Aller Tage Abend II

„Shixiong, wir sollten ..." Weiter kam Apio nicht.

Ein Geräusch erklang hinter ihm. So leise, dass ein gewöhnlicher Mensch es gar nicht wahrgenommen hätte. Doch weder Apio noch Shulang waren gewöhnliche Menschen.

Shulang reagierte zuerst. Mudian blitzte auf und schoss auf denjenigen zu, der versuchte, sich vergeblich im Unterholz anzuschleichen. Doch die Klinge traf nicht und flog zurück in Shulangs Hand. Die Brauen hatte er finster zusammengeschoben und wartete auf den nächsten Schachzug des Gegners.

Apio legte eine Hand an sein Schwert, doch auf ein leichtes Kopfschütteln Shulangs ließ er sie wieder sinken.

Es schützt, es verteidigt, es hütet, hallten Shulangs Worte des Vortages nach, aber es wurde nicht zum Töten geschmiedet.

Apio schluckte hart ... und zog Qiufeng trotzdem. Nur weil er es führte, musste er nicht gleich töten. Nicht immer musste zu töten die einzige Verteidigung sein. Auf diese Art musste er sich nicht auf Shulang verlassen und sich wie eine Prinzessin vor dem bösen Drachen beschützen lassen.

Schritte ertönten. Wohlgesetzt und langsam.

„Shulang, Shulang." Eine wohlbekannte Stimme hallte durch den Wald. Kam aus allen Richtungen, warf mehrere Echos auf die Anwesenden.

„Ich wusste schon immer, dass du irgendwann ein Dorn im Auge sein wirst. Zu schade, dass es so schnell kommen musste."

Unwillkürlich rückte Apio näher an Shulang.

Nie hätte er geglaubt, dass der oberste Kultivator sich die Hände schmutzig machen würde, doch nun führte er den Angriff an und hatte aus eigenem Antrieb seine Gegner aufgesucht.

„Was nun?", fragte Apio. Er sprach leise, in der Hoffnung, dass Hai Tun ihn nicht hören würde, doch vor einem Kultivator mit einer derartigen Kultivierungsbasis konnte man nichts verbergen.

„Ihr könntet euch einfach ergeben", schlug Hai Tun vor, der Ton nicht anders, als würde er mit alten Vertrauten plaudern und sie auf eine Tasse Tee einladen. „Ihr könntet Xuan Wu überzeugen, sich auszuliefern und dann alle gemeinsam als Hochverräter verurteilt werden. Klingt das nicht großartig?"

Nein, ganz und gar nicht.

Apio warf Shulang einen Blick zu. Sie waren nur zu zweit und wenn Hai Tun wusste, wo sie sich aufhielten, dann würde auch bald der Rest der Angreifer folgen, wenn er nicht schon längst ebenfalls dort war. Gegen die gesamten Kultivatoren konnten sie nicht bestehen, ungeachtet, wie machtvoll Shulang auch sein mochte.

Shulang schob die Brauen zusammen. Das Schwert ließ er gezückt, die Angriffshaltung gab er nicht auf.

„Nun gut", sagte Hai Tun. „Ich ahnte schon, dass ihr für eure Überzeugungen in den Tod gehen würdet. Eine Schande, Shulang. Einst versprachst du einer der besten Kultivatoren zu werden, doch so aufmüpfig wie du bist, kann ich dich nicht gebrauchen."

Eine Klinge blitzte auf. Shulang hob Mudian und wehrte den Schlag ab. Seine Brauen blieben finster zusammengeschoben, die Lippen fest aufeinandergepresst.

Er stieß ein Schnauben aus, das für gewöhnlich Spott und Arroganz getragen hätte, doch nun nur ein Ausdruck seiner Erschöpfung war. Er wollte nicht kämpfen.

„Komm raus aus den Schatten", sagte er. „Und stelle dich mir."

Schritte von links.

Apio hörte sie zwar, doch Shulang war schneller. Ehe Apio die Situation ganz erfassen konnte, war der Großmeister schon in die Richtung verschwunden, aus der das Geräusch gekommen war.

Und Apio stand allein auf der Lichtung.

Allein in vermutlich hunderten, wenn nicht gar tausenden Angreifern, die nur darauf warteten, sich auf ihn zu stürzen. Dabei hatte er gerade erst Vertrauen darin gefasst, dass Shulang wirklich etwas an seinem Wohlbefinden lag.

Er packte Qiufengs Griff fester.

„So treffen wir uns also wieder."

Bei dem Klang der Stimme stellten sich Apios Nackenhaare auf. Wenn er eine Person niemals wiedersehen wollte, dann war es derjenige, der sich nun zu ihm gesellt hatte.

Er schüttelte die Angststarre ab und wirbelte herum. Gerade rechtzeitig, um einen Säbelschlag zu parieren, der ihm ansonsten den Kopf vom Rumpf getrennt hätte.

„Ying Diao", begrüßte Apio ihn, versuchte den Worten Leichtigkeit zu verleihen, zu verbergen, dass er sich am liebsten umdrehen und flüchten würde.

Er scheiterte. Seine Stimme zitterte, seine Handflächen begannen zu schwitzen. Sein Griff an Qiufeng verstärkte sich weiter, bis die Knöchel an seiner Hand weiß hervortraten.

„Liu Shijia", antwortete Ying Diao. Er wich, sichtlich unzufrieden, dass sein erster Angriff fehlgeschlagen war, einige Schritte zurück, behielt aber weiterhin seinen Säbel in der Hand. „Oder sollten wir nicht anfangen, die Masken ganz fallen zu lassen? Du weißt, wer ich bin und ich kenne auch deinen Namen, Conejo."

Apio zuckte zusammen. Seit einer Ewigkeit wurde er schon nicht mehr mit diesem Namen angesprochen, der für ihn damals alltäglicher als sein echter Name war. Das System hatte ihn stets ‚Spieler' genannt, die anderen Figuren immer ‚Apio' oder ‚Liu Shijia'. Doch nie hatte jemand seinen Accountnamen benutzt.

„Conejo ...", murmelte Apio. Wer hatte Ying Diao diesen Namen verraten? Niemand außer ihm kannte ihn. Niemand außer das System.

Apio schluckte. Dann hatte sich das System nun letztlich gegen ihn gestellt und bewiesen, dass einem Computerprogramm nicht zu trauen war.

Ein Kloß formte sich in seinem Hals und er konnte nicht einmal sagen, weswegen es ihn so traf. Das System war ihm von Anfang an feindlich gesinnt gewesen und hatte alles daran getan, dass er seinen Tod fände. Warum hatte er also geglaubt, dass es ihm ein Freund sein könnte.

„Mir scheint, du täuschst dich", sagte Apio. „Ja, du weißt, wer ich bin, aber ich kenne deinen Namen nicht."

„Hal–", setzte er an, wurde aber unterbrochen.

Eine Klinge tauchte aus dem Nichts auf, gefolgt von rotem Stoff, der im Wind flatterte.

„Hat er dich verletzt?", rief Hua Li ihm zu. Wie es aussah, war er Apio und Shulang gefolgt, für den Fall, dass etwas schiefgehen würde. Und dieses ‚Schiefgehen' war eingetroffen.

Ehe Apio aber zu einer Antwort ansetzen konnte, sprach Ying Diao an seiner Stelle.

„Raposa", sagte er. „Endlich treffen wir uns einmal. Ich habe schon viel von dir gehört."

Hua Li knirschte mit den Zähnen. „Ich von dir tatsächlich kaum etwas. Offenbar bist du niemand Wichtiges."

Das saß.

Nun war es Ying Diaos Miene, die sich verfinsterte. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte er sich auf Hua Li, aber der Dämon wich aus. Auch ein zweiter Angriff verfehlte und auch ein dritter.

Mehrere Meter hatten sie sich von Apio entfernt, ohne, dass Hua Li selbst seinen Dolch geschwungen hatte.

Erst da bemerkte es Apio: Hua Li lockte Ying Diao fort. Fort von Apio, damit er nicht in den Kampf involviert war.

Hey, ich kann auch kämpfen!, wollte er rufen, doch seine Stimme versagte nach dem ersten Laut. Denn die Wahrheit war: Er konnte nicht kämpfen. Das eine Mal, dass er sich gegen Ying Diao geschlagen hatte, war pures Glück gewesen. Er hatte ihn überrascht – das war alles.

Nichtsdestoweniger riss er sich aus der Starre. Er musste Hua Li doch helfen. Irgendwie musste er ihm helfen. Und wenn alles, was er tun konnte, nur am Rand zu stehen und mit Pompons zu wedeln war, er musste hoffen, dass das ausreichte.

Die beiden Kämpfenden waren mittlerweile jedoch im Unterholz verschwunden. Nur das Geräusch von aufeinandertreffenden Klingen hallte im Wald wider und verriet, dass der friedliche Herbstwald zu einem Schlachtfeld geworden war.

Apio stürmte ihnen nach ... und kam zu einem abrupten Halt, als sich direkt vor ihm ein türkises Fenster öffnete und eine roboterartige Frauenstimme anfing zu sprechen.

[Wir entschuldigen uns wegen der Unannehmlichkeiten. Der Support arbeitet daran, dieses Problem zu beheben.]

...

Es traute sich tatsächlich nochmal aufzutauchen?

War Apio auch stets – halbwegs – freundlich zu dem System gewesen, nun ließ er seinem Zorn freien Lauf. Für den Verrat hatte es nichts anderes verdient.

Apios Hand schnellte nach vorne und traf auf das Display zu. Zu seiner Überraschung wich es nicht aus.

Seine Hand traf auf das Was-auch-immer-für-ein-Material-das-System-benutzte – es fühlte sich zumindest kalt und glatt wie Glas an – und packte es. Unter seinem Griff entstanden leichte Risse.

„WILLST DU MICH VERARSCHEN?!", schrie er. „DASS DU MICH TÖTEN WILLST, OKAY, ABER WARUM NOCH ALLE ANDEREN MIT HINEINZIEHEN?! MACH ES RÜCKGÄNGIG! MACH ES SOFORT RÜCKGÄNGIG!"

Das System antwortete nicht und auf dem Display zeigten sich nur langsam drei Punkte.

[...]

„ANTWORTE MIR! VERDAMMT NOCHMAL, ANTWORTE MIR!"

[Es ...]

„SYSTEM!" Apios Griff verstärkte sich. Er kratzte all seine Zurückhaltung zusammen, nicht mit Fäusten auf das System einzuschlagen.

[Wir ...]

„RAUS MIT DER SPRACHE!" Es konnte ihm keiner sagen, dass dem System – eine Ansammlung aus Einsen und Nullen, die nur dafür gemacht war, ihn zu peinigen – die Worte fehlten.

[Wir haben versagt.]

Was?

[Wir ... wir konnten sie nicht aufhalten.]

Das klang nun gar nicht nach dem, was er erwartet hatte.

„Wer sind sie?" Apio lockerte seinen Griff, aber die Risse im Display blieben.

[Die ... die anderen.]

„Die anderen?"

Und da erkannte Apio es.

Er erinnerte sich daran, als Hua Li von seinem System gesprochen hatte. Dass das System nie auftauchte, sobald Hua Li oder Ying Diao in der Nähe waren. Die beiden anderen Spieler hatten den Auftrag bekommen, ihn zu töten, während ihn das System ständig vor ihnen gewarnt hatte.

Konnte es sein?

Gab es ... mehrere Systeme?

Und wenn ja, warum hatten sie sich ausgerechnet gegen ihn verschworen?

„Du bist nicht das einzige System?", fragte Apio vorsichtig.

Das System antwortete nicht. Es formten sich nur wieder drei Punkte auf dem Bildschirm.

[...]

Drei Punkte, die mehr bedeuteten, als Worte es könnten.

Apio stieß ein Seufzen aus. „Und warum sind sie jetzt hier? In diesem Spielstand und in keinem der vorherigen?"

[Weil Sie noch hier sind.]

Damit konnte Apio nun gar nichts anfangen.

[Weil Sie die Entwicklung des Spieles verhindern, indem Sie sich nicht befreien können, wurde entschieden, dass Sie entfernt werden müssen.]

Apio schwieg kurz. Das ergab doch keinen Sinn. Das System war der einzige Grund, weshalb er hier gefangen war und sich ‚nicht befreien' konnte. Wenn es ihn gehen ließ, dann war das Problem gelöst und niemand müsste sterben.

[Und ...]

Apio seufzte lautlos. War doch offensichtlich gewesen, dass die Erklärung dort nicht aufhörte.

[Und wegen unseres früheren Versagens, Sie bei dem Verlassen des Spieles zu unterstützen, wollen sie unseren Freund wegnehmen.]

Das war es also. Und dieser Freund, von dem das System sprach, konnte niemand anderes sein als ... Apio.

„Hat man dir schon mal gesagt, dass man etwas, das man wirklich liebt, gehen lassen muss?", fragte er.

[Das haben wir mittlerweile gelernt. Aber wir können Sie nicht gehen lassen, weil ...]

„Shifu?"

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