Brüderliche Liebe I

Wärme strömte durch Apios Körper. Von seinem Handgelenk aus floss sie durch seinen Arm, in seine Brust und von dort aus in all seine anderen Gliedmaßen.

Seine Lider ließen sich kaum öffnen, doch nach einigen Sekunden gelang ihm auch dies. Der Raum, in dem er lag, war in sanftes Kerzenlicht getaucht und neben ihm saß eine Gestalt, die den Blick eisern auf Apios Handgelenk gerichtet hatte.

Shulang.

Die Wärme war daher entstanden, dass Shulang sein Handgelenk hielt und spirituelle Energie in ihn transferierte.

„Ich habe es gesehen", sagte Shulang.

„Was?", krächzte Apio und wusste nicht einmal, ob der Großmeister das Wort überhaupt hörte.

„Deinen Hals." Shulang nahm den Blick von Apios Handgelenk und richtete ihn auf sein Gesicht. „Ist es das, was ich denke?"

Selbst in seinem halb-komatösen Zustand wusste Apio, was Shulang meinte. Die hunderten, wenn nicht sogar tausenden – gut, das war übertrieben – rötlichen und bläulichen Flecken, die Zeuge seiner Zeit mit Hua Li waren.

Apios Schweigen genügte Shulang als Antwort.

Er sprang auf und griff nach dem Schwert, das auf der Kommode lag.

In Apios Glieder fuhr sofort lähmende Kälte ein. Er wollte sich ebenfalls aufsetzen, aber seine Bewegungen waren langsam. Als er stand, war Shulang bereits aus dem Tempel gestürmt.

Mist, dachte Apio. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren Shulang und Hua Li, die sich prügelten. Vor allem, weil Shulang sicherlich dabei den Kürzeren ziehen würde.

Er folgte ihm so schnell, wie er konnte, doch als er auf dem Tempelplatz ankam, zückte der Großmeister bereits Mudian und richtete die Spitze auf Hua Li.

Der Dämon war vor den Tempeln auf und ab gegangen und hatte auf eine Nachricht zu Apios Wohlbefinden gewartet.

„Du Monster!", rief Shulang, die Brauen finster zusammengeschoben. „Wie kannst du nur?"

Apio stockte. Sicherlich, Shulang war nie besonders freundlich oder höflich gewesen, aber diesen Ton kannte er nicht von ihm.

„Shiye", rief er und machte einen Schritt. Schon bevor er den Fuß aufsetzte, hatte er erahnt, dass er stolpern würde. Und so geschah es auch.

Er bereitete sich darauf vor, zu fallen und wollte schon die Hände hochreißen, um zumindest seinen Kopf zu schützen. Aber nichts dergleichen geschah.

Er stieß gegen einen Körper, der einen Arm um ihn legte und ihn stützte. Und dabei hatte diese Gestalt, die sich als Shulang herausstellte, weder das Schwert sinken lassen noch den Blick von Hua Li genommen.

„Es war einvernehmlich", flüsterte Apio. „Und ich wusste um das Risiko."

Weshalb fühlte er sich wie ein Mädchen, dessen Schwarm von ihrem Vater erwischt wurde? Und in dieser Analogie war Hua Li der Schwarm und Shulang der Vater, der nun damit zurechtkommen musste, dass sein kleines Mädchen nicht länger klein und unschuldig war.

Shulang warf einen Blick auf Apio. Mudian blieb weiterhin auf Hua Li gerichtet. „Er hätte es nicht zulassen dürfen", sagte er. „Wenn ich dir nicht rechtzeitig geholfen hätte, dann hättest du sterben können."

„Shiye, das weiß ich und das wusste ich auch zuvor", sagte Apio. „Es hat Euch nicht zu kümmern."

Shulangs Hand zitterte, als wollte sie sich senken und er hielt sie mit Macht oben. „Du bist meine Familie, Shidi. Und meine Familie ist mir wichtig."

Apio hielt ein Augenrollen zurück. Wann hatte Shulang denn bitte angefangen, ihn zu beschützen, sich für ihn zu interessieren, ihn als lieb und teuer anzusehen? Ungeachtet, wann es geschehen war, Apio wollte, dass es sofort rückgängig gemacht wurde.

Der alte Shulang hatte ihn zwar wie Dreck behandelt, aber darauf hatte er sich bereits seelisch eingestellt. Der Shulang jetzt ... An den musste er sich erstmal gewöhnen.

„Shiye." Apio räusperte sich und setzte von neuem an. „Shixiong ..." Wenn Shulang ihn schon unbedingt als Familie bezeichnen wollte, dann würde er ihm diesen Gefallen tun. Vielleicht brachte es etwas.

Und tatsächlich. Er brauchte außer der Anrede nicht mehr sagen und Shulang spannte sich an.

Apio vermutete, dass die Figur ‚Apio' ihn damals als Bruder bezeichnet hatte und er sollte recht behalten.

„Du hast mich schon lange nicht mehr so genannt", sagte Shulang, ohne sich zu ihm zu wenden. Sein Blick ruhte weiterhin auf Hua Li, ebenso wie auch die Spitze Mudians auf ihn gerichtet war.

„Aber wir sind schließlich Familie", sagte Apio. Was redete er da überhaupt? Nannte den Großmeister einfach Shixiong und versuchte ihn an die brüderliche Liebe von damals zu erinnern. Ein Bündnis auf Augenhöhe zwischen Shidi und Shixiong.

Er seufzte lautlos. Solange Shulang ihn dann gehen lassen würde, war es ihm recht.

Und seine Technik erzielte die gewünschte Wirkung. Shulang ließ sein Schwert sinken und drehte sich zu Apio um. „Auf ein Wort, Shidi", sagte er, griff ihn am Arm – vorsichtiger, als man es von ihm erwarten würde – und zog ihn in das Innere seines Tempels.

Erst da bemerkte Apio, dass der Tempel eigentlich kaum mehr als solcher zu bezeichnen war. Gerade mal ein Raum hatte der Großmeister so weit aufgebaut, dass er bewohnbar war, aber der Rest lag weiterhin in Schutt und Asche.

Shulang führte Apio zum Bett, sodass er sich dort setzen konnte, ehe er sich abwandte und ein Räucherstäbchen entzündete. Weißer Rauch stieg auf, schwebte durch das Zimmer und löste sich in der Luft auf.

Shulang legte Mudian zurück auf die Kommode und stieß ein Seufzen aus. „Von allen Dämonen wählst du ausgerechnet Hua Li?", fragte er nach einigen Sekunden Stille.

Apio schluckte. Das klang, als würde es um mehr gehen als nur die Tatsache, dass Hua Li ein Dämon war.

„Shixiong", an die neue Anrede musste er sich noch gewöhnen, „ist zwischen Euch und ... zwischen dir und Hua Li etwas vorgefallen." Wenn er ihn schon ‚Bruder' nannte, dann war es auch Zeit für das Duzen.

Shulang warf ihm einen Blick zu, der Apio sofort bereuen ließ, dass er zu dem ‚Du' gewechselt war. Dann seufzte er ein zweites Mal und der Ausdruck in seinen Augen wurde weicher.

„Nicht direkt, Shidi", sagte er. Er trat zu Apio und blieb vor ihm stehen. Er machte aber keine Anstalten, sich zu ihm zu setzen und faltete nur die Hände hinter dem Rücken zusammen. „Zwischen ihm und dem obersten Kultivator ist etwas vorgefallen und daher ist Hai Tun so erzürnt, über deine – oder eher gesagt Bai Tians – Verbindung zu dem Fuchs."

Apio sah ihn an und neigte den Kopf.

„Du weißt es nicht?"

Apio schüttelte den Kopf.

„Wie hast du das nicht bemerken können?"

Ich bin ein Spieler aus einer anderen Welt und das letzte Mal, als ich gestorben bin, gab es ein Update, das ungefähr alles verändert hat, sodass ich rein gar nichts mehr weiß.

„Ich schätze, ich habe mich nicht so sehr für Politik interessiert, wie ich es hätte tun sollen", antwortete Apio.

Shulang seufzte ein drittes Mal und langsam machte sich Apio Sorgen, dass er in seinen Seufzern ertrinken könnte. „Nun gut, lass es mich dir erklären, Shidi. Ich hatte dir bereits erzählt, dass dein Fuchs Jun Renyi getötet hatte und die Herrschaft über Jiaoji an sich gerissen hat."

Apio nickte und fragte sich nicht, seit wann es sein Fuchs war.

„Das ist noch nicht alles, für das er bekannt ist. Er entschloss sich darüber hinaus noch, eine Fehde mit Hai Tun zu beginnen. Ich halte es kurz, damit Hua Li draußen nicht in Ungeduld fällt und hier hineinstürmt, um mir den Hals umzudrehen."

Shulang hob das Kinn und rümpfte die Nase. „Hai Tun wurde von einigen Geistern geplagt. Ihm selbst gelang es nicht, sie auszutreiben und kein anderer Kultivator konnte ihm helfen. Hua Li erfuhr davon und bot seine Unterstützung an. Nur vernichtete er die Geister nicht, wie Hai Tun es wollte, sondern nahm sie in Jiaoji auf. Hai Tun erfuhr davon und verlangte ihre Auslieferung, aber Hua Li lehnte ab. Und seitdem befinden sich die beiden im Streit."

„..."

Apio hatte mehr erwartet. Aber das reichte den beiden wohl aus, um sich einander stets mit Missgunst zu begegnen.

„Das heißt doch, dass er ein guter Verbündeter ist", sagte Apio.

Shulang zog eine Augenbraue hoch. „Bitte?"

Erst da fiel Apio ein, dass Shulang nichts von Ying Diao oder dem Streit zwischen Xuan Wu und Hai Tun wusste. Er räusperte sich und erhob sich, weil er es nicht länger ertrug, dass Shulang auf ihn hinabblickte.

Er stützte sich an dem Bettpfosten ab und versuchte sich so sehr in die Höhe zu strecken, wie er konnte. Nur leider konnte er den Größenunterschied nicht wettmachen. Bedauerlich, dass seine Figur so klein war.

„Ich fand einige Dinge heraus, Shixiong", sagte Apio. „Und es könnte auch für dich von Bedeutung sein. Auf der Suche nach Qiufeng fand ich denjenigen, der Bai Tian angegriffen hatte. Und ..." Sollte er erwähnen, dass sich Makiros Leiche bei ihm befand? Dass er die Seele des Jungen zerstören und ihm den Frieden nehmen wollte?

Er entschied sich dagegen. Shulang hatte schon so viel ertragen müssen, da konnte er ihm keinen weiteren metaphorischen Schlag verpassen.

„Sein Name ist Ying Diao und ich konfrontierte Hai Tun mit dem Wissen. Wie sich herausstellte ... zumindest klang es sehr danach ... hat der oberste Kultivator ihn geschickt, um anhand von Bai Tian ein Exempel zu statuieren, damit sich niemand gegen ihn wendet. Es hielt Xuan Wu aber nicht davon ab, das Bündnis zu verlassen und nun hoffen wir, dass wir mit ihr Kontakt aufnehmen können, um gegen Hai Tuns Ungerechtigkeiten vorzugehen."

Shulang blickte ihn eine Weile sprachlos an, ehe er meinte: „Du bist nicht so nutzlos, wie du aussiehst, Shidi."

Sollte das ein Kompliment sein?

„Ich gebe mir Mühe", antwortete Apio und räusperte sich, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen. „Deshalb kann uns Hua Li ein guter Verbündeter sein. Er ist schon gegen Hai Tun und folglich auf unserer Seite."

Shulang zog erneut seine Augenbraue hoch. „Nur weil er gegen Hai Tun ist, ist er nicht für uns, Shidi", sagte er. „Vielleicht für dich, aber nicht für mich. Und du hättest seinetwegen fast eine Qi-Deviation erlitten."

„Das ..." Das konnte er nicht abstreiten.

Shulang seufzte. „Leg dich hin", sagte er. „Auch wenn ich das dämonische Qi in deinem Körper geläutert habe, bist du noch nicht genesen. Ich werde mit Hua Li sprechen."

„Mhm." Als hätten Shulangs Worte einen Schalter umgelegt, zitterten Apios Knie und Erschöpfung packte ihn.

Shulang griff nach seinem Arm und verhinderte, dass er zu Boden fiel, ehe er ihn vorsichtig auf das Bett leitete.

„Ich werde später nach dir schauen", sagte Shulang. Er griff nach Mudian und verließ den Raum.

Apio seufzte leise und legte sich unter die Decke. Er schloss die Augen und nur ein letzter Gedanke kam ihm, bevor er in das Reich der Träume driftete.

Weshalb braucht Shulang sein Schwert, wenn er mit Hua Li reden will?

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