Brüderliche Liebe II
Apio erwachte ein zweites Mal, weil Wärme durch seinen Körper strömte. Diesmal nicht von seinem Handgelenk, sondern von seinem Rücken aus. Er saß im Schneidersitz vor Shulang. Der Großmeister hatte beide Hände auf seinen Rücken gelegt und übertrug Qi in seinen Körper.
„Shixiong?", fragte er und versuchte sich umzudrehen
„Beweg dich nicht", sagte Shulang. „Wir sind noch nicht fertig."
Ein trockenes Lachen kroch Apios Kehle hoch und kam hervor, ehe er es zurückhalten konnte. „Mir geht es blendend", sagte er. Zumindest besser als noch vor ein paar Stunden. Keine dämonische Energie war mehr in seinem Körper und sein Qi floss ungehindert. Dass er sich ohne Shulang kaum aufrecht halten konnte, verschwieg er.
„Wo ist Hua Li?", fragte Apio
Shulang stieß ein Schnauben aus. Die Wärme an Apios Rücken wurde zu Hitze, bis Apio scharf Luft zwischen den Zähnen einsog und Shulang sich erinnerte, ihn nicht zu rösten.
„Ich habe ihn vor die Tore Bai Tians gesetzt", antwortete Shulang nun auf die ursprüngliche Frage.
„Ich bezweifle, dass er sich so einfach setzen lassen hat."
„Ich habe Mittel und Wege, Shidi, und du solltest sie nicht infrage stellen."
Apio musste nicht einmal nachhaken, um zu wissen, dass die beiden miteinander gekämpft hatten. Und wider Erwartung war Shulang als der Sieger hervorgegangen.
„Hast du ihn verletzt?", fragte Apio. Vielleicht war Hua Li auch freiwillig gegangen. Das erklärte zumindest Shulangs Sieg.
„Geringfügig", sagte Shulang.
„Geringfügig?"
Shulang antwortete nicht mehr und übertrug nur weiter Qi auf Apio. Nach einigen Sekunden des Anschweigens wechselte er das Thema. „Weshalb hast du die dämonische Energie nicht selbst geläutert?", fragte er. „Es war zwar viel, aber nicht so viel, dass du es nicht allein geschafft hättest. Ein paar Stunden in ruhiger Meditation und es wäre nicht so weit gekommen, dass du fast eine Qi-Deviation erlitten hättest."
Sollte er Shulang nun gestehen, dass er einer der schlechtesten Kultivatoren war und nicht einmal anständig meditieren konnte?
Er entschied sich dagegen. Aber welche Ausrede stattdessen nutzen?
Shulang seufzte, als keine Antwort von Apio kam, und sagte: „Gib mir das nächste Mal Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, dein Qi in Einklang zu bringen und lass es nicht noch einmal so weit kommen."
Apio warf einen Blick über seine Schulter, aber Shulang sah ihn nicht an. Sein Blick war starr auf seine Hände gerichtet, die an Apios Rücken lagen.
Nimmt er diese ganze Brüderlichkeit nicht vielleicht ein bisschen zu ernst? Aber Apio konnte es ihm nicht verdenken. Er hatte doch schließlich angefangen, ihn Shixiong zu nennen. Nun sollte er sich auch voll und ganz dafür einsetzen.
„Vielen Dank, Shixiong."
Shulang schnaubte. „Bedanke dich nicht, Shidi. Ich kann dich nicht einfach sterben lassen und noch weniger kann ich riskieren, dass du dabei Tausende mit in den Tod reißt."
Apio erwiderte nichts, aber ihm kam das Gefühl, dass diese Worte einfach nur Shulangs Art, ‚Gern geschehen' zu sagen, waren.
Die Wärme an seinem Rücken verschwand und mit ihr auch der Halt, der ihn im Schneidersitz gehalten hatte. Beinahe wäre er nach hinten gekippt, aber in letzter Sekunde streckte Shulang seine Hände aus und fing ihn auf.
„Meintest du nicht, dass es dir ‚blendend' ginge?", fragte er mit einem spöttischen Unterton.
Apio brummte nur etwas Unverständliches und richtete sich dann eigens wieder auf. „Ich war nur überrascht", sagte er. „Das ist alles."
Um es zu beweisen, griff er nach dem Bettpfosten und zog sich an ihm auf die Füße. Und es gelang ihm sogar. Er stand. Zwar sehr wackelig und er war sicher, dass Shulang das Zittern seiner Knie bemerkte, aber er stand.
„Wie du meinst, Shidi." Shulang erhob sich ebenfalls – sehr viel eleganter und sehr viel weniger wackelig als Apio – und ging zu einem Schrank. Er riss die Türen auf, wühlte kurz in ihm und warf Apio dann eine mintgrüne Robe mit zartem Blumenmuster zu.
Erst jetzt bemerkte Apio, dass er außer seinem Untergewand nichts trug. Irgendwann zwischen dem hier Ankommen und jetzt hatte Shulang ihm die Robe ausgezogen, um ihn besser versorgen zu können. Und nun wollte er ihm selbstverständlich nicht die Robe des Dämons zurückgeben, sondern eine, die einem Kultivator entsprechend aussah.
„Hast du in der Zwischenzeit etwas von deiner Nichte gehört?", fragte Apio, während er in die Robe schlüpfte und sie sich mit einem Gürtel zusammenband.
„So ähnlich", antwortete Shulang. „Als ich hierher zurückkehrte, gelangte ein Brief zu mir."
„Ein Brief?", fragte Apio, ehe er sich zurückhalten konnte. Shulang würde sich sicherlich gleich erklären.
Shulang nickte. „Ein Brief von Xuan Wu. Sie hörte offenbar von dem Angriff und schickte Leute hierher, um für die Verletzten zu sorgen. Dabei fand sie meine Nichte und einige andere Kinder und sie lud mich zu sich ein."
„Das ... das sind doch großartige Neuigkeiten. Warum bist du dann noch hier?"
„Ich schickte einen Brief zurück", erklärte Shulang, „und fragte, ob ich dich als Begleitung mitnehmen darf. Und bis jetzt bekam ich noch keine Antwort von ihr."
„Verstehe." Das war die Spur, die sie brauchten. Eine Möglichkeit, mit Xuan Wu in Kontakt zu treten. „Weißt du, weshalb sie dich einlud, Shixiong?"
Shulang schüttelte den Kopf. „Es ist zu gefährlich, solche Dinge per Brief miteinander zu besprechen."
Hieß: Er hatte eine ungefähre Ahnung, dass der Besuch bei Xuan Wu als Verrat gegenüber Hai Tun gelten könnte.
Shulang hielt Apio Qiufeng entgegen und Apio nahm es an, ohne lange darüber nachzudenken, aber der Großmeister ließ es nicht los.
Apio runzelte die Stirn und sah zu ihm auf.
„Du weißt, was dies für ein Schwert ist?", fragte Shulang.
Meins, dachte Apio und schob die Brauen noch enger zusammen.
„Es schützt, es verteidigt, es hütet,", fuhr Shulang fort, als keine Antwort kam. „Aber Qiufeng wurde nicht zum Töten geschmiedet und es würde dich hassen, solltest du es dazu zwingen. Vielleicht würde es sich sogar gegen dich stellen."
Er zog Qiufeng ein Stück an sich und Apio mit ihm. „Vergiss das nie, Shidi." Er ließ das Schwert los und Apio stolperte einige Schritte zurück, ehe er sich an dem Bettpfosten auffing.
„Und nun lass uns rausgehen", fuhr Shulang fort, als wäre nichts geschehen. „Wenn es dir so gut geht, wie du behauptest, dann kannst du mir auch helfen, Bai Tian wieder aufzubauen."
Und schon bereute es Apio, dass er nicht gesagt hatte, wie schlecht er sich fühlte. „Natürlich, Shixiong", antwortete er.
Shulang warf ihm einen Blick zu und hob eine Augenbraue. Er sagte aber nichts und deutete Apio nur mit einer Kopfbewegung an, ihm zu folgen.
Und Apio folgte. Was hatte er auch Besseres zu tun? Gesund werden? Lernen, wie man anständig meditierte? Tee trinken und die Seele beruhigen? Wer brauchte schon so etwas?
Die Sonne stand noch tief im Osten, als die beiden den Tempel verließen. Kühle feuchte Luft lag über der Welt und sie trug eine gewisse Spannung. Es würde ein warmer Tag werden.
Und Hua Li? Hua Li war wirklich nicht da. Wie Shulang gesagt hatte, hatte er Bai Tian verlassen.
„Können wir zu ihm?", flüsterte Apio. Er bemerkte erst, als Shulang sich umdrehte und eine Augenbraue hob, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte.
„Äh ...", machte Apio. „Nichts, nichts." Er wedelte hastig mit den Händen. „Ich habe nur laut gedacht."
„Das habe ich gehört", sagte Shulang. „Und nein, wir gehen nicht zu ihm. Wenn du gehen willst, dann gehe allein, aber ich habe nichts mit ihm zu besprechen."
War das ... eine Erlaubnis, dass er gehen durfte?
Apio entschied sich für: Ja, das war es.
Er brachte die Hände zusammen und setzte schon zu seiner Verbeugung an, wollte sagen: ‚Vielen Dank, Shixiong. Ich werde mich nun entfernen.' Aber bevor er die Worte hervorbringen konnte, tauchte eine Gestalt in Violett in seinem Augenwinkel auf.
Sie war gerade die Treppen hinaufgeeilt und trug eine ernste Miene. Sowohl Apio als auch Shulang erkannten auf den ersten Blick, dass es sich bei ihr um Xuan Wus Botin handeln musste.
Sie verbeugte sich. „Shu-Shibo, Liu-Shibo", sprach sie die beiden an. „Xuan-Zongzhu schickt mich, um Euch dies zu überreichen." Sie holte eine kleine Schriftrolle aus ihrem Ärmel und gab sie an Shulang.
Shulang rollte sie auf und las. Zunächst hellte sich seine Miene auf, dann verdunkelte sie sich wieder und mit zusammengeschobenen Brauen wandte er sich an Apio. „Du darfst mitkommen", sagte er.
Und deswegen siehst du so miesepetrig aus? Apio würde es nie zugeben, aber dies verletzte ihn tief.
„Xuan Wu möchte, dass Hua Li uns begleitet."
Ah, das ist es also. Apio hielt sein Lächeln zurück, um Shulang nicht noch mehr Salz in die Wunde zu streuen. „Dann sollten wir besser sofort aufbrechen. Meinst du nicht, Shixiong?"
Shulang antwortete nicht direkt. Er wandte sich nur ab und brummte etwas, das wie „Ich hole mein Schwert" klang.
„Dann gebe ich schon Hua Li Bescheid", rief Apio ihm hinterher, wartete aber nicht mehr auf eine Antwort und stürmte schon los vor die Tore Bai Tians.
Nur die Botin stand weiterhin auf dem Tempelgelände. Sie sah erst dem Großmeister, dann Apio nach und schüttelte den Kopf.
Von weitem entdeckte Apio bereits die rote Robe Hua Lis. Der Dämon streunte vor den aufgebrochenen Toren von links nach rechts und zurück nach links. Selbst ein Blinder könnte seine Unruhe erkennen.
„Hua Li!", rief Apio und winkte ihm zu.
Hua Li hob den Kopf und sofort breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Xiaoge!" Er trat einen Schritt auf Apio zu, blieb aber weiterhin vor den Mauern. Shulang hatte einen Eindruck bei ihm hinterlassen – wie auch immer ihm das gelungen war.
Äußerlich war Hua Li keine Verletzung anzusehen, nur ein leichter Schimmer in den Augen und sein Respekt dem Eingang Bai Tians gegenüber verriet, dass er als Verlierer aus dem Kampf mit Shulang hervorgegangen war.
„Geht es dir besser?", fragte er, als Apio vor ihm zum Stehen kam.
Apio nickte. „Ja, Shulang war eine große Hilfe. Und ich habe noch bessere Nachrichten." Allzulange wollte er sich nicht an dem Thema Qi-Deviation aufhalten. Das war vorbei und er hatte eine Lösung gefunden.
„Xuan Wu hat uns eingeladen." Eigentlich hat sie Shulang eingeladen. „Um zu reden." Um mit Shulang zu reden. Wir sind nur ... Beiwerk.
Bevor er fortfahren konnte, ließ ein Räuspern hinter ihm ihn zusammenfahren.
„Sei vorsichtig, wem du vertraust, Shidi." Shulang war so plötzlich aufgetaucht, dass weder Apio noch Hua Li ihn bemerkt hatten. Neben ihm stand die Botin Xuan Wus.
„Nur, weil er uns begleiten darf, heißt es nicht, dass du sensibles Wissen an ihn weitergeben solltest", fuhr Shulang fort. „Und noch weniger heißt es, dass ich es begrüße, wenn du überhaupt mit ihm sprichst."
Apio stieß nur ein lautloses Seufzen aus. Wie hatte er auch nur für einen Augenblick denken können, dass Shulang nun, nachdem sie sich auf ihre Brüderlichkeit berufen hatten, nicht mehr ganz so unausstehlich wäre.
„Wir sollten aufbrechen", ergriff die Botin das Wort. „Xuan-Zongzhu lässt man nicht warten."
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