Alte Bekannte in einer fremden Welt II
„Ying Diao?", fragte Apio. „Man brachte mich zu Euch, damit wir uns unterhalten können." Er zwang sich zu einem Lächeln und hoffte, dass sein Gegenüber sich nicht an ihn erinnerte. „Darf ich eintreten?"
Ying Diao musterte ihn, machte aber keine Anstalten, ihn ins Zimmer zu lassen.
„Ich bin ein Kultivator und kann Euch mit Sicherheit helfen", wiederholte Apio. Heimlich ließ er schon Energie durch seinen Körper zirkulieren und sammelte sie in seiner Handfläche. Die dämonische Energie, die Hua Li ihm am Vortag gegeben hatte, sollte sich als nützlich erweisen und auch Apios eigenes Qi floss allmählich wieder ungehindert.
Im Falle eines Angriffs könnte er sein Gegenüber dann einfach von den Füßen schleudern ... hoffentlich. Aber er nahm sich vor, die Energie nur im Notfall einzusetzen. Mit Schrecken blickte er immer noch auf die Übungspuppe zurück, die er ohne jede Anstrengung in der Mitte gespalten hatte. Da wollte er nicht wissen, was er noch alles anstellen konnte.
Ying Diao grunzte und stieß die Tür auf.
Apio holte tief Luft und trat ein. Der Raum lag im Halbdunklen. Die Vorhänge waren zugezogen und nur ein schmaler Spalt ließ Sonnenlicht hinein und gewährte Apio einen Anblick dessen, was sich im Inneren abspielte.
Möbel waren umgestoßen und in ihre Einzelteile zerlegt. Der Boden war an einigen Stellen aufgebrochen, der Stein an den Wänden abgesplittert.
Nur in der Mitte stand noch ein Tisch – das einzige Unversehrte im Raum. Doch auf diesem Tisch lag ein Körper. Ein Körper, dessen Kleidung blutgetränkt war und dem eine Hand fehlte.
Makiro.
„System, wer ist das?", hörte er den Mann hinter sich fragen, der nun die Tür schloss.
Apio erstarrte, wagte es nicht einmal, sich umzudrehen, oder gar zu atmen. System? Hatte er sich verhört?
Von dem System kam jedoch kein Laut, sodass Ying Diao schnaubte und sich an Apio wandte. „Wie war noch gleich dein Name?"
„Apio", antwortete Apio. „Nur ein wandernder Kultivator." Seinen Hofnamen verschwieg er und ebenso, dass er aus Bai Tian stammte.
Er trat einige Schritte in den Raum und wich gleichzeitig vor Ying Diao zurück. „Qi-Deviation?", fragte er. Alle Anzeichen waren da: Die Zerstörungswut, die Stärke; und gleichzeitig war er in diesem Augenblick vollkommen ansprechbar und wirkte fast normal, abseits der Unfreundlichkeit und der Tatsache, dass er mit dem System sprach.
Oder ... Apio stockte. Wenn Ying Diao ein Spieler war – daran bestand kein Zweifel – konnte er dann überhaupt eine Qi-Deviation erleiden? War nicht eine viel näherliegende Erklärung, dass er eine Aufgabe von dem System erhalten hatte?
Und wenn diese Aufgabe – ähnlich wie auch bei Hua Li – ihn selbst beinhaltete ...
Apio schluckte. Er hatte sich willens in die Höhle des Löwen begeben.
Shit.
„Nein", beantwortete Ying Diao die Frage und stieß ein weiteres Schnauben aus.
„Nicht?", hakte Apio nach und tat unschuldig. „Darf ich mir Euer Qi ansehen?" Er streckte die Hand aus.
Ying Diao betrachtete sie nur und hob eine Augenbraue.
„Ich möchte nur sichergehen, dass Ihr wohlauf seid", erklärte Apio.
Schweigen legte sich über das Zimmer und Apio ließ seine Hand sinken, da sein Gegenüber offensichtlich kein Interesse hatte, sein Qi messen zu lassen.
Ying Diao durchbrach die Stille. „Bist du bescheuert!?", fuhr er ihn an.
Apio zuckte zusammen und wich zurück.
„Ich erinnere mich an dich! Ich warf dich von einem Berg und du hast mitangesehen, wie ich deine Sekte ausgelöscht habe! Du siehst mich mit einer Leiche und ich sage dir, dass es keine Qi-Deviation war! Und trotzdem willst du mir noch helfen!? Verdammte NPCs!"
„Gongzi, verzeiht, wenn ich Euch erzürnt habe", sagte Apio und ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Bezeichnung als NPC kränkte – Verhielt er sich so NPC-haft?
„Du hast mich nicht erzürnt. Diese ganze verfickte Welt ist es, die mich erzürnt! Und jetzt verschwinde!"
„Gongzi", sprach Apio. „Ich bin hier, um Euch zu helfen, also lasst mich Euch helfen." Er streckte von neuem die Hand aus, aber wieder schnaubte Ying Diao nur.
„Solange du nicht weißt, wie ich ihn", er deutete auf Makiros Leiche, „wieder zum Leben erwecke, kannst du mir nicht helfen."
„Ihr wollt aus ihm einen Geist machen?", fragte Apio. Eine Sache der Unmöglichkeit. Kultivatoren stärkten ihre Seelen so, dass sie nach dem Tod auch tot blieben – in den meisten Fällen zumindest. Einige wenige Begebenheiten hatten sich schon ereignet, in denen ein Kultivator kurz vor seinem Tod solche Ungerechtigkeiten erfahren hatte, dass er freiwillig zu einem Geist geworden war, um Rache zu nehmen.
Makiros Seele war aber schon lange im Jenseits. Nichts konnte ihn wieder zum Leben erwecken.
„Mehr oder weniger", sagte Ying Diao. Nun offenbar wieder ruhiger. Vielleicht weil er das Gefühl hatte, das Apio ihm lauschte und doch dazu imstande war, ihm zu helfen. „Ich möchte seine Seele endgültig zerstören. Da ich noch nicht daran gedacht hatte, als ich ihn umgebracht habe, muss ich es nun nachholen."
Apios Kehle schnürte sich zu. „Aber warum?", fragte er. „Warum wollt Ihr ihm auch noch die Seele nehmen?"
Er schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. Für Kummer war hier kein Platz. Später, sagte er sich. Später konnte er um den Jungen trauern.
Seine Brauen schoben sich zusammen. „Ich könnte Euch helfen", sagte er. Eine Lüge, die bitter auf seiner Zunge schmeckte. „Aber ich möchte zunächst wissen, was Eure Gründe sind."
„Du würdest es nicht verstehen", sagte Ying Diao. „Aber wenn du darauf bestehst, dann erkläre ich es dir trotzdem. Ich muss ihn umbringen, damit ich von hier fort gelange und meine Tochter wiedersehe. Ich gehöre hier nämlich nicht her. Diese ganze Welt ist nicht meine und dieser Körper ist nicht meiner. Ich bin nicht Ying Diao und ich muss in meine Welt zurück, damit mein Mädchen überlebt. Da ich aber noch hier bin, obwohl ich ihn getötet habe, reicht es wohl nicht aus und seine Seele muss auch zerstört sein."
Apio schluckte schwer. Hätte er zuvor noch Zweifel gehabt, dass sein Gegenüber ein Spieler war, so waren diese Zweifel nun fortgeweht. Und mehr als noch das: Apio erkannte, was hier vor sich ging.
Wie auch das System Hua Li aufgetragen hatte, eine Figur mit dem Namen ‚Liu Shijia' zu suchen, so hatte auch Ying Diao einen solchen Auftrag erhalten. Und da er in Bai Tian aufgetaucht war und jeden dort umgebracht hatte ... Wie könnte Apio nicht glauben, dass er das Ziel des Angriffes war?
Ying Diao glaubte allerdings, dass Makiro die Figur war, die er töten sollte – dachte vielleicht sogar, dass es sich bei ihm um einen Spieler handelte. Und weshalb dies?
Apio konnte nur spekulieren – und wenn er ehrlich war, war diese gesamte Theorie nur Spekulation. Seine Vermutung: Er selbst war der einzige Spieler, der wirklich hier sein sollte und jeder normale Spieler hätte sich natürlich die Rolle des Protagonisten ausgesucht und nicht die irgendeines Antagonisten, der in den ersten Spielstunden starb.
Die Frage, die noch blieb: Wie hatte Ying Diao erfahren, dass er in Bai Tian nach ihm suchen musste?
Apio holte tief Luft und sah ihm fest in die Augen. „Ich werde Euch nicht helfen", sagte er. Er verstand, dass Ying Diao nur in seine Welt und zu seiner Tochter zurückkehren wollte, doch dafür eine Seele zu zerstören, wenn es doch ohnehin keinen Nutzen tragen würde ... Das konnte er nicht über sich bringen.
„Lasst ihn ruhen", sagte Apio. „Und gewährt ihm eine Bestattung. Oder überreicht ihn mir und ich kümmere mich darum."
Ying Diaos Blick verhärtete sich. „Ich werde dich nicht einfach gehen lassen. Entweder du hilfst mir oder ich bringe dich um. Sind wir mal ehrlich, um dich wäre es nicht schade."
Apio ignorierte den leichten Stich in seinem Herzen. Er wiederholte: „Ich werde Euch nicht helfen" und wappnete sich für den Angriff, auf den er nicht lange warten musste.
Ying Diao schnellte auf ihn zu und wollte ihn mit einem kräftigen Schlag ausschalten, aber Apio war vorbereitet. Er riss seine Hand hoch und stieß sie Ying Diao gegen die Brust. Kurz vor dem Auftreffen reduzierte er seine Kraft um die Hälfte. In ihm zirkulierte in diesem Moment schließlich nicht nur seine eigene, sondern auch Hua Lis Energie und er wollte sein Gegenüber nicht ernsthaft verletzen, geschweige denn töten; nur so weit ausschalten, dass er selbst verschwinden konnte.
Nun, da er wusste, wer genau Bai Tian angegriffen hatte und Makiros Leiche sogar als Beweis herhalten konnte, musste Hai Tun doch etwas gegen ihn tun.
Glaubte er, dass der oberste Kultivator so handeln würde? Nicht wirklich, aber was hatte er schon zu verlieren?
Die Energie schmetterte gegen die Stelle, die Apio getroffen hatte. Im letzten Augenblick, als Ying Diao bemerkte, dass sein Gegenüber nicht ohne einen Gegenschlag sein Schicksal akzeptieren würde, hatte er ebenfalls die Hand gehoben und den Schlag direkt entgegengenommen.
Nur half es nichts.
Obwohl Apio nur die Hälfte seiner Kraft nutzte, schleuderte er Ying Diao durch das Zimmer und gegen die Wand. Er rutschte zu Boden und erbrach einen Mundvoll Blut, ehe er in sich zusammensackte und regungslos liegen blieb.
Apio selbst taumelte nur ein paar Schritte zurück und blickte auf seine Hand. War ich das? Nein, nein, bestimmt nicht. Sicherlich liegt es an Hua Lis Energie, dass ich ihn so leicht besiegen konnte. Hua Li ist wirklich bemerkenswert.
Er stockte bei dem Gedanken. Was zur Hölle, Apio?!
Ying Diao keuchte auf, bewegte sich. Seine Augen öffneten sich langsam und er blickte sich im Raum um. Einige Sekunden brauchte er, um sich zu orientieren, doch dann fiel sein Blick auf den Kultivator, der immer noch im Zimmer stand.
Ein Säbel blitzte auf.
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