Blumen blühen im Regen II

Das Sonnenlicht weckte Apio am nächsten Tag. Er brummte und zog sich die Decke über den Kopf.

Am letzten Abend war es spät geworden. Sehr spät. Sie hatten Stunden um Stunden geredet, über alles, was ihnen eingefallen war und trotzdem nicht alles gesagt, was gesagt werden musste.

Noch während sie durch die Korridore des Herrenhauses gegangen waren und sich Hua Li noch verstohlen die letzten Tränen von den Wangen gewischt hatte, hatte sich Apio erinnert, dass es da noch etwas gab, über das er mit Hua Li reden musste.

„Hua Li", sagte er. Er hatte den Namen zuvor kaum ausgesprochen, doch nun fand er gefallen an dem Klang, an der Art, wie er sich auf seiner Zunge anfühlte.

Er streckte die Hand nach ihm aus, aber Hua Li blieb schon stehen und wandte sich um. Die dunklen Augen glitzerten noch immer leicht feucht und waren gerötet. Apio hätte ihn am liebsten sofort wieder in den Arm genommen.

„Wohin gehen wir?" Das war nicht die Sache, über die er mit ihm sprechen wollte, aber nichtsdestoweniger etwas, das geklärt werden musste.

„Zu ..." Hua Li deutete den Korridor entlang und fing den Satz erneut an. „Wir haben uns seit gestern Abend nicht mehr gesehen und ich dachte, vielleicht hast du Hunger. Ich habe etwas vorbereiten lassen."

Apio seufzte nur. Gerade hatte er zwar noch den Dämon in den Armen gehalten, aber nun waren die Rollen wieder wie zuvor und Hua Li war derjenige, der sich um ihn kümmerte.

Hua Li wandte sich schon wieder ab und wollte weitergehen, aber Apio hielt ihn am Ärmel zurück. „Da gibt es etwas, über das ich gern mit dir sprechen würde", sagte er. „Ich weiß, wir sind beide noch ein wenig aufgewühlt und gerade ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt, um über ernste Themen zu reden, aber ... aber ich glaube, dass einige Dinge trotzdem deutlich ausgesprochen werden müssen, und das habe ich schon viel zu lange vor mich hergeschoben."

Hua Lis Adamsapfel hüpfte auf und ab. In seinem jetzigen Zustand malte er sich vermutlich das Schlimmste aus. „In Ordnung", sagte er vorsichtig. „Wollen wir vielleicht woanders hingehen? Der Flur ist ein wenig offen."

Apio nickte. Die tausenden Ecken, hinter denen alles mögliche lauern könnte, hatten ohnehin ein Unwohlsein in ihm ausgelöst.

Er folgte Hua Li einen Korridor weiter und dort in ein Zimmer. Es kam ihm vage bekannt vor – ein Bett und eine Kommode standen in dem Raum und an der gegenüberliegenden Seite war eine Terrassentür, die auf einen Balkon führte.

Es war genau der Raum, im dem Apio aufgewacht war, nachdem Hua Li ihn das erste Mal bei sich aufgenommen hatte.

Das Klicken, als die Tür sich hinter ihm schloss, holte ihn aus seinen Überlegungen. Er wandte sich zu Hua Li um und bevor er lange darüber nachdachte und Zweifel aufbaute, sagte er das eine, das er schon vor langer Zeit hätte sagen sollen.

„Ich bin Liu Shijia."

Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er traute sich kaum, Hua Li anzusehen. Wie würde er auf diese Nachricht reagieren? Wäre er zornig, weil Apio es ihm nicht schon viel früher gesagt hatte? Hua Li war ohnehin schon in keiner guten Verfassung. War diese Information der eine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte?

So im Nachhinein betrachtet, hätte er vielleicht erst sagen sollen, dass er ein Spieler war.

Hua Li zuckte mit den Schultern. „Ich weiß."

Er ... er wusste es? Wie? Warum? Seit wann?

Apio brachte in seiner Verwirrung nur ein „Huh?" hervor.

„Ich habe es schon von Anfang an geahnt und bei Hai Tun hat sich meine Vermutung dann bestätigt. Als du bewusstlos warst, habe ich dir ein wenig von meinem Qi gegeben, wie du weißt."

Apio nickte.

„Und ich habe ein wenig von deinem genommen. So gelangte ich zu dem Verzeichnis, in dem alle Kultivatoren aufgelistet sind und fand dort deine Identität heraus. Und das alles, während ich dich auf meinem Rücken getragen habe."

„Oh." So lange also schon. „Warum hast du nie was gesagt?"

„Ich hielt es nicht für wichtig."

Nicht für ...? Gott, es war doch der einzige Grund, weshalb sie sich in erster Linie kennengelernt hatten.

„Ich hätte es dir erzählen können", fuhr Hua Li fort, als er Apios Verwirrung bemerkte. „Aber es hätte doch nichts geändert. Ob nun Xiaoge oder Liu Shijia, die Person dahinter bleibst immer du."

„Du weißt schon, dass ich nicht Xiaoge heiße, oder?"

„Natürlich, Xiaoge."

Apio seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Von diesem Spitznamen würde er sich nie befreien können.

„Ist das alles, worüber du mit mir sprechen wolltest?"

Apio ließ die Hände wieder sinken. „Nein, da ist noch eine Sache." Er räusperte sich. Wie sagte man dies nun am besten?

... So wie das vorherige auch. Einfach gerade raus, ohne sich lange Gedanken zu machen, was es für beide bedeutete.

„Ich bin auch ein Spieler." Die Stimme klang fremd in seinen Ohren. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. „Tut mir leid, dass ich es nicht früher gesagt habe."

„Du musst dich nicht entschuldigen", sagte Hua Li. „Ich konnte es mir schon denken."

Was?

Was??

War Apio so ein offenes Buch? War er so leicht zu lesen?

„Wie?"

„Da gibt es einige Zeichen, die doch sehr deutlich waren."

Apio hob eine Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.

Hua Li schenkte ihm ein Lächeln. „Deine Wortwahl. Du sagst Dinge wie ‚okay' und ‚hi'. Das hätte keine Figur hier je gesagt."

„Oh ..."

„Dann dein Verhalten. Die Figuren hier wirken so konstruiert. Sie blinzeln nicht, ohne dass man es ihnen vorgibt. Sie gehen keinen Schritt, wenn ihnen nicht gesagt wurde, dass sie ihn gehen sollen. Und du warst anders. Von Anfang an warst du anders."

Er stieß sich von der Wand ab und kam auf Apio zu. Mittlerweile hatte er sich wieder gefangen und sein ausgeglichenes Gemüt war zurückgekehrt.

„Dann bist du wirklich Raposa?"

Hua Li nickte. „Kein besonders kreativer Name, aber ich fand ihn passend."

„Das System hat mir gesagt, dass ich vor dir fliehen soll."

Hua Li blieb einige Schritte von Apio entfernt stehen. „Und mein System hat mir gesagt, dass ich dich töten soll."

Apio zuckte zusammen. Dann war es wahr? Dann hatte er mit seinen Spekulationen richtig gelegen?

„Aber als ich dich getroffen habe, wusste ich sehr schnell, dass ich den Auftrag nicht ausführen möchte", sagte Hua Li.

Apio ließ die Luft entweichen, von der er gar nicht bemerkt hatte, dass er sie angehalten hatte.

„Hast du etwas anderes von mir gedacht?", fragte Hua Li.

„Nicht direkt", gab Apio zu. „Es ist nur schön, dass das jetzt aus der Welt geschafft ist."

Danach hatten sie noch mehr geredet. Und noch mehr. An die genauen Themen erinnerte sich Apio gar nicht mehr. Es war so viel gewesen.

Irgendwann hatten sie aufgehört zu reden – selbst da standen die Sterne schon hoch am Himmel und der Mond spendete silbernes Licht. Und was danach kam ... Allein wenn er zurückdachte, spürte er fast das Gefühl auf seiner Haut.

Hitze, die sich von seinen Lippen aus in seinem gesamten Körper ausbreitete. Finger, die sich in seine verschränkten und sich niemals wieder lösen wollten. Eine Hand, die auf der Grenze des Anstandes balancierte, sie immer wieder prüfte, aber nie überschritt.

Und er hörte fast die Geräusche aus jener Nacht. Stockende Atmung, schweres Keuchen. Eine tiefe Stimme, die ihm mal neckende, mal beruhigende Sätze ins Ohr flüsterte.

Der Geschmack auf seiner Zunge war anfangs noch süß gewesen und hatte sich im Laufe der Nacht zu salzig geändert.

Beide hatten geweint. Weshalb eigentlich?

Und wie waren sie überhaupt eingeschlafen? Apio erinnerte sich nicht daran, dass sie sich voneinander gelöst hatten. Vielleicht hat die Erschöpfung sie beide einfach irgendwann übermannt.

Apio streckte den Kopf unter der Decke hervor. Neben ihm, nur wenige Zentimeter weiter, lag Hua Li, die Augen noch geschlossen. Er trug nur noch eine schwarze Unterrobe – der Rest seiner Kleidung lag auf dem Boden verteilt. Aber es war nicht so, als hätte er Apio diesen Gefallen nicht erwidert.

Als Apio Hua Li betrachtete, fragte er sich eine Sache: Wie alt war er eigentlich? Er hatte gemeint, dass dieser Körper seinem realen sehr ähnlich war, also schätzte Apio ihn auf Mitte zwanzig, vielleicht ein wenig älter. Aber sicher war er nicht.

Hua Lis Lider zitterten kurz, ehe er sie aufschlug. Er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren – sicherlich gingen ihm die Ereignisse der letzten Nacht ebenfalls durch den Kopf.

Sein Blick fiel auf Apio und er flüsterte: „Guten Morgen."

„Ich glaube nicht, dass es noch morgens ist."

Hua Li lachte leise. „Möglich." Seine Miene wurde schnell wieder ernst. „Wie fühlst du dich? Bist du verletzt?"

„Mir geht es gut", sagte Apio. Nach allem gab es keinen Grund, weshalb es ihm nicht gut gehen sollte. Keinen Grund außer ...

Der Überschuss an dämonischem Qi brachte ihn ins Ungleichgewicht. Noch verhielt es sich ruhig, aber es wartete nur darauf, auszubrechen.

Hua Li hob eine Hand und legte sie an Apios Wange, fuhr mit den Fingerspitzen sanft auf der Haut entlang und hinterließ eine angenehme Wärme. Er strich über Apios Hals, über das Schlüsselbein und zeichnete eine unsichtbare Linie zwischen den leichten Rötungen.

„Tut mir leid deswegen", sagte er.

„Mir macht es nichts aus", sagte Apio mit einem Lächeln. Er lehnte sich vor und drückte seine Lippen auf Hua Lis Wange, zog sich aber kurz darauf schon zurück und stand auf. Zu lange sollte er nicht liegen bleiben, wenn er nicht riskieren wollte, dass noch mehr dämonisches Qi in seinen Körper gelangte.

Er streckte seine Arme nach oben und seine Schultern knackten dabei. Langsam wurde er wohl alt. „Ich weiß, was ich als nächstes machen möchte", sagte er.

Hua Li bemerkte, dass die Zeit der Entspannung nun vorbei war, und erhob sich ebenfalls. „Ich bin ganz Ohr, Xiaoge."

„Ich sollte Hai Tun noch einmal einen Besuch abstatten; nun, da ich weiß, wer für den Angriff verantwortlich ist, hört er vielleicht an, was ich zu sagen habe, und wenn nicht er, dann vielleicht jemand anderes am Hof; jemand anderes könnte Unterstützung schicken und dabei helfen, Bai Tian wieder aufzubauen und zu beschützen, und ..."

Er hatte alles in einem Atemzug gesprochen und holte nun tief Luft. „Und wenn ausreichend Kultivatoren anerkennen, dass Hai Tun etwas gegen Ying Diao tun muss, dann kann er auch nicht länger untätig bleiben. Und Ying Diao wird dann seiner gerechten Strafe zugeführt. Ich möchte keine Rache und keine Selbstjustiz. Ich möchte, dass er sich vor dem Gericht der Kultivatoren für seine Taten verantworten muss. Die Richter sollen über sein Schicksal entscheiden und nicht ich oder sonst jemand."

„Auch nicht du", ergänzte Apio schnell, als er eine Regung in Hua Lis Augen aufblitzen sah, die prophezeite, dass er dem Angreifer am liebsten selbst den Kopf abreißen würde.

Moment ... Hatte er Hua Li überhaupt schon gesagt, dass Ying Diao ein Spieler war?

„In Ordnung", sagte Hua Li, ehe Apio den Gedanken vertiefen konnte. „Darf ich dich begleiten?"

Apio wog ab. Mit dem Dämon gesehen zu werden, würde seinen Ruf – der ohnehin schon im Keller war – noch weiter schmälern, aber ... er wollte nicht schon wieder vor einer Abzweigung stehen, bei der er den einen und Hua Li den anderen Weg nehmen würde.

„Gern", sagte Apio. „Nur überlasse mir am besten das Reden."

„Natürlich, Xiaoge", sagte Hua Li. „Ich möchte doch nicht, dass du meinetwegen in Schwierigkeiten gerätst."

Das ist doch schon lange geschehen.

„Ich kann Xiong Mao vorschicken, damit wir den bestmöglichen Augenblick abpassen können", sagte Hua Li. „Dann tauchen wir dort auf, wenn auch Xuan Wu aus Shan Shui oder Wei Yuncai aus Bing Yang anwesend sind."

Apio blinzelte zweimal. Wer?

Hua Li bemerkte Apios Verwirrung und erklärte: „Sowohl Xuan Wu als auch Wei Yuncai sind die einzigen unter den Kultivatoren, die auf mich einen ganz aufrechten Eindruck machen. Xuan Wu ist die einzige Frau, die eine Sekte führt und ihre Sekte – Shan Shui – ist die einzige, die nur Frauen aufnimmt. Meines Wissens ist sie Hai Tun ein Dorn im Auge und sammelt im Hintergrund Verbündete gegen ihn. Und Wei Yuncai führt eine Sekte sehr weit im Westen und hat sich fast vollständig von weltlichen Angelegenheiten abgeschottet, aber soweit ich weiß, unterstützt er Xuan Wu."

„Hm." Apio strich sich über das Kinn. „Und wenn wir mit Xuan Wu in Kontakt treten, ohne Hai Tun vorher nochmal aufzusuchen?"

Hua Li schüttelte den Kopf. „Sie ist sehr vorsichtig damit, zu wem sie Kontakt pflegt und wird sich nur finden lassen, wenn sie gefunden werden möchte. Heißt: Wir müssen zunächst ihre Aufmerksamkeit auf uns lenken."

„Verstehe." Um das Treffen mit Hai Tun führte also kein Weg vorbei. Apio neigte seinen Kopf. „Dafür, dass du Kultivatoren nicht besonders magst, weißt du aber ziemlich viel über sie."

Hua Li zuckte mit den Schultern. „Man sollte seine Feinde kennen."

Und zu genau einem dieser Feinde mussten sie nun aufbrechen. Apio konnte nur hoffen, dass sich die Szene mit dem obersten Kultivator nicht wiederholen würde. Noch einmal würde er es nicht verkraften, ihn bei ... so etwas zu unterbrechen.


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