Neun
Mika saß mit Edward auf dem Baum. Weit entfernt von den Rosenhecken, die jeden Abend ihre Wege trennten, wenn sie sich hoch oben in den Ästen trafen.
"Edward, du siehst heute wirklich noch durchsichtiger aus als sonst."
"Ich bin durchsichtig. Durchsichtig und unscheinbar. Irgendwann werde ich verschwinden."
"Jeder verschwindet irgendwann", antwortete Mika, den Blick über die von der untergehenden Sonne glühende Dächer gerichtet. Tauben flogen über der Stadt ihre letzten Runden, die Blätter der Bäume waren zu Boden gefallen und entblößten ihre Nacktheit, ganz ohne Grün und ohne Leben. "Sogar das alles, was um uns herum ist."
"Ich verschwinde anders."
Mika sah nun Edward an, der gar nicht das schöne Spektakel des Sonnenuntergangs, sondern den Boden unter ihnen betrachtete. Wo er wohl gerade wirklich war? Saß er noch neben ihr, oder hatte er sich zu seinem Vater unter die Erde gelegt? Nur für einen Moment.
"Sollen wir beten?"
Edward sah sie an.
"Beten? Du glaubst doch nicht an Gott."
"Nein. Aber zu deinem Dad. Er hört dich bestimmt."
"Er hört mich nicht. Er ist tot. Wenn Menschen sterben, dann sterben sie einfach, Mika. Sie sind weg. Für immer."
Unbeeindruckt davon, was Edward gesagt hatte, schloss Mika die Augen und verschränkte die Finger miteinander.
"Lieber Papa von Edward. Ich kannte dich nicht so gut, aber du warst ein gescheiter Mann. Ich mochte es, wenn du morgens die Zeitung vor deiner Nase gehalten hast und dir die Brille von der Nase gerutscht ist. Und ich fand die Art, wie du dein Müsli mit frischen Äpfeln isst, ganz sonderbar. Niemand kaut so langsam sein Essen wie du. Na ja, jedenfalls möchte ich dich darum bitten, es dir richtig gut gehen zu lassen, wo du jetzt bist. Und von Edward richte ich dir liebe Grüße aus. Er sitzt neben mir und ist durchsichtiger als sonst. Ihr hättet ihm ein bisschen Farbe verleihen sollen. Wie entstehen Albinos überhaupt?"
Noch bevor Mika die Augen geöffnet hatte, sprang Edward wortlos von seinem Ast, trat feuchten Laub beiseite und lief in Richtung der Dornenhecken. Die Hände in der Hosentasche versenkt.
Eilig kletterte Mika den Baum herab und holte ihren Freund auf.
"Was ist los? Habe ich dich gekränkt?"
"Nein", antwortete er.
"Doch, habe ich", bemerkte sie.
"Ich mag es nicht, so genannt zu werden."
"Tut mir leid", entschuldigte sie sich, "Das war nicht meine Absicht."
"Schon gut."
"Nein, ist es nicht." Sie machte einen Satz, um ihn zu überholen und sich ihm in den Weg zu stellen.
"Was tust du, Mika?", fragte er seufzend, als hätte er nicht die geringste Kraft für irgendwas.
"Schau mich an", bat sie.
Edward sah ihr in die Augen.
"Du bist für mich der schönste Mensch auf dieser Welt, und weißt du auch warum?"
Er senkte wieder den Blick.
"Weil du bist wie du bist und ich niemanden so sehen kann wie dich. Und weil du mein allerbester Freund bist. Für immer."
Edward konnte ihr nicht ins Gesicht sehen. Er wich ihr aus und ging weiter. Unbekümmert ging Mika neben ihm her, schweigend, bis sie die Rosenhecke erreichten. Man konnte nur ihre Dornen sehen. Kein Blühen, kein Grün. Alles bereitete sich auf den Winter vor.
"Jedes Jahr blühen sie neu, und jede neue Knospe sieht ein um den anderen Tag dieselbe Fußgängerzone auf der einen, und dasselbe Maisfeld auf der anderen Seite." Mika streichelte sanft mit einer Fingerspitze über die Dornenhecke. Sie wirkte trotz der fehlenden Farben nicht weniger schön.
"Ein sehr eintöniges und kurzes Leben", entgegnete Edward darauf.
Mika sah ihn an, dann gongte die Kirchturmglücke aus der Stadtmitte.
"Ich muss jetzt los", sagte Mika, "Ich muss morgen in die Berufsschule. Machen wir abends etwas gemeinsam?"
"Bis morgen, Mika", sagte Edward bloß, bevor sich ihre Wege an den Rosenhecken trennten.
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