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Im Leben gibt es viele unangenehme Dinge. Und mit unangenehm meine ich unangenehm. Nicht deprimierend, niederschmetternd oder einschneidend. Ich meine unangenehm. So unangenehm wie an einem viel zu frühen Morgen aus einem viel zu schönen Traum gerissen zu werden.
Während ich mühsam meine Glieder streckte wünschte mir mein Bruder einen guten Morgen und schüttelte nur lächelnd den Kopf, als er mich wach werden sah. Grummelnd erwiderte ich den Gruß und setzte mich schlaftrunken auf. Ismar verabschiedete sich und bald darauf hörte ich die Haustür zufallen.
Wiederwillig schlüpfte ich in ein paar Klamotten, die ich aus dem Schrank fischte und musste erst einmal der Versuchung wiederstehen, zurück ins Bett zu fallen, bevor ich barfuß in die Küche tapste. Mich empfing der wunderbare Duft von frisch gebackenem Brot und einem wohligen Kaffee. Sofort hob sich meine Laune und ich setze mich an den Frühstückstisch, wo meine Mutter und mein Vater bereits in ein Gespräch über einen Artikel in der Zeitung verwickelt waren. Sie wünschten mir ebenfalls einen guten Morgen, bevor auch schon die nächste Person den Raum betrat.
Gut gelaunt gesellte sich Ismars Freundin Issy zu uns und schnappte sich eines der noch warmen Brötchen.
"Ist Ismar schon weg?" fragte sie an mich gerichtet und ich nickte mit vollem Mund.
"Hat heute 'ne frühe Vorlesung die er nicht verpassen will." informierte ich sie bevor ich den Blick abwandte.
Ich mochte Issy. Wobei mögen der falsche Ausdruck ist. Bewundern trifft es wohl besser. Nicht nur war sie mutig und stark, sie war Mitglied des Regionalen Schülerrats und Schülersprecherin unserer Schule. Nicht zu erwähnen; dass sie die wohl beliebteste Schülerin der gesamten Schule war und dennoch bodenständig und freundlich blieb. Bis heute war es mir ein Rätsel wie sie das alles mit einem Freund unter Kontrolle behalten konnte, ohne ein totales Burnout zu bekommen. In meinen Augen war sie etwas wie eine Göttin. Unerreichbar und vollkommen, aber dennoch das Mädchen das neben mir am Tisch saß und ein Brötchen aß, so wie jeder andere auch.
Wir unterhielten uns locker über dies und das, lachten ein wenig, genossen unser Frühstück und machten uns dann gemeinsam auf den Weg zur Schule.
Es war einer dieser milden Sommertage, an denen ein wohliger Duft in der Luft lag, der immer die Stadt erfüllte wenn es wärmer wurde. Ich zog diesen wundervollen Geruch ein und ließ mich für einen Moment davontreiben, auf einer Woge von Träumerei und Fantasie. Issy ging es scheinbar ähnlich denn auch sie blieb einen Moment stehen, um den Duft wirken zu lassen.
"Das ist immer eine der schönsten Dinge am Sommer" meint sie nach einer kurzen Pause und sah mich dann lächelnd an. "Es ist so schön beruhigend." fuhr sie fort und entschuldigte sich sogleich dafür, abgeschwiffen zu sein. Ich winkte lächelnd ab und setzte mich wieder in Bewegung.
"Gibt es denn etwas weswegen du heute ruhig sein musst?" fragte ich sie neugierig.
Sie nickte.
"Heute ist eine Vollversammlung des Schülerrats und der Kultusminister ist anwesend" erklärte sie.
"Das ist an sich noch nicht so schlimm, immerhin ist er oft bei den Treffen dabei, aber diesmal hat Herr Richter mich darum gebeten, einen kleinen Zuschuss für die Schule auszuhandeln, weil der Kiosk renoviert werden soll und uns noch etwas Geld dafür fehlt." fuhr sie fort.
Ich überlegte kurz. Herr Richter war der Direktor unserer Schule und ein sehr netter Mann. Er war zwar hin und wieder etwas durch den Wind, aber das machte ihn meiner Meinung nach nur sympathischer. Dass der Kiosk eine Renovation mehr als nötig hatte war jedem bekannt und wir warteten alle seit Jahren auf eine Erneuerung.
Ich wusste zwar nicht wie genau diese Treffen abliefen, aber wenn ich unseren Kultusminister um einen Kredit fragen müsste wäre ich heillos überfordert. Ich konnte ja noch nicht einmal meine Eltern um Taschengeld fragen, ohne in Erklärungsnot zu gelangen.
Scheinbar war ich etwas zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, denn Issy atmete einmal tief ein und aus bevor wir weiter gingen.
"Ich weiß leider überhaupt nicht wie ich dir da helfen kann." sagte ich entschuldigend und setze eine reuevolle Miene auf.
Issy lachte kurz auf und winkte dann ab.
"Das ist auch überhaupt nicht deine Aufgabe. Ich schaff das schon." meinte sie lächelnd, aber ich konnte ihre Unsicherheit heraushören. Kurz überlegte ich, ob ich noch etwas dazu sagen sollte, beließ es dann aber dabei, zumal sie bereits das Thema gewechselt hatte.
Wir unterhielten uns ausgelassen über den anstehenden Tag, bevor wir auch schon an dem Tor unserer Schule ankamen. Ein paar Schüler befanden sich auf dem Hof und vertrieben sich die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn.
Plötzlich bemerkte ich wie unter meinen Schuhen etwas auftauchte, das sich nicht so anfühlte wie Kopfsteinpflaster sich anfühlen sollte. Überrascht senkte ich den Kopf und nahm meinen Fuß davon. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich etwas grünes neben meinen Füßen. Ich hob es vorsichtig auf und betrachtete es.
Zuerst dachte ich, es wäre ein Kaugummi oder so, jedoch entpuppte sich mein Fund bei genauerem ansehen als ein zerkratzes Emblem, das an einem verschlissenen Lederband hing. Überrascht sah ich es an und versuchte herauszufinden ob es vielleicht jemand verloren hatte.
"Ih, lass das lieber liegen. Wer weiß wo das schon war?" bemerkte Issy etwas angewiedert zu dem doch recht schäbig scheinenden Anhänger.
Zuerst war ich gewillt ihrer Aufforderung zu folgen, jedoch faszinierte mich die Farbe und die kunstvoll geschwungene Form. Ich wollte wissen was es bedeutete.
"Kennst du dieses Symbol?" fragte ich sie stattdessen, ohne den Blick abzuwenden. Ich hatte das Gefühl, es zu kennen.
"Nein, keine Ahnung was das ist, aber diese Anhänger findet man in jedem Souvenierladen." sagte sie schulterzuckend.
Ich nickte leicht und ließ die Kette in meiner Jackentasche verschwinden. Issy quittierte das mit einem skeptischen Blick, ließ es aber zu meinem Glück unkommentiert.
Wir wollten gerade das Gebäude betreten, als auf einmal ein lauter Schrei über den Schulhof hallte. Instinktiv blieb ich stehen und folgte dem Geräusch. In der Mitte des Hofes hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, in deren Mitte sich zwei Jungen gegenüberstanden und sich kampfeslustig anfunkelten. Ich verstand zwar nicht, was der Grund dafür war, aber wenn man diese beiden nicht gleich trennen würde, hätte die Krankenschwester heute einiges zu tun.
Ich war schon im Begriff einfach weiter zu gehen, als ich ein genervtes Stöhnen neben mir wahrnahm. Issy hatte ihre Hand an die Stirn gelegt und ihren Rucksack abgelegt.
"Man kann die auch echt keine zwei Tage davon abhalten sich die Köpfe einzuschlagen..." murmelte sie angestrengt, bevor sie mit schweren Schritten auf den Pulk zustapfte.
Sie drängte sich zu den beiden Kontrahenden vor und von da an hörte ich nur noch ihre laute Stimme über das Gelände hallen.
Ihre Worte zogen an mir vorbei wie Wasser an einer Alge, aber was ich mitbekam war, wie sie die beiden zusammenstauchte. Sie war mitten ins Kreuzfeuer gelangt und wurde fast von einer Faust erwischt, hätte sie nicht schnell genug reagiert und wäre ausgewichen. Begeistert sah ich dabei zu, wie sie die Jungen auseinander zerrte und sie ohne jegliche Gewalt zur Schnecke machte. Das war Issy. Das machte sie zur Göttin.
Dies war einer der Momente, an denen mir das Leben zeigte, wie ich nie sein werde. Ich bin nicht stark, mutig oder sprachlich bewandert. Ich würde niemals in der Lage sein einfach auf diese Zwei zugehen zu können, sie zur Rede zu stellen und ihnen Manieren einzubläuen. Meine Aufgabe war es, schweigend wegzugehen und die beiden ihre Angelegenheiten selbst klären zu lassen. Das macht Nisha so.
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