Kapitel IV

Als ich den ersten Schritt auf den zerrissenen Teppich im Obergeschoss setze, rutscht mir beinahe das Bild aus der Hand. Bin ich so schwach, oder ist das Bild so schwer? Es bereitete mir vorhin doch keine Probleme, es über die Mauer zu hieven!

Ich stelle es an eine der Wände und verschnaufe. Der Gang ist dunkel, und doch ich erkenne die hellen rechteckigen Flächen auf der Tapete, wo irgendwann einmal Bilder gehangen haben müssen. In welchen Antiquariaten mochten sie sich befinden, auf welchen Auktionen wurden sie gerade versteigert?

Wieder hörte ich das leise Jaulen, doch klang es nicht mehr so traurig wie zuvor, eher freudig erregt. Ich packte das verschnürte Bild mit beiden Händen und wollte es mir wieder unter den Arm klemmen, aber das konnte ich vergessen. Schwer wie Blei war es geworden und ließ sich auch mit größter Kraftanstrengung nicht von der Stelle bewegen. Wie ein Hund an der Leine, der seinem Herrchen nicht folgen, sondern stur einen anderen Weg gehen will.

Ich ließ das Paket stehen und ging den Flur hinunter, wobei ich in der Dunkelheit aufpassen musste nicht über aufgeworfene Läufer, herumliegenden Unrat oder tote Ratten zu stolpern.

Der Geruch nach nassen Wänden, staubigen Teppichen und schimmeligen Tapeten wird stärker. Ich denke darüber nach umzudrehen.

Das Bild, der Hund, sie wollten unbedingt hierher. So viel scheint sicher. Sicher? Oder habe ich mir das nur eingebildet? Weil ich wollte, dass es so ist, weil ich endlich einmal was erleben wollte, etwas ganz anderes?

Alle Räume, welche rechts und links vom Flur abzweigen, sind bis auf zerbrochenes Mobiliar, eine speckige Matratze und leere Konservendosen leer. Nichts deutet darauf hin, dass an ihren Wänden Canus Abendheim gehangen haben könnte. Der Rahmen ist schmuckvoll, die künstlerische Qualität des Stiches hoch. Es muss in diesem Gemäuer noch ein anderes, repräsentativeres Zimmer geben, ein Zimmer, das für dieses Bild gemacht ist, ein Zimmer, das wartet.

Am Ende des Flurs stoße ich auf eine schmale Treppe, die offenbar hinauf in ein weiteres Geschoss führt. Das wenige Licht genügt mir, um zu erkennen, dass ihr Zustand noch schlechter ist als der der Haupttreppe. Schon beim Ansehen ihrer rissigen Stufen scheint sie vor Altersschwäche zu knarzen. Bei dem Gedanken einen Fuß darauf setzen zu müssen,

zieht sich mir der Magen zusammen.

Ich höre Stimmen. Männerstimmen. Eine Frau. Sie müssen unten im Eingangsbereich sein. Sie grölen, pöbeln sich gegenseitig an, beschimpfen sich. Ich muss hier verschwinden, dringend! Mit großen Schritten hechte ich zurück zu dem eingewickelten Bild. Nach unten kann ich nicht. Die leeren Räume bieten mir kein Versteck. Bleibt nur die schmale Treppe nach oben. Unmenschlich schwer ist der Rahmen. Mir bleibet nichts anderes als ihn über den Boden zu ziehen. Doch je näher ich der Treppe komme, desto leichter fällt es mir. Ich komme schneller voran, und schließlich kann ich mir das Bild wieder unter den Arm klemmen.

Das Glück ist mit mir, die Stufen halten. Auch die Tür lässt sich problemlos öffnen. Ich betrete einen saalartigen Raum mit hoher Decke und einem bunten, kreisrunden Mosaikfenster am gegenüberliegenden Ende. Die Abendsonne strahlt herein und flutet den Raum mit farbigem Licht. Mir ist als hätte ich einen heiligen Ort betreten, ein Refugium außerhalb von Raum und Zeit.

Hinter mir fällt die Tür ins Schloss. Erschrocken drehe ich mich um. Ich lege die Hand auf die Klinke und versuche sie hinunter zu drücken, doch vergeblich. Sie bewegt sich keinen Millimeter. Die Tür lässt sich nicht öffnen. Ich kann nicht sagen, ob das in meiner Situation gut oder schlecht ist, es spielt vielleicht auch gar keine Rolle. Im nächsten Augenblick habe ich die Gedanken daran sowieso verloren, weil ich die Bilder entdeckt habe. Rahmen unterschiedlichster Größe, Farbe und Form. Vom Boden bis zur Decke hängen sie dicht an dicht. Malereien, Aquarelle, kleine Bleistiftstudien, Federzeichnungen, Radierungen, Stiche, Stempeldrucke und gewaltige Gemälde. Auf allen ist dasselbe zu sehen: Canus Abendheim. Sitzend, liegend, laufend, in Habachtstellung, über ein totes Reh gebeugt, an der Seite seines Herrchens, dem alten Abendheim, auf dem Schoß seines Frauchens, in einer Gruppe Kinder, und schließlich auf einem Bett liegend, zusammengekrümmt, mit geschlossenen Augen, die Zunge hängt ihm aus dem Maul.

Da beginnt das Heulen. Erst ist es eins, dann zwei oder drei, und schließlich ein vielstimmiges Gejammer aus hunderten von Tierkehlen.

Ich spüre wie mich ein Grauen befällt, welches mir unmöglich erscheint in Worte gefasst zu werden. Mit zitternden Händen wickele ich das Bild aus. Es hat denselben goldenen Schmuckrahmen wie das mit dem toten Canus Abendheim. Ich trete an die Wand heran, nehme das Totenbild herunter und hänge anstatt seiner das mitgebrachte Bild auf, das mit dem vor Kraft strotzenden Canus Abendheim.

Mit einem Schlag ist es ruhig. Ganz dumpf, ganz weit weg höre ich noch immer die Männerstimmen. Es rumpelt im Haus, als würden Möbelstücke verrückt. Dann ein Klirren, Glassplitter rieseln zu Boden. Ein kleiner Rahmen, ganz oben unter der Decke ist zerbrochen. Weitere folgen. Ganz in meiner Nähe stürzt ein massiver Rahmen von der Wand. Hinten am Fenster lösen sich die Bilder ebenfalls. Das Splittern von Holz, das Zerspringen von Glas wird lauter, steigert sich zu einem wahren Orkan.

Ich laufe zurück zur Tür, versuche noch einmal sie zu öffnen, schmeiße mich mit ganzem Gewicht dagegen. Nichts.

Scherben fliegen mir um die Ohren, springen mir in die Haare, zerschneiden mir die Haut. Ich schmecke Blut. Dann ein höllisches Ziehen im Auge, Schmerzen, die sich mir in den Schädel bohren.

Ich falle nach vorn, meine Handflächen landen auf zerbrochenem Glas. Ich sehe das Fell auf meinen Armen, ich spüre die Reißzähne in meinem Mund, ich fühle die unbändige Kraft eines wilden Tierherzens in meiner Brust schlagen. Ich reiße den Kopf herum. Die Stimmen vor der Tür werden lauter. Ich spüre wie sich mein Puls beschleunigt.

Ich kann euch riechen, ich kann euch hören!

Ich werde euch jagen, werde euch packen und in Stücke zerreißen!

Dies ist mein Haus, dies ist mein Reich!

Nehmt euch in Acht.

Canus Abendheim lebt!




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