3
Die Mittagspause kam viel zu früh und viel zu früh hatte sich Sophie zu ihrer Geigenstunde verabschiedet. Ich sah sie noch auf den Musiksaal zu rennen, bevor ich mich umdrehte und ohne ein bestimmtes Ziel in Bewegung setzte.
Ich schlenderte durch das Haus, in der Hoffnung jemanden zu finden, den ich kannte, jedoch schienen diese Leute wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Mir kam die Idee, in die Bücherei zu gehen, jedoch war sie geschlossen und so landete ich schlussendlich im Schulgarten. Ein paar Blumen sprießten aus dem Boden und verwandelten das Gras ich ein bunt getupftes Feld.
Ich setzte mich in eine abgelegene Ecke; irgendwo wo mich für die nächsten zwanzig Minuten niemand finden würde. Eigentlich wollte ich etwas herumdösen und mit ein paar Freunden schreiben. Als ich jedoch in meine Jackentasche griff um mein Handy herauszuholen fand ich nur das jadefarbige Symbol.
Mein Handy befand sich zwar auch dort aber das interessierte mich in diesem Fall nicht. Ich konnte wieder diese unnatürliche Wärme spüren, die von ihm ausging. Irgendwo war mir bewusst, dass ich ja vorhin beschlossen hatte, Angst davor zu haben, allerdings hatte die Wärme etwas an sich, das mich beruhigte. Ich ließ ihn in meine Handfläche gleiten und las erneut die Buchstaben an der Seite. Ich wollte endlich verstehen, was es damit auf sich hatte und warum es mir so bekannt vorkam.
Ich lehnte mich zurück und begann über den 'Kompass' zu rätseln. Ich könnte schwören, die geschwungenen Linien bereits einmal gesehen zu haben. Aber wo? Und was hatte es zu bedeuten? Angestrengt durchforstete ich mein Gedächtnis und versuchte herauszufinden, warum es mir bekannt vorkam. Bald war ich in einer Art Starre gefangen. Meine Augen unbeweglich auf den Anhänger fixiert, meine Blick nach innen gerichtet, der angestrengt nach Antworten suchte.
Just in dem Moment, in dem ich glaubte gefunden zu haben, wonach ich suchte, überkam mich eine schlagartige Müdigkeit. Meine Augen wurden schwer und ich wollte mich nur noch hinlegen und schlafen. Alles um mich herum wurde undeutlich und weder meine Augen, noch Ohren oder sonst einer meiner Sinne war in der Lage, etwas eindeutiges auszumachen. Ich hatte nicht die Intention, dieses Gefühl zu bekämpfen, immerhin war ich unter anderem deswegen hier hergekommen, aber ich konnte mich ihm auch nicht ganz hingeben.
So hing ich eine Weile zwischen Schlaf und Wachsein herum, bevor das Wabern um mich herum langsam abwechselnd lauter und leiser wurde. Schließlich konnte ich einzelne Worte ausmachen und als sich meine Augen wieder öffnen ließen, konnte ich einen sterilen Raum erkennen.
Ich saß nicht länger in dem weichen Gras des Schulgarten, sondern spürte das unangenehme Gefühl, das man bekam wenn man zu lange auf einem harten Stuhl sitzt. Mein Kopf brummte etwas und ich stützte mich auf den Tisch vor mir. Was um alles in der Welt war denn jetzt passiert?
Warum saß ich jetzt auf einmal in einem dieser Konferenzräume für Firmenbosse? Und warum verdammt machte der Typ vor mir den Eindruck, als würde er sich gleich die Kugel geben? Ich schüttelte den Kopf und beschloss erst einmal einen groben Überblick zu erhalten. Um mich herum saßen Schüler, die tendenziell alle etwas älter waren als ich. Keiner von ihnen kam mir bekannt vor, bis ich meine Sitznachbarin erblickte. Als sich unsere Blicke trafen lächelte Issy trübe.
"Was mache ich hier?" flüsterte ich ihr panisch zu, bekam aber nur eine müde Aufforderung, noch eine Weile durchzuhalten.
Ich beschloss, nicht weiter nachzufragen, lehnte mich unauffällig zurück und beobachtete das Treffen des Schülerrats stillschweigend. Scheinbar ging es gerade um die Aufteilung des bereitgestellten Budgets, weswegen eine heftige Diskussion entbrannt war. Man konnte unschwer erkennen, dass der Kultusminister überfordert war.
Ich sah mich unauffällig um und entdeckte den Kompass, der vor mir lag. Irgendwo bildete sich eine Synapse in meinem Kopf und ich glaubte zu wissen warum ich hier war. Wie einer dieser Portschlüssel aus Harry Potter. Noch hatte ich zu viel Bammel, ihn erneut anzufassen, nachdem er mich das letzte mal hierher gebracht zu haben schien. Ich beschloss, die Frage auf später zu verschieben und meine Aufmerksamkeit zunächst auf die immer lauter werdenen Schüler zu richten.
Es dauerte nicht lange, bis der Minister die beiden trennte. Sie beschlossen, das Thema zu verschieben und sich zuerst etwas anderem zu widmen. Er erzählte uns davon, dass es immer wieder Beschwerden darüber gab, dass der Ansturm auf hohe Schulformen stetig größer wurde und viele Kinder unter dem Druck ihrer Eltern zusammenbrachen. Er machte auch klar, dass es nicht an uns lag, das Problem zu lösen, er sich lediglich eine zweite Meinung holen wollte.
Eine bedrückende Stille entstand in dem Raum und es wurden beschämte Blicke augetauscht. Jeder hier kannte diese Leute, die von ihren Eltern immerzu gedrängt wurden, die Höchstleistung zu erbringen. Auch ich.
Nach einer langen und aufgeladenen Pause ergriff der Minister das Wort.
"Soll das also heißen, dass niemand von euch von so etwas gehört hat und bei euch alles rund läuft?" fragte er leicht gereitzt, da er wusste, dass niemand sich traute zu reden.
Erneut trat eine unangenehme Stille ein. Ich runzelte die Stirn. Warum wollte denn jetzt keiner etwas sagen? Dies war doch die Chance, endlich seinen Freunden zu helfen! Hilfesuchend sah ich zu Issy, die nur zähneknirschend neben mir saß und offensichtlich stark mit sich rang. Einerseits konnte ich ihre Bedenken verstehen. Wenn sie nun sprechen würde würde sie nach Namen gefragt werden. Und niemand hier wollte seine Freunde verraten, zumal auch ich schon darum gebeten wurde, lieber zu schweigen.
Man konnte dem Mann ansehen, dass er bereits den nächsten Themenpunkt ansprechen wollte, als sich ein Junge zu Wort meldete.
"Ja. Da gibt es einige." flüsterte er gerade laut genug.
Ein zähes Gespräch entstand und immer wieder stellte der Minister die Frage, was wir vorschlagen würden, auf die niemand eine Antwort wusste.
Ich hatte mich die ganze Zeit über im Hintergrund gehalten. Mir brannten die Worte auf der Zunge, traute mich aber nicht, mich einzuschalten, bis der Beamte sich durch die Haare fuhr und mir wie ein verprügelter Hund vorkam. Das war bestimmt nicht die erste Sitzung zu diesem Thema gewesen. Und es würde bestimmt auch nicht die letzte sein.
"I-Ich hätte eine Idee." sagte ich schließlich mit zitternder Stimme.
"Vielleicht..." fügte ich noch kleinlaut hinzu, als sich plötzlich alle Blicke auf mich richteten. Mit einem Kopfnicken forderte man mich auf, sie doch der Allgemeinheit vorzustellen.
"Ähm...also ich weiß es nicht so genau, aber es liegt vor allem an den hohen Anforderungen, die die Arbeitswelt an die Schüler stellt. Es ist also ein viel weitreichenderes Problem." meinte ich vorsichtig.
Inständig bittend, dass der Minister mich nicht um genauere Herkunft dieser Annahme bat, fuhr ich kurzerhand fort.
"Es liegt vor allen Dingen daran, dass man sozial sehr schlecht angesehen wird, wenn man einen Beruf hat der keine allzu hohe Ausbildung erfordert." Ergänzte ich.
"Und was sollten wir ihrer Meinung nach dagegen tun?" fragte er mich ohne jegliche mitschwingende Stimmung. Ich hoffte einfach, er wollte es wirklich wissen.
"Nun ja. Man sollte das Schulniveau ein wenig anheben. Es sollte einfach möglich sein, mit jeder Art von Abschluss einen guten Beruf zu erlernen. Man bekommt immer das Gefühl, schlechter zu sein als alle anderen, wenn man nicht den höchstbesten Abschluss bekommt. Dabei sollten die verschiedenen Schulen nur auf andere Berufswege vorbereiten und nicht zwischen den 'schlauen' und den 'dummen' unterscheiden." schloss ich dann und bemerkte, wie ich die Luft scharf einsog.
Ich erwartete wirklich jede Reaktion außer der, die nun folgte. Der Kultusminister sah mich mit einem Blick an, der verriet, dass er gerade woanders war. Nach ein paar Sekunden löste er sich aus seiner Starre und sah mich eindringend an.
"Das haben sie gut gesagt, Mellawick." meinte er mit einem anerkennenden Nicken. Zu nichts anderem fähig, erwiderte ich es und versteckte mich dann wieder vor den Blicken der Anderen.
Als niemand dem gesagten noch etwas hinzuzufügen hatte, ging das Gespräch wieder in eine andere Richtung. Instinktiv griff ich nach dem Kompass.
Ich hatte zwar keine Ahnung woher ich das wusste, aber es überraschte mich nicht, als ich müde wurde und mein Gesicht in meine Hände legen musste, um nicht vom Stuhl zu fallen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top