Kapitel 9 - Vampir-Lektionen

Das erste, was ich wahrnahm, war die Kälte, die mir die nackten Arme empor kroch. Bis auf das Rauschen in meinen Ohren war es totenstill um mich herum. Ich blinzelte benommen in die Dunkelheit hinein. Mit den ersten schemenhaften Umrissen, die sich vor meinen Augen bildeten, setzte auch der stechende Schmerz ein. Der Arm, auf dem ich lag, war völlig taub, sofern er noch mit meinem Körper verbunden war. Und das, was von meinem Hinterkopf noch übrig war, brannte höllisch. Mit der einen Hand stützte ich mich auf dem kalten Steinboden ab, um mich hochzustemmen. Aber ich war nicht stark genug und knickte unter meinem eigenen Gewicht ein. Ich rollte mich ächzend in eine bequemere Rückenlage und ließ das Blut in meinen Arm zurückfließen, bevor ich einen zweiten Versuch wagte.

»Sieh an, wer wieder unter den Lebenden weilt.« Die Stimme klang so weit entfernt, dass ich mir sicher war, ich hätte sie mir nur eingebildet. »Hey, Nervensäge!«, hörte ich sie sagen, diesmal bestimmter und ich blinzelte vergebens gegen die Versuchung an, wieder einzuschlafen. »Steh auf.«

Mein Puls wurde ruhiger, mein Atem immer flacher. Nur das kribbelige Gefühl in meinem Arm hielt mich wach. Dann schloss ich die Augen, bereit abzutauchen und das zu tun, was mein Körper verlangte. Mich der Ohnmacht hinzugeben, die unnachgiebig an mir zerrte. Erst auf der Schwelle ins Nichts prasselten die Erinnerungen wie Regen auf mich ein. Die letzten Sekunden, bevor alles um mich herum verschwand, verbildlichten sich wieder. Ich riss die Augen auf und kämpfte mich auf die Knie, schwer atmend und von Adrenalin durchflutet.

»Geht doch«, sagte die körperlose Stimme zufrieden.

Ich stemmte mich so ruckartig auf, dass mir schwindelig wurde. Ich tastete vorsichtig nach der pulsierenden Stelle an meinem Hinterkopf, bereute es aber sofort und biss die Zähne aufeinander. Der Schmerz strahlte durch meinen ganzen Körper und war kaum zu ertragen. Meine Haare waren vom Blut verklebt.

Erst jetzt, als ich mich zwang den Kopf zu heben, erkannte ich das Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Damon lehnte lässig an der schweren Eisentür, die mich hinter sich einschloss. Sein Kopf, der nichts mehr mit der schaurigen Version seiner selbst gemeinsam hatte, war nur durch eine kleine Aussparung zu sehen.

»Bleib weg von mir«, stöhnte ich schmerzerfüllt. »Bleib bloß weg von mir.«

Ich krabbelte rückwärts und auf allen Vieren, um so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu bringen, bis ich das Ende des fensterlosen Kerkers erreichte und mit der Steinmauer in meinem Rücken zusammenprallte. Bis auf eine alte Holzpritsche war der Raum völlig leer. Ich zog die Beine an und spürte, wie die Panik wieder in mir aufkeimte.

»Schreist du jetzt wieder wie am Spieß?«, fragte er und klang dabei entsetzlich vorwurfsvoll. »Oder können wir uns vernünftig unterhalten?«

Ich kämpfte mit aller Macht gegen das furchtbare Bild an, das sich immer wieder vor mein inneres Auge schob, egal wie stark ich dagegen anblinzelte. Es hatte sich in meine Netzhaut gebrannt, als hätte ich zu lang auf einen Fernsehbildschirm gestarrt und nun würde ich es nie wieder loswerden. Dieses furchtbare Bild. Die gewaltigen Reißzähne in seinem gierigen Schlund und die blutroten Augäpfel, die aus seinem bleichen Gesicht quollen.

»Was hast du mit mir gemacht?«, winselte ich mit erstickter Stimme, schlang die Arme um meinen Hals und gab den Tränen nach. Er betrachtete mich, wie ich markerschütternd aufheulte und meinen Kopf in den angewinkelten Beinen vergrub. Ich drückte beide Hände so fest auf die blutige Stelle an meinem Kopf, bis der Schmerz unerträglich wurde und heulte nur noch lauter.

»Du musst dich beruhigen«, seufzte er ungeduldig. Als ich hörte, wie die Tür über den Boden schabte, fing ich an zu schreien, völlig heiser und immer noch meinen Knien entgegen. »Ganz im Ernst. Du musst dich jetzt beruhigen.«

»GEH WEG!«, brüllte ich aus voller Leibeskraft, ohne aufzusehen. Weil ich nicht wusste, was mir anderes übrigblieb und weil ich erleichtert darüber war, wenigstens noch Herr meiner Stimme zu sein. Erst als Damon wieder hinter der geschlossenen Tür verschwand, fuhr ich mir mit der Hand durchs tränennasse Gesicht und versuchte kontrolliert ein und auszuatmen.

»Besser?«, fragte er, aber ich gab ihm keine Antwort.

Ich presste die Lider stärker aufeinander und rieb mir die Augen mit den Fingerknöcheln, als das nichts nützte. Das Bild ließ sich nicht vertreiben. »Das kann nicht sein«, sprach ich mir wie ein Mantra zu. »Das kann nicht sein. Das ist völlig unmöglich.«

»Falls es dich tröstet, ich bin immer noch der Alte.« Er ließ sich geräuschvoll mit dem Rücken gegen die Tür fallen. Ich hörte das Schmunzeln in seiner Stimme, das nie unheimlicher geklungen hat. »Du weißt schon, der mit den hübschen Augen.«

»Nein, nein, nein. Du bist-«

»Sag es, Bella«, säuselte er belustigt.

Jeder Muskel meines Körpers zitterte. »Nein«, nuschelte ich wieder in meine Armbeuge. »Das ist unmöglich.«

»Die nächste Demonstration gibt es nur mit einer kleinen Kostprobe«, gab er höhnisch zurück. »Komm schon, ich hab dich nicht mal angefasst. Du bist umgekippt und hast dir den Kopf angeschlagen! Ich war artig, versprochen.«

Ich schluckte und meine Hand wanderte automatisch wieder auf die blutige Stelle an meinem matschigen Hinterkopf. »Du bist ein Vampir«, stotterte ich die Worte, von denen ich niemals dachte, dass ich sie jemals laut aussprechen würde. Eingesperrt in dem Verlies zweier Brüder, die ich vor wenigen Stunden noch nicht einmal kannte. In der jämmerlichen Hoffnung, Damon würde mir widersprechen.

Natürlich tat er es nicht. Stattdessen trommelte er mit den Fingern gegen die Tür. »Beeindruckende Auffassungsgabe. Da die Katze endlich aus dem Sack ist, wird es Zeit mich reinzulassen.«

»Enzo«, kam mir der einzige Gedanke, der mir in dieser kalten, dunklen Hölle einen Funken Trost spendete. »Wo ist Enzo?«

Das melodische Trommeln an der Tür verstummte abrupt. »Ich nehm' alles zurück«, sagte er und schielte skeptisch durch das kleine Fenster in meine Zelle hinein. »Du hast mitbekommen, dass dein stattlicher Prinz eher Graf Dracula ist? Oder war meine kleine Show völlig umsonst?«

Er hätte mir genauso gut ein Breitschwert in den Bauch rammen können. Das hätte vermutlich weniger wehgetan als die schreckliche Erkenntnis, die mich in diesem Augenblick wie eine Lawine unter sich begrub. »Nein, nein, nein«, wimmerte ich so lang, bis das mickrige Wort völlig an Bedeutung verlor. Selbst meine Tränen ließen mich im Stich. Ausgerechnet in der Sekunde, in der ich wusste, ich würde nie wieder aufhören können zu weinen.

Enzo.

Ich ballte die Hände zu Fäusten.

»Wir haben zwei Möglichkeiten«, hörte ich es hinter der Tür. »Entweder, ich streiche diesen fürchterlichen Tag für immer aus deinen Erinnerungen.« Er machte eine Pause, als grübelte er über die zweite Option. »Oder, du reißt dich endlich zusammen und lässt mich dir alles verdammt nochmal erklären!«

Ich hob das erste Mal den Kopf, um Damon durch die Aussparung ansehen zu können. »Du bist ein Monster. Was gibt es da zu erklären?«

Zu meinem Erstaunen lag etwas wie Besorgnis in seinen Augen. Ich konnte hören, wie sich seine Hände wieder um den Türgriff legten. »Die Sache ist die: Ich, mein Bruder und deine lächerliche Illusion von Traummann, wir sitzen alle im selben Boot. Du bist die einzige, die weiß, dass es wieder Vampire in der Stadt gibt. Was, ich möchte noch einmal daran erinnern, nicht meine Idee war. Aber ich werde verhindern müssen, dass du unser kleines Geheimnis in die Welt hinausposaunst.«

»Wer würde mir das schon glauben?«

»Oh, du wärst überrascht. Mystic Falls war nicht immer die verschlafene Kleinstadt, zu der sie geworden ist. Du hättest mal vor zehn Jahren hier sein müssen. Wobei...« Er legte den Kopf schief. »Damit wärst du wohl kaum fertig geworden.«

»Lass mich sofort hier raus, Damon«, schnaubte ich erregt, die Hände immer noch zu Fäusten geballt.

Er lachte herzhaft auf, öffnete die Tür, schob sich durch den schmalen Spalt hindurch und ließ sie hinter sich ins Schloss fallen. »Lass mich erst mit dir reden«, erwiderte er mit einem schiefen Grinsen. »Es ist wichtig, dass du mir vertraust.«

»Du sperrst mich in dein Keller-Verlies ein und erwartest noch, dass ich dir vertraue?« Ich hielt seinem Blick stand, ohne zurückzuweichen und überlegte, was mich mehr irritierte. Die absurde Vorstellung, ich würde ihm nur einen Meter weit trauen oder das völlig unangemessene Grinsen in seinem Gesicht.

»Ich kann es dir beweisen«, sagte er schließlich und kam einen Schritt näher in den Raum hinein und auf mich zu. »Wenn du mich lässt.« Aber ich schüttelte bloß entschieden den Kopf. »Wie kann ein Mensch nur so stur sein?«, zischte er unter zusammengebissenen Zähnen. »Komm schon, du bist mir was schuldig!«

»Schuldig? Das meinst du nicht ernst«, gab ich zurück und ließ meine Blicke demonstrativ von der einen kahlen Mauer zur gegenüberliegenden wandern, die Arme streng vor der Brust verschränkt.

Damon tat es mir gleich. »Ganz genau, du bist mir was schuldig. Denn ob du's glaubst oder nicht, selbst Vampire finden es nicht gerade nett, wenn man sie achtlos mit dem Auto überrollt.« Seine Augen blitzten unheilvoll auf. »Du warst gerade auf dem Weg zu deiner kleinen Freundin, weißt du noch? Das war vielleicht ein Schreck. Ich bin froh, dass niemand verletzt wurde.«

»Du warst das.« Ich erinnerte mich wieder an den Abend im Grill, an die nächtliche Heimfahrt und den Unfall auf der Forest Avenue, den ich beinahe verursacht hatte. »Gott, ich hätte dich fast umgebracht.«

»Sei nicht albern«, entgegnete er und winkte ab. »Vampir-Lektion Nummer eins; wir sind unsterblich. Simpel, aber wichtig. Alles, was kein Holzpfahl ist und nicht in meiner Brust steckt, kann mich nicht töten. Das ist die goldene Regel, schreib sie dir hinter die Ohren.«

»Warum erzählst du mir das?«

Damon ließ sich auf die schmale Holzbank fallen, die unter seinem Gewicht knarzte, schlug die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. »Weil du vorbereitet sein musst.« Dann deutete er mit der flachen Handfläche auf den Platz neben ihm. »Und jetzt setz dich hin, ich will dir was zeigen.«

Alles in mir sträubte sich gegen ihn. Gegen sein perfektes falsches Grinsen, seine funkelnden blauen Augen, seine butterweiche Stimme. Nichts von alledem war real. Er hat es mir bewiesen, er hat es mich sehen lassen. Und trotzdem beruhigte ich mich allmählich, entknotete die Arme vor der Brust und ließ mich neben ihm sinken.

»Gib mir deinen Ring«, befahl er mir und quittierte mein Zögern mit einem müden Lächeln. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber das Schmuckstück ist kein Zeichen für Enzos endloser Liebe zu dir.«

Obwohl es ihn nicht das Geringste anging, schoss mir prompt die Röte ins Gesicht. Ich räusperte mich verlegen. »Schon klar. Wir haben uns ja gerade mal drei Tage gekannt, als er ihn mir geschenkt hat.«

»Du hast offenbar ein Händchen für unliebsame Geschenke«, sagte er und schielte dabei grinsend auf die Kette, die mir immer noch wie ein Fremdkörper um den Hals baumelte und die ich beinahe vergessen hatte. Ich ignorierte seinen Kommentar. »Schau, genau hier.« Er nahm meine Hand so plötzlich in seine, dass ich zusammenzuckte. »In der Fassung ist Eisenkraut, gepresst, so wie's aussieht«, stellte er fasziniert fest und spielte mit seinem Daumen an dem kleinen Kristall herum. »Vampir-Lektion Nummer zwei; Eisenkraut ist giftig für Vampire und es schützt vor euch Menschen vor Gedankenmanipulation.«

»Vor was?«, stieß ich verwirrt aus, als ich ihn dabei beobachtete, wie er mir den Ring von meinem Finger streifte und ihn in seiner Faust vergrub. Er machte keine Anstalten, sich zu erklären.

»Du kriegst ihn zurück, versprochen. Aber vorher-« Mein Gesicht war gerötet und immer noch tränennass, als er seine Hand auf meine Wange legte und mir sanft mit dem Daumen über die Haut streichelte. Seine Lippen formten ein schwaches Lächeln, aber seine Stirn war in Sorgenfalten gelegt. Lange, schwarze Wimpern umrahmten das Augenpaar, das mich so durchdringend ansah, dass ich mich schutzlos und schwach fühlte. Ich gab mich dem Gefühl hin und tauchte tief in das farbenfrohe Bild ein, das Damon mir malte.
    

◇ ◇ ◇
      

Ich hätte nie gedacht, dass ich so bald in diese gottverdammte Stadt zurückkehren würde. Diese gottverdammte Stadt, die Pforten zur Hölle, was habe ich sie verflucht. Es war leichtsinnig einfach fortzugehen, das wusste ich damals schon. Aber nicht zum ersten Mal kam mir mein eigener Stolz in die Quere. Ich würde es wieder gut machen. Das war ich ihr schuldig.

Mystic Falls, meine Geburtsstätte, hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Darum konnte ich nur hoffen, dass auch sie immer noch in dem Haus lebte, in dem ich sie zuletzt gesehen hatte. Meine Erinnerungen waren trüb, aber mit jeder verwinkelten Landstraße, die ich hinter mir ließ, wurden sie deutlicher. Sie lebte am Rande der Stadt, abgelegen neben einem verlassenen Waldstück.

Ich musste sie finden.

Der Wagen heulte auf, als ich ihn um die Kurve und in die Burton Road lenkte. Von hier waren es nur noch wenige Minuten zu Fuß, wenn ich mich nicht irrte. Ich ließ das Auto unter einer Eiche stehen, lehnte mich rücklings an ihren Stamm und betrachtete die kleine Siedlung, die vor mir lag, aufmerksam, glich jede einzelne Hausfassade mit denen aus meiner Erinnerung ab.

Ich irrte mich nicht.

Nach einer Weile atmete ich tief durch und folgte den holprigen Pflastersteinen bis zum allerletzten Haus. Ich erkannte sie schon von Weitem und hielt einen Augenblick inne, bevor ich mich näher an ihr kleines Grundstück herantraute. Der Rasen wucherte unordentlich. Oder lebendig, das war Ansichtssache. Eine Holzschaukel bewegte sich im Wind, ächzend und knarrend, und auf der anderen Seite des Gartenzauns ragte ein Apfelbaum in die Höhe. Nichts hatte sich verändert.

Und in der Mitte stand sie.

Als sie mich bemerkte und ihren Kopf in meine Richtung drehte, kam ich vorsichtig näher. Ihre Lippen formten stumm meinen Namen, doch sie wich zurück. Erst jetzt entdeckte ich das kleine Mädchen, das unter dem Baum im Gras kniete. Sie befahl ihr ins Haus zu gehen, aber sie hörte nicht, blieb wie angewurzelt sitzen und starrte mich unverwandt an.

»Hallo, Ella«, sagte ich zur Begrüßung, als ich meinen Blick von dem Mädchen löste und meine Hände auf die Pforten des Gartentors legte. Nur widerwillig ließ sie das Mädchen aus den Augen, drehte sich um und stapfte durch das Gras auf mich zu.

»Was suchst du denn hier, Damon?« In ihrer Stimme schwangen allerlei Gefühle mit. Vor allem Angst, da es kein gutes Zeichen sein konnte, dass wir uns nach unserem endgültigen Abschied noch einmal wiedersahen. Und trotzdem war die Freude darüber am stärksten. Wie zur Bestätigung fing sie an zu lächeln.

»Ich habe das von George gehört. Es ist also wahr.« Sie nickte gequält und hielt sich die Hand vor dem Mund, als wäre ihr übel. »Du musst schleunigst von hier verschwinden«, befahl ich ihr, griff nach ihrer Hand und sah sie eindringlich an. »Es ist hier nicht mehr sicher für dich. Für euch beide.«

»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf und drückte meine Hand so fest, dass sie zu zittern begann. »Ich kann nicht.« Das Glitzern in ihren traurigen Augen brach mir beinahe das Herz.

»Er hat deinen Wagen gefahren«, sagte ich nachdrücklich. »Ella, das war kein Unfall.«

Aber sie blieb stur und verzog ablehnend das Gesicht, das nach all der Zeit vielleicht seine Jugendlichkeit verloren hat, nicht aber seine Schönheit. Sie löste ihre Hände aus meinem Griff, um ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Hosentasche zu fischen. »Das weißt du nicht«, schluchzte sie unverständlich und schnäuzte sich die Nase.

»Ich werde nicht zulassen, dass du hierbleibst, bis du es herausfindest.« Meine Blicke wanderten zurück zu dem kleinen Mädchen, das uns immer noch reglos aus sicherer Entfernung beobachtete. »Schnapp dir das Kind und verschwinde endlich von hier!«

Als sie ihren Kopf wieder hob, waren ihre Wimpern tränennass und verklebt. Sie schüttelte immer noch den Kopf, aber schwächer als zuvor. Ich nahm ihr Gesicht behutsam in meine Hände. »Ich flehe dich an«, versuchte ich es wieder. »Pack deine Sachen und komm nie wieder zurück. Nie wieder!«

Ein trostloses Lächeln umspielte ihre Lippen, die von kleinen Lachfältchen umgeben waren. Gerade sah es nicht danach aus, als würde sie jemals wieder lachen können. Dann, als ich befürchtete sie würde Luft holen, um mir zu widersprechen, hörte sie endlich auf, gegen mich anzukämpfen und seufzte erschöpft. »Meine kleine Bambi ist alles, was ich noch habe. Sie wird sich nicht mal an ihren Grandpa erinnern können.«

»Aber sie wird sich an dich erinnern! Sie wird ein langes, glückliches Leben führen, genau wie du. Versprich mir, dass du nie wieder nach Mystic Falls zurückkehrst.«

Sie zögerte, presste die Lippen voll Kummer aufeinander.

»Versprich es mir!«

»Grandma?« Die kurzen Beine des Mädchens trugen sie nur mühevoll vorwärts, als sie sich langsam auf uns zu bewegte und neugierig den Kopf nach oben reckte. Ich löste vorsichtig meinen Griff, drückte ihre Hände ein letztes Mal und sah ihr dabei tief in die Augen.

»Ich werde immer auf euch aufpassen. Du hast mein Wort.«

Ich brauchte nur eine Sekunde, um ihre aschblonden, gelockten Haare, die unsagbar traurigen, glitzernden Augen und die zitternden, rosa Lippen in ihrem lieblichen Gesicht für immer abzuspeichern. Auch wenn ich mir gewünscht hätte, dass das letzte Bild, das ich von Ella Carlin sehen würde, ein fröhlicheres war.
   

◇ ◇ ◇
   

»Was war das?«, fragte ich benommen, als das bunte Farbspiel vor meinen Augen verschwand. Ich blinzelte so lang, bis sich Damons Gesicht wieder deutlich von den kahlen Steinmauern um uns herum abzeichnete.

»Eine Erinnerung aus 1998«, antwortete er mit belegter Stimme und zog seine warme Hand zurück. Mit der anderen steckte er mir meinen Ring zurück an den Finger. »Vampir-Lektion Nummer drei; ohne Eisenkraut am Körper oder im Organismus kann ich dich dazu bringen, alles zu tun, was ich will. Oder alles zu sehen, was ich dich sehen lassen will.«

»Heißt das, du kanntest meine Grandma?«

Meine Gedanken überschlugen sich und der beißende Schmerz, der eben noch jede Faser meines Körpers ausfüllte, war restlos verschwunden. Eine elektrisierende Gänsehaut ließ alle Härchen in meinem Nacken zu Berge stehen. Auf einmal wurde mir heiß und kalt gleichzeitig.

»Ja, Bambi, ich kannte sie.«

»Wusste sie, dass du-«

»Dass ich ein Vampir bin?«, vollendete er meinen Gedanken. »Natürlich.«

Es fühlte sich an, als würde mir jemand die Luftröhre zudrücken. Meine Lippen zitterten, aber ich brachte kein Wort hervor, obwohl es so viel gab, was ich sagen wollte. Eine Millionen Fragen schossen mir wie Pfeile durch den Kopf und jede weitere Frage warf eine noch bessere auf.

»Sie wusste, was ich bin und sie ist hat es akzeptiert.« Er sah mir in die Augen, nickte mir aufmunternd zu und drückte zur Besänftigung meine Hand. »Darum weiß ich, dass du das auch kannst.«

Ich glaubte seinen gütigen Blick zu erwidern, aber sicher war ich mir nicht. Denn alles was ich in seinen Augen sehen konnte, war die Frau am Gartenzaun, meine Grandma. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so glücklich und verloren zugleich gefühlt. Ich hielt die Erinnerung, die nicht einmal meine war, so fest ich konnte und es fühlte sich an, als könnte ich die laue Frühlingsbrise, die mir erst letzte Nacht in meinem Traum um die Haare wehte, immer noch spüren.

»Damon?« Stefans Stimme holte mich aus der Trance zurück und ließ mich hochschrecken.

Damon seufzte und richtete sich auf. »Vampir-Lektion Nummer vier«, schnaubte er genervt. »Unser Gehör geht durch Wände. Was keine Entschuldigung für deine Neugierde ist, Bruder«, setzte er lauter hinterher, ehe er mir seine Hand versöhnlich lächelnd entgegenstreckte. »Du bist sicher durstig.« Er musterte mich besorgt von Kopf bis Fuß. »Und du könntest eine Dusche vertragen, nichts für ungut. Lass uns hoch gehen.«

Als ich seine Hand ergriff und mich endlich aufrappelte, ersetzte etwas das furchteinflößende Bild, von dem ich glaubte, ich würde es niemals wieder abschütteln können. Das tiefe Gefühl von Vertrauen, das die unerklärliche Kraft besaß, alles auf null zu setzen. Einfach so. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was um mich herum passierte und erst recht keine Vorstellung davon, wer oder was Damon war.

Aber er kannte meine Grandma. Und sie sein Geheimnis.

Enzo hatte recht.

Das veränderte alles.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top