Sieben
Der Tod ist nicht schön. Das weiß Mika, das weiß Edward, das weiß jeder.
Es war ein schwarzer Sack, den man über ihren Kopf streifte und ihren Körper einhüllte. Eine stummtaube Dunkelheit, die so plötzlich über sie hereinfiel, dass es ihr für wenige Atemzüge die Sprache verschlug.
Edward saß mir ihr in diesem dunklen Sack. Ein dunkler Kartoffelsack, und Mika und Edward waren die Kartoffeln. Mika konnte Edward gut erkennen, erreichen konnte sie ihn aber trotzdem nicht. Obwohl sie zusammen in diesem Sack saßen, hätte sie selbst einen zehn Meter langen Arm ausstrecken können, und ihn trotzdem nie berührt. Diese Vorstellung machte ihr Angst.
»Edward«, flüsterte sie in die Dunkelheit.
Der raue Stoff des Sackes schluckte ihre Stimme. Er schluckte sie, als würde er sich von ihr nähren. Deshalb sprach Mika so leise. Sie wollte nicht, dass irgendetwas ihre Worte fraß.
Edward antwortete nicht.
»Edward... wir müssen hier raus.«
Er sah sie an. Seine eisblauen Augen blitzten in der Dunkelheit.
»Wo raus, Mika?«, fragte er erschöpft, ohne auf ihr Flüstern einzugehen. Seine klare, ruhige Stimme hörte sich beängstigend laut und bebend an.
»Aus diesem Sack.«
»Mika...«
»Bitte, Edward. Lass uns hier raus.«
Schweigen.
Edward sah Mika lange in die Augen, versuchte zu sehen, was sie sah, aber er erkannte keine Bühne hinter ihren rehbraunen Augen. Keine Geschichte, keine Bilder. Da gab es nur etwas Unsichtbares, das in Mikas Kopf tanzte und das nur sie sehen konnte. Mit dem Herzen. Nicht mit den Augen. Ihre Fantasie spielte sich nicht vor ihren Augen ab, sondern im Herz. Nur im Herz. Edward wandte verbittert sein Gesicht ab. Mika konnte diesen unsichtbaren Sack so gut sehen, dass er es zumindest fühlen konnte.
»Okay«, sagte er und passte sich ihrem Flüstern an. Er klang wie ein wispernder, trauriger Geist.
Vielleicht ist er das ja auch, dachte Mika bestürzt.
»Und wo möchtest du hin, Mika?«
»Erst einmal raus.«
»Wie?« Er ließ sich so sehr von ihrer Magie mitziehen, dass er selbst fast schon verzweifelt klang. Wie, Mika? Wie komme ich aus diesem Loch hier raus? Wie komme ich hier raus? Hilf mir!
»Hast du nicht mal gesagt, du hättest gerne eine weiße Taube in deiner Seele? Mit Leben im Schnabel?«
»Redest du von dem Mondstaub?« Er sah sie an.
Mikas Herz machte eine Pirouette, als er sich erinnerte.
»Ja, genau! An den Mondstaub. Ich kann dir alles in die Seele pusten, weißt du noch?«
Sie pustete ihm geradewegs ins Gesicht. Seine aschblonden Strähnen, die ihm ins Gesicht hingen, flogen zur Seite.
»Und jetzt raus hier. Du kannst jetzt fliegen Edward. Jetzt bist du eine weiße Taube und ich bin ein Marienkäfer, weil meine Oma Marienkäfer mag. Einverstanden? Und los!«
Mika sprang vom Bett auf und zog Edward mit. Es fühlte sich wirklich an, als würde sie aus einem Sack herausspringen. Sie sah ihn aufgeregt an.
»Und? Geht es dir besser?« Ohne auf eine Antwort zu warten zog sie frische Klamotten aus seinem Kleiderschrank.
»Mika? Was tust du?«
»Ich gebe dir etwas zum Anziehen und dann kommst du mit mir mit in die Arbeit.«
»Bist du deshalb gekommen?«
Mika drehte sich um, als sie eines von seinen weißen T-Shirts nahm und ihm zuwarf. Er fing es geschickt auf.
»Nö, eigentlich nicht. Aber ich habe mich gerade dazu entschieden. Du darfst nicht hier bleiben Edward, das macht dich kaputt. Du brauchst Ablenkung. Und wenn es bloß die Arbeit ist!«
Ich bin kaputt. Und ich brauche dich.
Nachdenklich sah er den weißen Stoff in seiner Hand an, dann wieder Mika und nach kurzem Zögern beschloss er, mit ihr mit zu gehen. Mika hatte Recht. Sie hatte immer Recht. Und sie hatte ihn wenigstens kurzzeitig aus dem Loch geholt.
Mika erkannte die Antwort in seinem Gesicht, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. Mit einem Strahlen im Gesicht umarmte sie ihn und verließ sein Zimmer, damit er sich umziehen konnte.
Mika zog Edward in den letzten zehn Minuten noch mit in die Cafeteria und entdeckte auf einem Tisch einen Teller mit einer Frucht, die sie von der Entfernung noch nicht erkennen konnte. Auf dem Schild neben dem Teller stand: Für alle Mitarbeiter, die auf ihre Ernährung achten wollen. Ha ha. Scherz. Greift zu.
Mika lachte, weil sie sofort wusste, dass dieser Zettel nur von Damian sein konnte. Sie setzte sich an den Tisch und sah genauer in die Schale.
»Ananas? Oh mein Gott. Ich liebe Ananas!«
»Mika? Ich dachte, du hasst Ananas?«
»Nur wenn sie ganz sind.«
»Wieso liebst du Ananas nur, wenn sie geschnitten sind?«
»Ich weiß es nicht. Sie gefallen mir besser. Sie sehen gelb und fruchtig und strahlend aus. Im Ganzen sehen sie aus wie ein trauriger Klotz. Einfach nicht schön. Gefällt mir nicht. Und dann dieses Massaker beim Schneiden...«
Sie schob sich ein Stück nach dem anderen in den Mund und aß genüsslich die Ananas vom Teller. Edward beobachtete sie dabei.
»Mhh... köstlich«, nachdenklich betrachtete sie die Stückchen in der Schale, »Eine Ananas zu sein, wäre so leicht.«
»So leicht? Wie meinst du das nun wieder?«
»Na ja«, schmatzte sie kurz und rief sich zur gesitteten Vernunft, schluckte und sprach weiter, »Sie hat doch so eine leichte Aufgabe. Es gibt sie, um gegessen zu werden. Um nichts anderes macht sie sich Gedanken. Und genau das tun wird: Wir essen sie und sie ist glücklich.«
»Woher weißt du, dass sie das will? Gegessen werden. Wer will das schon...« Es war eine rhetorische Frage. Mika gab ihm dennoch eine Antwort.
»Weil das ihr Sinn des Lebens ist. Na ja, das wäre es jedenfalls für mich, wenn ich eine Ananas wäre. Unter anderem vielleicht auch noch, eine von den wenigen zu sein, die überragend schmecken und nicht überzüchtet werden. Dann hätte ich eine kleine Herausforderung, aber vorrangig geht es ums Gegessen werden. Mann, Edward. Was denkst du, wie traurig ich wäre, wenn ich als Ananas irgendwo liegen bleiben und schlecht werden würde!«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass wir alle einen Sinn oder eine Aufgabe für das Leben haben.«
»Natürlich.«
»Und was ist unsere Aufgabe?«
»Die Fortpflanzung«, antwortete Mika strahlend, »Gar nicht so übel, was? Es ist in unserem Blut, dieser Trieb. Aber wir wollen ja keine Massenproduktion.«
»Du bist ganz schön dreist, Mika«, meinte er vorsichtig und versuchte sie dabei dazu zu verleiten, ihre Stimme etwas zu senken. Alle Köpfe in der Cafeteria hatten sich bei dem Wort in ihre Richtung gedreht.
»Wieso dreist? So ist das doch. Das ist eindeutig. Wir Menschen, wir bestehen doch aus Zellen. Und was machen Zellen, um zu überleben? Denk mal nach, die teilen sich. Und da wir ja nun sinnbildlich gesehen auch ein einziges Gebäude aus abermilliarden Zellen sind, liegt es in unserem Instinkt, dass wir uns fortpflanzen wollen. Weil nur, weil wir vielleicht gerade nicht mal kurz Liebe machen wollen, heißt das nicht, dass unsere Zellen das nicht mehr machen. Verstehst du? Und so ist der Kreislauf. Aber da wir eben alle heutzutage keine Kinder mehr haben wollen, unterdrücken wir diesen Fortpflanzungs-Effekt auf eine reine Befriedigung unserer Zellen. Kannst es auch Geilheit nennen. Und dafür gibt's Kondome.«
»Wo hast du das denn schon wieder gehört?«
Mika grinste und schob den Ananas Teller von sich weg, da ihr Mund zu brennen begann.
»Ich bin einmal mit einem Typen vom einen Arsch der Welt, bis zum anderen Arsch der Welt mitgefahren. Wir haben darüber gesprochen, dass Monogamie der größte Bullshit ist, den die Weltgeschichte je erfunden hat. Alles nur Unterdrückung, wie gesagt. Es ist nur eine schöne Auslebung von der heutigen Moral. Und, mein Gott, ich will's auch nicht anders. Ich krieg ja schon das Kotzen, wenn ich nur daran denke, wie Riza mit irgendwem anderen schläft. Und der Neid macht uns monogam. Klar, oder? Eigentlich ist dieses Monogamie-Zeugs ein einziger Schutz für das eigene Ego. Nun ja, und dann sind wir eben darauf gekommen, dass ich manchmal Phasen habe, in denen ich einfach keinen Bock auf Sex habe«
»Du redest mit wildfremden Menschen darüber, ob du Sex haben willst oder nicht? Mika!« Er sah sie entgeistert an. Sie winkte ab.
»Darum geht's nicht. Auf jeden Fall erzählte er mir dann von seinem Cousin, der Biologe ist und dann kamen wir auf das Thema mit den Zellen und ihrer Fortpflanzung.«
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