Aller Anfang ist schwer II

Mit mehr Schwung als notwendig gewesen wäre, riss Apio die Tür zum Tempel auf. Er holte tief Luft, um sich für das Gespräch mit Shulang zu widmen, und trat ein. Die Hitze von draußen hatte das Innere noch nicht eingenommen, sodass er nun in der nassen Kleidung, die schnell auskühlte, fror.

Der Vorhang, der den hinteren Teil des Tempels verborgen hielt, hob sich und der Großmeister kam hervor.

„Ah, Apio, wie schön, dass –" Er brach ab, als er Apio sah und musterte ihn von oben bis unten. Von den zerzausten Haaren, über die verdreckte und durchnässte Robe, bis zu dem ausgefransten Saum. Eine Furche bildete sich auf seiner Stirn. „Wie siehst du denn aus?" Er faltete die Hände hinter dem Rücken und hob die Augenbrauen. „Dass eine so einfache Aufgabe dir solche Schwierigkeiten bereitet ..." Er ließ den Satz offen und schüttelte nur den Kopf.

„Shiye." Apio senkte den Blick und hielt dem Großmeister die Gießkanne hin. „Das Wasser für die Blumen. Wie Ihr es verlangt habt." Diese katzbuckelige Art, die er an den Tag legen musste, hatte ihm schon immer missfallen, aber solange er das Tutorial nicht abgeschlossen hatte, konnte er es sich nicht leisten, aus der Rolle zu fallen. Später, sobald er das erste Mal die Mauern verlassen hatte und das System nicht länger jeden seiner Schritte akribisch genau überwachte, dann konnte er seine Grenzen austesten.

Shulang verzog das Gesicht. Er nahm die Gießkanne mit spitzen Fingern entgegen und stellte sie so schnell wie möglich auf dem Boden ab. Hastig zog er einen Stofffetzen aus seinem Ärmel und wischte die Hand ab, ehe er ihn wieder verschwinden ließ.

Das Systemfenster öffnete sich und ein heller Glockenschlag erklang. Erleichtert atmete Apio auf. Die erste Quest war abgeschlossen und damit hatte er sein Ticket aus dem Tutorial verdient. Einhundert Punkte brauchte er und diese Quest hatte ihm stets mehr als genügend beschert.

[Herzlichen Glückwunsch, Spieler], sagte die blecherne Frauenstimme. [Somit haben Sie Ihre erste Quest erfolgreich abgeschlossen. Sie können diese und jede folgende Mission jederzeit wiederholen. Dazu müssen sie nur die notwendige Option im Menü auswählen.]

[+10] schwebte durch Apios Sichtfeld und ehe er sich fragen konnte, wo die zweite Null war, setzte das System wieder ein.

[Für das erfolgreiche Abschließen der Quest erhalten sie 10 OC-Punkte. Derzeitiger Punktestand: 20]

„System?", fragte Apio. „Zehn? Nur zehn?"

[Falls Sie Schwierigkeiten mit der Verständlichkeit haben, können Sie im Menü jederzeit die Stimmen ändern. Zur Auswahl steht ihnen System-Mark, System-Alexa und System-Nadja (default). Falls Sie es bevorzugen –]

„Schon gut, System", sagte er. „Das ... Das reicht erstmal an Informationen." Das Systemfenster schloss sich daraufhin, ohne noch einen Ton von sich zu geben.

„Wie es mir scheint, bist du in keiner guten Form mehr, Apio", riss Shulang ihn aus seinen Gedanken.

„Eh?" Apio sah auf. Ein leichter Stromschlag fuhr durch ihn hindurch und ein dumpfes Dröhnen ertönte kurz, ehe das Systemfenster sich erneut öffnete.

[Lieber Spieler, soeben haben sie eine OC-Regel-Verletzung begangen. In diesem Fall eine Handlung, die nicht Ihrer Figur entspricht.]

[-10] flog durch das Bild, ehe das Systemfenster sich schloss.

Mobbing, dachte Apio. Nichts anderes fiel ihm zu dem System ein außer: Das ist doch absolutes Mobbing.

Notgedrungen senkte er den Blick wieder und murmelte „Was auch immer Ihr sagt." Die verlorengegangenen Punkte könnte er nicht wieder retten, doch zumindest wollte er sicherstellen, dass er die wenigen, die er noch besaß, auch behalten dürfte.

Shulang wandte sich ab und schritt durch den Tempel. „Wie du weißt, findet morgen das Auswahlverfahren der neuen Rekruten statt und ich halte es für das Beste, wenn du dich ihnen in den Trainingseinheiten anschließt."

Apio hob den Blick ein Stück und musterte Shulang, wie er weiterhin im Raum auf und ab schritt. „Um die neuen Schüler zu überwachen, richtig?", fragte er.

„Nein, Apio", meinte der Großmeister und kam vor ihm wieder zum Stillstand. „Du sollst die Aufnahmeprüfung gemeinsam mit ihnen abschließen. Das wird dir sicherlich guttun." Er musterte erneut die klägliche Gestalt seines Gegenübers. „Es hat keinen Einfluss auf deine Stellung hier, doch ich möchte sehen, ob du uns noch gut vertreten kannst."

Apio traute seinen Ohren kaum. Er sollte mit kleinen neunjährigen Kindern üben. Als erwachsener Mann. Doch gerade der Gedanke, dass es sich dabei nur um einen schlechten Scherz handeln konnte, überzeugte ihn vom Gegenteil.

„Du erscheinst unsportlich", fuhr Shulang fort. „Ich bezweifle, dass du überhaupt noch weißt, wie man mit einem Schwert umgeht oder ausreichend Kraft hast, um einen längeren Kampf durchzustehen."

Apio sah an sich hinab und widerstand dem Drang, mit dem Zeigefinger in seinen Bauch zu pieken. Noch nie hatte er das Gefühl gehabt, dick zu sein, doch Shulang hatte seinen Standpunkt mehr als deutlich gemacht. Und wenn er an den Aufstieg zum Tempel zurückdachte, dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er war tatsächlich unsportlich und hatte weder Kraft noch Ausdauer.

„Schau dich nur mal an", sprach Shulang weiter. „Wenn dich eine einfache Aufgabe schon so zurichtet, dann mag ich mir gar nicht ausmalen, was geschieht, sollten wir mal angegriffen werden. Und falls du mal an einer Nachtjagd teilnimmst, dann würde ich doch vor Sorge um dich sterben. Ich könnte dir nicht einmal einen Schüler anvertrauen, weil ich nicht sicherstellen kann, dass du in der Lage bist, auf ihn zu achten. Verstehst du meine Furcht?"

Apio behielt seinen Blick gesenkt und schluckte. „Ja, das verstehe ich, Shiye."

„Und wie du weißt, warst du mir stets sehr wichtig und ich wollte immer nur das Beste für dich", sagte Shulang.

An diesem Satz fand Apio mehr Falsches als Richtiges, aber er erstickte seinen Protest und murmelte nur: „Ja, das weiß ich. Und ich schätze sehr, wie viel Ihr schon für mich getan habt." Die Sätze legten Bitterkeit auf seine Zunge, doch er verzog das Gesicht nicht und hielt an der Aufrichtigkeit fest.

„Dann vertraue mir in dieser Sache", sagte der Großmeister. „Du hast nichts zu befürchten und mit Sicherheit können die Kinder auch einiges von dir lernen."

Apio nickte und gab vor, den spöttischen Unterton nicht gehört zu haben. Letztlich war es eine Gelegenheit ihn vorzuführen und nichts anderes. Shulang wusste, dass Apios Fähigkeiten mehr als nur mangelhaft waren, und dies wollte er den Rekruten zeigen. Eine Chance, sie anhand eines schlechten Beispiels zu motivieren, die Ausbildung ernst zu nehmen, damit sie nicht zu dem Wrack wurden, das man ihnen zur Schau stellte.

„Sicherlich", murmelte Apio. Der folgende Tag würde ihn so sehr demütigen, dass er sich jetzt schon in einer Decke zusammenrollen und die nächsten Wochen verschlafen wollte.

„Sehr gut", sagte Shulang und trat einen Schritt an ihn heran. „Ich glaube fest an dich." Er legte eine Hand auf Apios Kopf und tätschelte ihn. Eine Geste, als würde er einen Hund loben oder einem Kind zu verstehen geben, dass es etwas gut gemacht hatte, doch keinesfalls eine Art, wie man mit einem erwachsenen Menschen umgehen sollte.

Unwohlsein kroch Apio den Rücken herunter und ließ seine Nackenhärchen aufstehen, aber ehe er einen Schritt zurückweichen und sich der Berührung entziehen konnte, ließ der Großmeister bereits von ihm ab.

Mit einem angewiderten Ausdruck betrachtete er seine Hand, denn Schmutz und Wasser hatte sich an ihr festgesetzt. Anstatt aber den Stofffetzen erneut hervorzuholen, beließ er es dabei, die Hand von sich zu strecken, als wäre sie nun kontaminiert und nicht länger zu gebrauchen.

„Dann bis morgen", sagte er und rümpfte die Nase. „Ich erwarte dich um sechs hier oben. Und sei besser pünktlich. Wir wollen schließlich nicht, dass du den Neuen ein schlechtes Vorbild bist."

„Natürlich", antwortete Apio. „Dann werde ich nun gehen", sagte er und richtete sich auf. Er gab dem Großmeister noch ein höfliches Nicken und verließ den Tempel.

Draußen schlug ihm die Hitze entgegen und trieb ihm sofort wieder Schweiß auf die Stirn. Er seufzte leise und setzte sich in Bewegung. Zurück zu seiner Hütte, um dort darüber nachzudenken, wie er dem Ereignis am folgenden Tag aus dem Weg gehen könnte.

Der Abstieg fiel ihm um einiges leichter als der Aufstieg. Die Stelle, an der das Geländer herausgebrochen war, ließ ihn frösteln und seine Schritte beschleunigen. Instinktiv fragte er sich, ob die herunterfallenden Steine irgendjemanden getroffen hatten, doch er schüttelte nur den Kopf, denn ihm fiel ein, dass niemand in dieser Welt so viel Pech hatte wie er selbst.

Sobald sein Fuß den sicheren Boden berührt hatte, ertönte ein leises Klingeln und eine Zahl schwebte durch sein Sichtfeld. [+1]

Apio stockte. Er hob die Füße an und betrachtete sowohl Boden als auch Sohle, weil er glaubte, dass er vielleicht ein kleines Tier zertreten hatte und das System ihn mit einem Punkt belohnte. Doch er fand nichts.

„System", fragte er und wartete, bis das türkise Fenster sich öffnete, um mit seiner Frage fortzufahren: „Wofür gab es den Punkt?"

[Für besondere Bemühungen.] Dies war alles, was das System dazu sagte, ehe sich das Fenster wieder schloss und Apio mit seiner Frage allein ließ.

Er schüttelte den Kopf und ging weiter. Die Mittagszeit war bereits angebrochen und die Straßen belebter als morgens. Die Menschen, denen er auf dem Weg begegnete, tuschelten bei seinem Anblick.

Er beschleunigte die Schritte und senkte den Blick gen Boden, doch die Stimmen begleiteten ihn weiterhin. Die Ruhe seiner Hütte war das Einzige, das ihn davor bewahren könnte. Er wollte sich einfach unter seiner Decke verstecken und mit diesem Tag abschließen, auch wenn der morgige nicht versprach, besser zu werden.

Mitten auf dem Weg blieb er stehen und hob den Kopf. Nein, so kann es doch nicht laufen, dachte er. Wie konnte er sich einfach den Fügungen des Systems hingeben, ohne zu kämpfen? Wie konnte er es einfach so hinnehmen, den anderen Figuren als Fußabtreter zu dienen?

Er wollte nicht so auf sein Ende warten. Denn eines wusste er: Er hatte bisher keinen Weg gefunden, das Spiel zu überleben und wenn er doch ohnehin nichts zu verlieren hatte, dann konnte es doch auch nicht schaden, nach links und rechts zu schauen und auf ungewissen Pfaden zu wandeln.

Der Gedanke ließ ihn schauern. Er senkte den Kopf wieder und ging weiter. Ganz verdrängen konnte er die Überlegung nicht, ungeachtet, wie sehr sie ihn auch ängstigte.

Wenn er nur einen Schritt zu tief ins Wasser watete, dorthin, wo er den Grund nicht mehr sah, könnte sein Fuß abrutschen und er untergehen. Niemand in dieser Welt würde ihn retten.

Er hastete die Straße entlang und bog auf den kleinen Pfad ab, der zu seiner Hütte führte. Bald verhallten die Stimmen der Menschen in der Ruhe des Waldes und Apio konnte endlich die aufgestaute Anspannung abschütteln. Hier schien ihm die Welt nicht länger trostlos oder gefährlich. Hier gedieh nur Frieden und er konnte für einen Augenblick alle Lasten vergessen, die das System ihm aufbürdete.

Doch je näher er seiner Hütte kam, desto weiter zog sich die Ruhe zurück. Ein Geräusch durchbrach die Stille und übertönte das Gezwitscher der Vögel, das Rascheln der Blätter und das Knirschen von Apios Schritten.

Metall schlug auf Metall. Holz splitterte und kam auf dem Gras auf.

Apios Blick verfinsterte sich. Hin war Ruhe und Entspannung, denn irgendwer hatte sich ausgerechnet den Wald als Trainingsgelände ausgesucht, obwohl es noch tausende von anderen und besseren Möglichkeiten gab. Neben seiner Hütte befand sich ein kleiner abgegrenzter Platz, auf dem gerade einmal zwei Übungspuppen auf Metallstäben befestigt waren. Mehr stand Apio nicht zu und mehr wollte er auch gar nicht haben. Zu viele Schüler auf einmal würden ihn stressen.

Als er um die nächste Ecke bog, sah er auch schon, wer seine Ruhe störte und sein Blick verfinsterte sich weiter.

Makiro.

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