Blutroter Regen II
Kalter Regen klatschte ihm ins Gesicht und hinterließ blutrote Spuren auf seiner Haut. Sein Gewand war bereits vollkommen durchnässt. Einst erstrahlte es in Weiß, aber nun hatten die Tropfen es rot gefärbt.
Die Stadt war wie ausgestorben. Jeder Bewohner hatte im Inneren seines Hauses Schutz gesucht und niemand wollte dem Blutregen ausgesetzt sein. Zumindest niemand der hier Lebenden. Sie alle gehörten zu den wohlhabendsten und angesehensten Dämonen; diejenigen, deren Aussehen nicht einem Albtraum glich.
Jun Renyi hatte alle anderen aus seiner Stadt verbannt.
„System, bin ich hier richtig?", fragte er, erwartete aber keine wirkliche Antwort.
Das Interface öffnete sich neben ihm, leuchtete rot und verschmolz fast mit dem Blutregen.
[Kill Liu Shijia]
Er seufzte.
[Kill Liu Shijia]
Das war alles, was das System seit einigen Tagen von sich gab. Er hoffte nur, dass sich die Situation wieder normalisieren würde, wenn er diese Figur fand und den Auftrag des Systems ausführte.
Er als Dämon konnte Hai Tun nicht friedlich aufsuchen, um herauszufinden, wer hinter dem Namen ‚Liu Shijia' steckte und daher stand er nun hier. Mitten auf den Straßen von Heiguang, der Hauptstadt der Dämonen.
Ob er diese Stadt wieder verlassen würde, ohne dass Blut an seinen Händen klebte, würde sich noch zeigen.
Mit weiten Schritten durchquerte er die Straßen. In nur wenigen Fenstern brannte noch Licht und auch der Mond zeigte ihm den Weg nicht an. Aber seine Augen waren gut, die Sinne geschärft. Er fand sich auch ohne einen Lichtschimmer zurecht.
Vor der hohen Mauer, die den Palast von der restlichen Stadt abgrenzte, blieb er stehen. Er öffnete die Tür, ohne anzuklopfen.
Ein junger Dämon stand unter dem Vordach, um sich vor den Blutregen zu schützen, und fuhr nun zusammen. Er verstärkte den Griff an seiner Lanze und rief: „Gongzi, Ihr dürft hier nicht einbrechen."
Hua Li schnaubte nur, achtete aber nicht weiter auf ihn. Er folgte dem Pfad, der zu dem Eingang des Palastes führte.
„Gongzi", rief der Wachmann ihm hinterher und im nächsten Augenblick ertönten Schritte hinter ihm. „Ihr braucht eine Erlaubnis, um hier zu sein."
Hua Li ging weiter. Sofern der Junge nicht seine Waffe zog und ihn angriff, gäbe es auch für ihn selbst keinen Grund, zu solch drastischen Mitteln zu greifen.
„Bleibt doch –"
Hua Li stieß die Tür zum Palast auf. Er fand sich in einer weiten Eingangshalle, die von Kerzen erleuchtet war, wieder. Weder achtete er auf die kunstvollen Gravuren im Holz oder auf die Muster in dem Stein. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Person, die am Ende der Halle auf dem Thron saß.
„Jun Renyi", brachte Hua Li zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er durchquerte die Eingangshalle, bis er vor dem Dämonenkönig stand, während Jun Renyi sich die ganze Zeit nicht bewegte und ihn nur stumm musterte.
Der Thron war um einige Stufen erhöht, aber selbst, wenn Jun Renyi direkt vor Hua Li stehen würde, hätte er aufsehen müssen. Auf den ersten Blick mochte der Dämonenkönig Furcht einflößen – die Statur groß und breit –, aber die Züge waren gütig und in den Augen lag Ruhe. Ruhe, die sogleich Hua Lis Herz packte und die er noch im selben Moment abschüttelte.
„Ich verlange zu wissen, wo sich Liu Shijia aufhält", sagte er. Was sollte er dieses Gespräch auch unnötig in die Länge ziehen?
Jun Renyis Augenbrauen hoben sich leicht. Dämonen waren nicht für ihre Höflichkeit bekannt, doch selten wagte es einer von ihnen, in diesem Ton mit ihrem König zu sprechen.
Sein Blick schweifte an Hua Li vorbei und richtete sich auf die Wache, die mit ihm den Palast betreten hatte.
„Verzeiht mir, Eure Majestät." Der Wachmann warf sich auf die Knie. „Er ließ sich nicht von mir stoppen." Er schlug die Stirn mehrfach auf den Steinboden und murmelte jedes Mal: „Ich hätte ihn aufhalten müssen. Verzeiht."
Jun Renyi erhob sich und stieg die Stufen des Thrones hinab. Jeder Schritt hallte im Saal wider, jeder Schritt wohlgesetzt.
Hua Li streckte sich, wollte den Größenunterschied so weit wie möglich ausgleichen und bereitete sich darauf vor, ihm die Stirn zu bieten.
Aber Jun Renyi achtete zunächst nicht auf ihn. Er ging einfach an ihm vorbei und widmete sich dem Wachmann.
Hua Li stieß ein Schnauben aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch auch so gelang es ihm nicht, die Aufmerksamkeit des Dämonenkönigs auf sich zu ziehen.
Jun Renyi griff den Wachmann am Arm und zog ihn auf die Füße. „Knie nicht, mein Kind", sagte er. „Du hast nichts falsch gemacht."
Er zog ein Tuch hervor und tupfte dem jungen Dämon Blut von der Stirn. „Lass dir die Wunde versorgen und ich kümmere mich um unseren Gast."
Erst jetzt bemerkte Hua Li, dass er von Kopf bis Fuß in das Blut des Regens getaucht war. Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht halbwegs sauber und strich sich die Haare nach hinten.
Der Wachmann nickte und nahm das Tuch mit zitternden Händen an. „Vielen Dank, Eure Majestät", sagte er. Er verbeugte sich tief und hastete aus dem Saal.
Einige Augenblicke sah Jun Renyi ihm noch nach, ehe er sich Hua Li widmete. „Und du, mein Kind, du suchst Liu Shijia?"
Hua Lis Blick verdunkelte sich. „Ich bin nicht dein Kind."
Falls Jun Renyi der Ton missfallen hatte, so zeigte er es nicht. „Du kennst ihn?"
„Nicht direkt", gab Hua Li zu. „Aber es ist wichtig, dass ich ihn finde."
„Mir liegt viel an ihm." Jun Renyi warf ihm einen Blick zu, von dem Hua Li nicht wusste, ob er abschätzig oder gleichgültig war. Er blieb vor ihm stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ich werde dir nicht verraten, wo er sich aufhält."
Der Entschluss stand fest.
Hua Li schnaubte. Wenn Liu Shijia dem Dämonenkönig so viel bedeutete, dann konnte es sich bei der Figur nur um einen hochrangigen Dämon handeln. Doch ihm fiel niemand ein, der den Namen trug. Er wollte gerade das System fragen, da fiel ihm ein, dass es ihm ohnehin nicht antworten würde.
„Ich erinnere mich an dich", sagte Jun Renyi. „Du hast Jiaoji übernommen."
Hua Li nickte. Obwohl der dämonische Adel sich stets um die Gebiete des Reiches stritt, hatte niemand Jiaoji für sich beansprucht und daher hatte sich die ungeliebte Stadt willens in Hua Lis Arme begeben.
„Um mich geht es hier nicht", sagte Hua Li. Der Dolch – Hong-er hatte Hua Li ihn getauft – an seinem Gürtel zitterte, wartete nur darauf, dass er zum Einsatz kommen durfte.
Jun Renyi betrachtete ihn mit ausdrucksloser Miene und schwieg einige Sekunden lang. „Ich denke, hier geht es um dich, selbst wenn es dir gar nicht bewusst ist, mein Kind. Du trägst so viel Verbissenheit in deinem Herzen."
Hua Li gab dem Blick nicht nach. Es wirkte fast, als würde um ihn eine dunkle Wolke wabern, die alles Licht verschluckte. „Wenn du mir schon nicht sagst, wo er sich befindet, kannst du mir dann wenigstens sagen, wer er ist?", versuchte er die Aufmerksamkeit wieder auf das eigentliche Thema zu lenken.
Jun Renyi neigte den Kopf, wägte ab, ob er antworten sollte. „Ein Verbündeter", sprach er. „Ein Verbündeter, der sich zur Ruhe gesetzt hat und nicht mehr mit Angelegenheiten des Krieges belangt werden möchte. Von niemandem. Er hat uns in vorherigen Gefechten unterstützt und für uns auf der gegnerischen Seite spioniert; er hat uns mit vertraulichen Informationen versorgt, aber lange blieb sein Tun nicht unbemerkt."
Jung Renyi seufzte. „Er wurde erwischt, ausgehorcht und eigentlich zum Tode verurteilt, aber ein Kultivator erwies ihm Gnade und nahm ihn bei sich auf. Nur deshalb lebt er noch. Im Gegenzug musste er schwören, dass er sich von jedem Dämon und von allem, was mit dem Krieg in Verbindung steht, fernhält."
Hua Li musterte ihn. Für gewöhnlich hätte er einen solchen Dialog als unnötige Exposition angekreidet, die darüber hinaus noch vollkommen aus dem Nichts kam und eigentlich gegen Jun Renyis Wunsch, Liu Shijia zu beschützen, stand. Der einzige Grund, weshalb er sich nicht beschwerte, war, da ihm diese Informationen sehr gelegen kamen. Falls er nichts Weiteres aus dem Dämonenkönig herausbekommen würde, könnte er Liu Shijia vielleicht auf anderem Wege finden. So eine Hintergrundgeschichte hatte schließlich nicht jeder.
Aber es erinnerte ihn wieder einmal daran: Dies war nur ein Spiel und die Person, die vor ihm stand, nur ein NPC.
Hua Li verengte die Augen. „Ich bin nicht hier, um wieder abzuziehen", sagte er. „Nicht, solange ich nicht erfahren habe, was ich wissen möchte. Ich frage also nochmal: Wo finde ich ihn?"
Jun Renyi stieß einen weiteren Seufzer aus. „Du willst mich umbringen, wenn ich es dir nicht sage?"
Hua Li nickte. Wenn er diesen Weg gehen musste, dann würde er ihn auch gehen. Sein Gegenüber war letztlich nur eine Ansammlung von Einsen und Nullen, die es gelernt hatte, zu sprechen.
Jun Renyi hob die Brauen. Er hatte zwar gefragt, aber so eine unverblümte Antwort hatte er nicht erwartet. „Und das hältst du für den richtigen Weg?"
„Richtig und falsch sind nur Begriffe, die von jeder Perspektive unterschiedlich bestimmt werden", antwortete Hua Li. „Solange ich an mein Ziel komme, ist der Weg, den ich einschlage, der richtige."
„Du sprichst weise und töricht in einem, mein Kind. Du –"
„Ich bin nicht dein Kind!", rief Hua Li und trat einen Schritt auf ihn zu. Die Gebärde sollte drohen, aber er sah aus wie ein Kind, das mit seinem Vater stritt. Das eine, das er eigentlich vermeiden wollte.
Jun Renyi legte den Kopf schief und musterte Hua Li nur. Und wieder einmal hielt Hua Li dem Blick stand. Alles in ihm wand sich, drängte ihn, sich abzuwenden. Aber er gab nicht nach.
Jun Renyi fuhr fort: „Du sprichst von einem Ziel, aber kennst du deines überhaupt? Hat der Weg ein Ziel oder ist letztlich der Weg nicht das Ziel selbst?"
Hua Li hatte schon geahnt, dass es nicht einfach wäre, den Dämonenkönig zum Antworten zu bringen, aber philosophische Diskussionen gingen ihm nun doch zu weit.
Was sollte es überhaupt bezwecken? Jun Renyi wollte ihn als Kind sehen, ihm eine Hand auf den Kopf legen und bei jedem seiner Sätze sagen: Irgendwann wirst du schon erwachsen und lernst, was richtig ist. Und das, was er für richtig hielt, war selbstverständlich nur sein eigener Weg.
Hua Li biss die Zähne zusammen. Hong-er an seinem Gürtel bat ihn, endlich dem Drang nachzugeben, ihn zu ziehen. Aber Hua Li beruhigte ihn. Noch nicht, redete er ihm ein. Noch nicht.
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Jun Renyis Lippen. Er wandte sich ab und schüttelte den Kopf. „Du kamst nie her, um mit mir zu sprechen. Von Anfang an hast du dich darauf eingestellt, mich zu töten."
Es war keine Frage.
Er hat seine Meinung über mich gebildet. Selbst wenn ich ihm etwas anderes erzähle, würde er mir nicht glauben.
Und war nicht Jun Renyi am Ende derjenige, der recht behielt? War Hua Li nicht hier, um ihn zu töten?
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