, doch trotzdem legte er die angelernte Haltung nicht ab.
Aufgerichtet und stolz, sodass Apio sich in dessen Schatten noch kleiner fühlte als er ohnehin schon war. Makiro war mehrere Jahre jünger als er und hatte die Ausbildung zum Kultivator noch nicht einmal abgeschlossen, doch jeder sah zu ihm auf.
Neben ihm fügten sich leuchtend-goldene Buchstaben in der Luft zusammen, die ihn vorstellten.
Name: Makiro
Apio unterdrückte ein Augenrollen. Er hatte sich im Laufe der Zeit nahezu alle Namen gemerkt und besonders diejenigen Personen, denen er ständig begegnete, konnte er nicht vergessen. Vor allem nicht, wenn es sich dabei um den Protagonisten handelte.
Makiro führte die Hände vor seinem Körper zusammen und machte eine höfliche Verbeugung. „Shifu", sprach er ihn an, denn man mochte es kaum glauben, doch Apio gehörte zu dem Lehrpersonal, obwohl ihm die meisten nichts so begegneten. „Der Großmeister schickt mich. Er verlangt nach Euch. Es ist etwas sehr Dringliches, aber genaue Details sind mir nicht bekannt."
Apio nickte nur abgehackt. Sein Ausdruck blieb kühl, nahezu gleichgültig. „Ich mache mich sofort auf den Weg", sagte er und machte anschließend eine Handbewegung. „Du darfst dich entfernen."
Der Junge verbeugte sich erneut und verließ die Hütte.
Apio selbst wartete einige Augenblicke. Ja, es wurde gesagt, der Auftrag wäre wichtig, aber im Tutorial verging die Zeit ohnehin nur, wenn sie vergehen sollte. Das bedeutete, ob er nun noch eine Stunde in seiner Hütte herumsaß oder sofort den Großmeister aufsuchte, war einerlei.
Er holte noch einmal tief Luft und folgte dann Makiro aus der Hütte hinaus. Der Junge war schon lange verschwunden. Vermutlich zu einem der anderen Ausbilder oder er war auf dem Weg zu einem der zahlreichen Trainingsplätze, um dort allein zu üben.
Strebsam und talentiert. Der geborene Protagonist. Als Kind von kaum zehn Jahren hatte er vor den Toren der Stadt gestanden. Zunächst hatte ihm niemand Einlass gewähren wollen, denn was sollte dieser Waise, der jahrelang auf der Straße gelebt hatte, das Bild der Stadt verunreinigen. Lieber ließ man Obdachlose und Bettler vor den Toren verrotten.
Und der Protagonist war ein tadelloses Beispiel für eine tragische Figur. Der Vater war kurz nach seiner Geburt in die Schlacht gegen die Dämonen gezogen und war niemals zurückgekehrt.
Die Mutter hatte ein ähnliches Schicksal erleiden müssen. Eines verhängnisvollen Tages war das Dorf, in dem die kleine Familie damals noch gelebt hatte, von Dämonen überfallen worden. Makiro hatte sich unter dem Bett verstecken können, doch seine Mutter war gestorben.
Und nach mehreren Jahren allein war er letztlich vor den Toren der Stadt gelandet. Einige Tage hatte er dort zwischen Bettlern gelegen, ehe er auf den Großmeister getroffen war, der das Talent in ihm gesehen und ihn in die Sekte aufgenommen hatte.
Das Auswahlverfahren der neuen Rekruten hatte er ohne Schwierigkeiten bestanden und auch dort war sein Talent nicht unbemerkt geblieben. Jeder der Lehrer hatte einen Narren an ihm gefressen, denn einen solchen Schüler unter seine Fittiche zu nehmen, versprach Ansehen bei den anderen.
Doch bis zum heutigen Tag, acht Jahre später, hatte Makiro niemanden ausgewählt. Nicht nur von einem wollte er lernen, nicht nur eine Disziplin wollte er perfektionieren und daher wanderte er stets zwischen den verschiedenen Hütten umher und lernte alles, was er nur lernen konnte.
Und obwohl es viele kritische Stimmen aus anderen Sekten gab, dass es ein solches Wunderkind wie Makiro doch gar nicht geben konnte, bewies er ihnen das Gegenteil und übertraf mehrere der Älteren und besiegte jeden, der ihn zu einem Duell herausforderte.
Ganz der Protagonist war er mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet. Niemand konnte ihm das Wasser reichen, oder in einem Kampf auf Leben und Tod gegen ihn bestehen und selbstverständlich wäre auch niemand je in der Lage ihn umzubringen.
Was wäre eine Geschichte schließlich ohne ihren Protagonisten?
Manchmal wünschte sich Apio, dass er diese Rolle gelost hätte. Ein bisschen Plot-Armor hätte ihm sicherlich nicht geschadet.
Er wandte sich von seiner Hütte ab und ging los, um die Quest abzuschließen und dabei hoffentlich nicht zu sterben.
Sein Weg führte ihn durch ein kleines Birkenwäldchen. Noch war es Frühling und die Blätter grünten, doch der Herbst würde sich in diesem Jahr früh zeigen. Vielleicht sogar noch früher als sonst.
Es dauerte ihn einige Minuten, bis er an einem breiteren Weg ankam und noch ein wenig länger, bis man diesen Weg eine gepflasterte Straße nennen konnte.
Die Hütten der restlichen, hier lebenden Menschen waren links und rechts eines Flusses errichtet. Silbern glänzte er im Licht der Sonne und plätscherte leise vor sich hin. Hier und dort konnte man einen Fisch sehen, doch die meisten Tiere hielten sich nicht in der Nähe der Menschen auf. Weder Vögel noch Libellen oder andere Insekten lebten an und in dem Wasser.
Flussabwärts ragten hohe Tore auf, von denen die Außenwelt am Eintreten in das Innere abgehalten wurde. Eine Maßnahme zur Sicherheit und gleichzeitig sorgte es auch dafür, dass die Schüler sich voll und ganz auf ihre Ausbildung konzentrieren konnten.
Nur eine Handvoll von denjenigen, die sie begonnen, brachten sie auch zu Ende. Zu schwer war das Training für die meisten und an fast allen nagte nach spätestens einer Woche das Heimweh.
Doch der Großmeister blieb hart und erlaubte kaum jemandem, die schützenden Mauern zu verlassen und wenn, dann durften die Schüler das Gelände nur in der Aufsicht eines Älteren verlassen. Er war der Meinung, dass er so die besten Krieger heranzüchten könnte und wer bis zum Schluss blieb, dem war ein Leben in Reichtum versprochen.
Man gehörte dann zu den besten Kultivatoren und war überall gefragt ... Oder aber man endete wie Apio. Als mittelmäßiger Lehrer für Schwertkampf, der irgendwo am Rande und fast schon ausgestoßen lebte und trotzdem – Gott weiß, warum – nicht aus der Sekte geworfen wurde.
Doch Apio gehörte ja glücklicherweise noch zu der Sekte und sogar zu den Lehrenden. Daher war es ihm erlaubt, wann immer er wollte, die Tore zu passieren, sodass er sich nun dorthin wandte und losging. In die entgegengesetzte Richtung, in die er eigentlich musste.
Doch er kannte einen Trick, wie man das Tutorial umgehen konnte. Ein kleiner Bug, der in all den letzten Versionen nicht gefixt wurde.
Doch nachdem er nur wenige Schritte gegangen war, öffnete sich das türkise Interface. [Verdächtige Aktivität wurde identifiziert!]
Apio drehte sich zu dem System und fragte: „Was?"
[Die Storyline besagt, dass Sie auf dem schnellsten Wege zu Shulang, dem Großmeister, gelangen sollen.]
„Aber das ist doch nur das Tutorial", sagte er, obwohl er bemerkte, dass er wie ein quengelndes Kind klang.
[Sie können diesen Spielbereich nicht verlassen, bevor sie das Tutorial nicht abgeschlossen haben.]
„Aber warum denn, System?", fragte er. Doch ihm war von vornherein klar, dass es sich nicht erweichen lassen würde. Schließlich sprach er nicht mit einem Menschen, sondern nur mit einer Ansammlung aus Einsen und Nullen.
[Weil Sie innerhalb des Tutorial-Bereiches 100 OC-Punkte finden müssen. Dann können Sie das Gebiet verlassen.]
Apio seufzte leise und murmelte: „In Ordnung."
Das Interface schloss sich und er wandte sich in die Richtung, in die er gehen musste.
Er winkte einigen Schülern, die auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses standen, zu. Die Namen, die über ihren Köpfen schwebten, konnte er kaum entziffern. Bei diesen Figuren handelte es sich nur um Statisten, denen Apio im Spiel nur an dieser Stelle begegnet war und danach nie wieder gesehen hatte. Er musste aber auch zugeben, dass er noch nie sonderlich weit gekommen war.
Noch war es früher Morgen, sodass er kaum einer Seele – außer den wenigen Statisten – begegnete. Und es war ihm auch mehr als Recht.
Er überquerte eine kleine Brücke, die über einen Bach führte. Er war so schmal, dass man ohne Probleme darüber springen könnte, doch das gehörte sich nicht und daher wurde über jeden noch so kleinen Wasserlauf eine Brücke errichtet.
Und von diesen musste er sechs überqueren, ehe er an einer Treppe ankam, die einen steilen Felshang hinaufführte. Fünfhundert Stufen musste man hochsteigen, um zu dem Großmeister zu gelangen. Jedes Mal, wenn man zu ihm gerufen wurde, denn er selbst bequemte sich nur selten aus dem Tempel.
Es gab keine Abkürzung, aber schon die jüngsten Schüler wurden tagtäglich und stundenlang an diese Stufen gewöhnt.
Für Apio haben die Treppen bisher nie ein Problem dargestellt. Als Jemand, der nicht in diese Welt gehörte, hatte das System ihn in den vorherigen Spielständen nie Anstrengung oder Schmerzen spüren lassen.
Doch zu seinem Schrecken stellte er schon nach den ersten dreißig Stufen fest, dass es sich geändert hatte. Und nach zwanzig weiteren brannten ihm die Oberschenkel schon so sehr, dass er nicht glaubte, lebendig die Spitze des Berges zu erreichen. Das wäre der wahrhaft unheldenhafteste Tod. Im Tutorial auf dem Weg zu der ersten Quest an Erschöpfung gestorben.
Zu seinem Glück hatte das Auswahlverfahren der neuen Rekruten noch nicht stattgefunden. Ansonsten hätte er gemeinsam mit den Kindern die Treppen hochhecheln müssen und als schon vollständig ausgebildeter Kultivator hätte er auf keinen Fall eine solch schlechte Figur machen dürfen.
Nach etwa hundert Stufen begann er, in Zehnerschritten zu zählen, wie viel er schon hinter sich hatte, um seine Gedanken von den schmerzenden Beinen und dem Brennen in seiner Brust, jedes Mal, wenn er Luft holte, abzulenken.
Sanfte Klavierklänge ertönten neben ihm und als er in die Richtung sah, bemerkte er bläuliche halbdurchsichtige Pixel-Noten, die durch sie ansonsten realistisch aussehende Landschaft schwebten.
Er gab dem System nur ein Augenrollen, bat es aber nicht, damit aufzuhören. Ein wenig Musik hatte schließlich noch nie geschadet.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top