Zwei
»Mika«, er tippte ihr einmal kurz mit seinem Finger an die Schulter, »Mika«, wieder.
»Warte«, bat sie leise, »Gleich.«
Edward fuhr sich durch die dichten Haare, blickte über seine Schulter und seine eisblauen Augen fingen an zu glühen. Er konnte nun tun und lassen, was er wollte. Mika würde nicht so bald aus ihrer Welt erwachen. Sie stand nun schon seit einer halben Stunde in den Farnen des Waldes, abseits der Firma, starrte in den Himmel und beobachtete den Falken, der seine unendlichen Kreise zog.
»Mika«, seine Stimme war nun drängender, ohne dabei wirklich gehetzt zu klingen. Die Ruhe, die in ihr lag, war eine Unabdingbarkeit.
»Ed...«, bat sie leise, »Noch diese eine Minute.«
»Du bist schon eine von ihnen. Du bist ein Falke, Mika. Komm mit mir mit.« Er hielt ihr die Hand hin. Eine Geste, die selten vorkam, denn er mied jeglichen Körperkontakt, soweit das möglich war.
Mika nahm das erste Mal, seit einer gefühlten Ewigkeit, den Blick vom Himmel und sah Edward in die sanftmütigen Augen. Schweigsam legte sie ihre Hand in seine und ließ sich von ihm aus den Farnen führen. Ihre Schuhe waren durchtränkt von Matsch. Der Himmel hatte über Nacht geweint und im Wald eine nebelige und mystische Atmosphäre geschaffen. Eine Verlockung für Mika. Eine Gefahr für Edward.
Er konnte sich jetzt schon vorstellen, wie die Augen aller Kollegen sie verfolgen würden. Der Blick als erstes auf ihre Füße fallend. Das nie vergessene Kind in Mikas Herz erkennend. Sie waren zu spät aus der Mittagspause gekommen. Das waren sie jedes Mal, wenn es geregnet hatte. Der Wald war wie ein Magnet und Mika ihr Gegenstück. Es gab kaum etwas, das sie mehr anzog. Es war fast schon beunruhigend, wie sie in jeder Mittagspause wie besessen den kleinen Pfad entlanglief, das Gestrüpp und die Büsche aus ihrem Sichtfeld schob und unbeirrt gerade aus rannte, egal, wie tief sie in der feuchten Erde versank. Und Edward lief hinterher. Aus irgendeinem Pflichtgefühl heraus, als sei er an Mika gefesselt, mit einer unsichtbaren Kette. Ja, das war es, wie sich Edward fühlte. An Mika gefesselt. Seit dem ersten Tag, den sie miteinander gesprochen hatten. Aber vermutlich würde jeder dieses Gefühl kennenlernen, wenn er Mika traf. Sie hatte eine unerklärliche Ausstrahlung. Sie hatte eine Energie, mit der sie jeden Blick einfing, egal wo sie auftauchte. Die Köpfe drehten sich immer nach ihr um, egal ob sie eine Bäckerei betrat, einen von Menschen überfüllten Raum oder wenn sie einfach nur mal eben in den Bus stieg. Alle sahen sie an.
Mika war nicht auffallend schön. Sie war ein attraktives Mädchen. Sie hatte haselnussbraunes Haar, das ihr bis zu den Brüsten leicht über die Schulter fiel. Ihre großen Augen waren braun wie Schokolade und die vereinzelten Sommersprossen auf ihrer Nase ließen sie jünger wirken, als sie war. Sie war tatsächlich nur ein wenig über dem Durchschnitt, wenn man von der Optik ausging. Mika war 18 Jahre alt, sie war ein ungeheuer kluges Mädchen, aber Edward wusste, dass sie nicht gerne dazu stand und ihre clevere Ader lieber in naiven Dummheiten erstickte. Aber so war sie nun einmal. Mika war ein Freigeist. Sie liebte Abenteuer, sie liebte das Unberührte, das Unbekannte, sie liebte das, was eigentlich nicht sein konnte, das, was andere Menschen als Träume bezeichneten. Sie lebte ihre Träume. Sie lebte ihre Wünsche und vor allem lebte sie ihr Leben. Eine Gabe, die nicht viele Menschen besaßen und schon gar nicht so junge Menschen wie Mika. Und schon absolut nicht Edward.
Seine Welt war eine Nebelschwade. Sie zog sich durch düstere Ecken, erstickte ihn in Leere und ließ ihn über Ungerechtigkeiten und Brutalitäten grübeln. Oft spürte er seinen Kopf nur als volle Kugel auf seinem Hals, der zu platzen drohte, wenn er seine Gedanken nicht zur Ruhe rief. Im Gegenzug dazu war in seinem Inneren eine vollkommene Leere. Diese Leere vermochte nur Mika zu füllen, was er beim besten Willen nicht verstand. Edward war mit seinen 24 Jahren biologisch gesehen so viel weiter als Mika, aber doch hatte er das Gefühl, dass sie mit ihrem Unsinn und Irrsinn viel mehr geschafft hatte, als er, dass sie die Kunst des Lebens schon jetzt verstanden hatte. Wie viel sie doch auskosten konnte! Wie viel Zeit sie hatte, diese Erfahrung zu festigen und auszuleben. Und er? Edward fragte sich so oft, wann er endlich an den Punkt käme, an dem Mika angelangt war. Wann würde er endlich das sehen, was Mika sah? Wann würde er endlich die Farben in der unsichtbaren Luft schweben sehen und nach ihnen greifen können? Edward wusste, Mika war das Beste, was ihm hätte passieren können. Er wusste es, als sie an diesem einen Abend neben ihr am langen, überfüllten Tisch saß und Riza anschmachtete.
Jeder Fisch hätte erkannt, dass Mika sich vollkommen in diese Frau vernarrt hatte. Und das war, was Edward Sorgen machte. Was ihm wirklich richtige, große, schwere Sorgen bereitete.
Seine Hände fuhren über ihre weiche Haut, als sie die Tür zu seinem Büro betrat und die Tür hinter sich schloss. Er ließ die Gardinen an den Fenstern herab, damit die Arbeiter in den Büros nebenan nichts von dem Schauspiel in Mr. Sticks Raum mitbekamen.
»An Ihrer Stelle wäre ich vorsichtig, Mr. Stick«, stellte Mika vorsichtig klar und hob eine Braue, während sie sich unaufgefordert auf den gepolsterten Stuhl an Mr. Sticks Schreibtisch setzte. Sie stapfte absichtlich mit ihren schmutzigen Turnschuhen über seinen weichen Teppich und hörte dabei das Schmatzen des Matsches an ihren Sohlen. Ohne irgendein Gefühl des Triumphes wartete sie, dass er sich ihr gegenüber auf seinen Chefsessel setzte.
»Du weißt, ich lasse dir viel durchgehen, Mika«, ihr Chef sprach sie nur unter vier Augen bei ihrem Namen an. Sonst achtete er stets darauf, in jeder Hinsicht Distanz zu wahren. Heuchler. Mika amüsierte diese Tatsache nur bedingt. Sie kannte ihn so viel besser, als alle anderen in diesem verdammten, großen Komplex. Er war ein pädophiles Schwein. Schon als Mika mit ihren damals noch 16 Jahren angefangen hatte bei The Rylanders zu arbeiten, versuchte er ihr näher zu kommen. Damals war sie noch viel unbeholfener wie heute. Und damals, da steckte sie noch in einer tiefen Depression. Ja, damals, da hat sie noch nicht gelebt. Damals war sie noch nicht sie selbst. Damals war sie noch gefangen und heute – heute schlug sie ihm frech die Hand von sich, wenn er ihren nackten Hals streichelte oder zufällig ihren Po berührte. Jede andere Frau hätte sich seinen sinnlichen Berührungen hingegeben und hätte ihm willig die Beine gespreizt. Jede, da war sich Mika sicher und für nichts auf der Welt hätte sie ihre Hand sonst so bereitwillig ins Feuer gelegt. Denn Mr. Stick sah umwerfend gut aus – selbst in ihren Augen. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass zwischen seinen Beinen ein Schwanz und zwei Eier baumelten, vor denen sie beim bloßen Gedanken schon Brechreiz verspürte. Gut, vielleicht nicht direkt von seinem Schwanz, sondern viel eher von der Tatsache, dass er nahe an ihrem Verfallsdatum lag und sie sich nicht vorstellen wollte, wie sein Penis in dem Alter wohl aussah. Ihr Blick fiel auf seine Hand, die sein Alter verrieten, und sie fragte sich automatisch... nein, lieber nicht.
Mit festem Blick sah sie ihm wieder in die grauen Augen und er musterte sie nachdenklich.
»Du warst also wieder im Wald.«
»Sieht so aus«, Superhirn, hätte sie am liebsten noch hinzugefügt.
Er hob entwaffnend die Hände, als hätte er ihren unausgesprochenen Vorwurf doch gehört und ließ sie wieder sinken.
»Mika, du weißt, ich habe nichts gegen deine Vorliebe für Mutter Natur. Ich schlage dir dennoch für die Zukunft vor, dir Ersatzklamotten mitzunehmen. Ich kann dich so nicht arbeiten lassen.«
»Wieso?«, fragte sie, »Weil das den Ruf Ihrer noblen Abteilung stört? Ach, Mr. Stick!« Sie schüttelte den Kopf, wie eine Mutter, die ihren Sohn tadeln muss und erhob sich vom Stuhl, um in seinem Büro auf und ab zu laufen. Im Nu hatten sie die Rollen getauscht und Mika zog kurz an den Gardinen, um einen Blick auf die Abteilung freizulegen. Sie schielte kurz durch den Spalt, sie wusste, sein Blick haftete nur auf ihrem Arsch, der von dem langen T-Shirt verdeckt war. In ihr kitzelte die Aufregung. Sie wusste, dass sie sich mit jeder Geste und jeder Mimik und jedem Wort um einen Millimeter zu weit aus dem Fenster lehnte, aber sie würde es nicht tun, wenn sie nicht zu mindestens 99,99 % wüsste, dass sie bei Mr. Stick den Freifahrtschein schlechthin besaß. Sie ließ die Gardine wieder zu schnellen und drehte sich zu ihm um, wobei sie sich mit verschränkten Armen an die Wand lehnte. Ein guter Menschenbeobachter hätte in dieser Haltung erkannt, dass sie sich in seiner Nähe nicht besonders geheuer fühlte, aber ihre Ausstrahlung war zu selbstsicher, als dass so ein schwanzgesteuerter Unterbelichteter, wie Mr. Stick, ihre Abwehrhaltung wahrnahm.
»Mika...«, Mr. Stick erhob sich von seinem Sessel, kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich an ihm an. Mika stand am anderen Ende des Raumes, immer noch neben den Fenstern und den herabgelassenen Plissees. Es war genug Abstand zwischen ihnen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass er schon wieder ihre Distanzzone überschritten hatte. Mit einem Räuspern, das er nicht hören konnte, richtete sie sich wieder auf und ließ die Hände ruhig neben ihrem Körper hängen. Sie lehnte lässig mit dem Rücken an der Wand und sah ihn aus wachen Augen an.
»Du bist nach Jackson unser Küken bei The Rylanders. Ich würde den Teufel tun und unserem Ruf schaden, indem ich dich kündige.«
Klar. Die jungen Leute in The Rylanders sorgten für Gehör in der Umgebung. Jeder durfte hier auslernen, die vorherige Qualifikation war nicht von Relevanz. Und zu 80 % wurde man schließlich auch fest in der Firma eingestellt. Das war eines der Hauptkriterien, die The Rylanders so erfolgreich machte.
»Aber das ist nicht der Hauptgrund, dass ich hierbleiben darf«, forderte sie. Für einen kurzen Moment dachte Mika, er würde jetzt auf sie zu gehen und wenige Zentimeter vor ihr zum Stehen kommen. Er hätte gewusst, dass sie das einschüchterte. Aus irgendeinem Grund ließ er es bleiben. Sie ließ ihm noch kurz Zeit und versuchte etwas in seinem Ausdruck zu erkennen, was ihr erstaunlich schwerfiel. Er schien selbst nachzudenken. Einen Arm hatte er vor der stählernen Brust verschränkt. Der Ellenbogen seines anderen Armes ruhte auf dem vor seiner Brust und er kratzte sich am stoppeligen Kinn.
»Gut«, murmelte er, »Wir müssen auf einen Nenner kommen, Mika.«
Ein Nenner. Auf einen gemeinsamen Nenner würden sie nie kommen, weil Mika nicht im Leben daran dachte, eine Verbündete zu spielen. Nicht einmal in der Not. Er würde sie nicht feuern. Würde er sowieso nicht. Da war sie sich so sicher, wie in der Tatsache, dass sie nie den Mond betreten würde.
»Es gibt keinen Nenner, Mr. Stick. Das wissen Sie vermutlich besser als ich. Ich bin ein viertel Leben alt, ich stehe am Anfang und Sie... nun ja«, sie ließ den Satz offen, »Wir sind grundverschieden und Sie wissen, dass mich nichts von meinem Ungetüm abhalten könnte.«
»Mika«, wieder sagte er ihren Namen auf einer Weise, die sie fast als angenehm empfand, »Ich möchte keinen Streit mit dir. Du bist ein wenig zu unbedacht. Du ziehst unsere Kunden an wie ein Magnet, es ist mir ein Rätsel, wie du das anstellst – du hast Recht, ich würde dich nicht deshalb feuern, weil du einer unserer Jüngsten bist. Ich sehe viel Qualität in dir. Du hast ein Geschick, und das möchte ich nicht missen. Nur bitte ich dich... stell dich etwas klüger an. Du bist nicht so naiv, wie du dich gibst.«
»Ich kenne die Konsequenzen meines Verhaltens.«
»Umso mehr überrascht es mich, dass du diesen Verhaltensweisen immer wieder aufs Neue nachgehst.«
»Das überrascht Sie wirklich noch?«, fragte sie ernsthaft erstaunt. Er kannte sie seit drei Jahren. Würde ihm nicht langsam einleuchten, dass sie sich für nichts auf der Welt ändern würde? Dass sie sich niemals dem Muster dieser Überstunden-Roboter anpasste? Kopfschüttelnd, und mit in Falten gelegter Stirn, löste sie sich von der Wand, mit der sie eins zu werden drohte.
»Ich sollte jetzt weiterarbeiten, Mr. Stick. Wenn Sie mich entschuldigen...«
Er fesselte ihren Blick, sah sie eine ganze Weile nachdenklich an. Er wurde nicht schlau aus diesem Mädchen. Mit einer Geste entließ er sie aus seinem Büro.
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