Kapitel 8 - Das Ende der Geschichte
Meine Wohnung, samt Keller und Dachboden, hätten zweimal in den Raum gepasst, den Damon in aller Bescheidenheit ihr Wohnzimmer nannte. Zwei prunkvolle Kronleuchter baumelten von der meterhohen Decke, antike Ölgemälde schmückten die vertäfelten Wände und in der hinteren Ecke stand ein an Dekadenz nicht zu übertreffendes Klavier. Ich setzte mich, wie befohlen, auf ein rotes Stoffsofa, das einen fantastischen Ausblick auf das einladende Kaminfeuer bot. Ich bemühte mich immer noch, so unbeeindruckt wie möglich auszusehen, als Enzo sich neben mich fallen ließ und nervös seine Hände knetete. Eine Flasche Bourbon und vier Gläser landeten klirrend auf dem Beistelltisch, ehe Damon gegenüber von uns Platz nahm.
»Ich glaube, ich habe euch zwei noch nicht bekannt gemacht«, brach er das Schweigen. »Der mit der schicken Haartolle neben mir ist mein Bruder, Stefan. Und die gegenüber, mit der noch schrägeren Haartolle, ist Enzos Freundin, Bambi.« Er goss sich einen großzügigen Schluck aus der Flasche in ein Glas, bevor er mir grinsend zuprostete. »Mir gefällt der Out-Of-Bed-Look, ist irgendwie lässig.«
Stefan musterte mich von oben bis unten. Peinlich berührt und in der Hoffnung, er würde seinen Blick schnellstmöglich abwenden, verschränkte ich die Arme vor der Brust und versteckte so zumindest den verwaschenen Aufdruck meines Shirts. Spätestens jetzt bereute ich es mir nichts Ordentliches angezogen zu haben. Nichts strahlt mehr Autorität aus als ein übergroßes Nachthemd, ein verfilztes Haarknäuel am Hinterkopf und ungeputzte Zähne. Von dem beflügelnden Übermut, ausgelöst durch meinen Restpegel, war plötzlich keine Spur mehr und ich fühlte mich nur noch wie zerkaut und wieder ausgespuckt.
»Ist das Elenas Halskette?«, fragte Stefan und kniff ungläubig die Augen zusammen, völlig unbeeindruckt von meiner verwahrlosten Erscheinung. Ich konnte mir ein erleichtertes Seufzen nicht verkneifen.
»Falsch«, gab Damon in der schrillen Tonlage eines roten Buzzers zurück. »Sie gehört jetzt ihr.«
»Nein, Damon, sie gehört mir.«
»Wieder falsch.« Er zog eine empörte Grimasse. »Sie gehört mir. Du hast sie mir gestohlen und diesem Gilbert-Mädchen um den Hals gehängt. Sie hatte ja nicht lange was davon, also bin ich dir nicht böse.«
Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde Stefan zum Schlag ausholen. »Wer ist Elena?«, fragte ich. »Deine Freundin?«
Stefan nickte und fuhr sich nachdenklich mit der Hand durchs Gesicht. »Ja, das war sie«, fügte er mit gesenktem Kopf hinzu.
»Was ist passiert?«
Damon sog die Luft geräuschvoll durch die Zähne ein, während er die Flüssigkeit in seinem Glas schwenkte. »Lange Geschichte, kein Happy End. Ein wahrer Stimmungskiller.«
Ich bezweifelte stark, dass die Situation noch unangenehmer hätte werden können, aber ließ es anstandshalber auf sich beruhen, faltete die Hände geduldig im Schoß zusammen und räusperte mich. »Also, Enzo und du?«, rief ich mir den Grund für unseren kleinen Ausflug wieder ins Gedächtnis. »Woher kennt ihr euch?«
Enzo schnaufte, als würde ihm etwas wehtun. Er wich meinen Blicken aus, fixierte stattdessen das Glas in Damons Händen. »Enzo und ich sind alte Freunde«, seufzte dieser gedehnt. »Wo haben wir uns noch gleich kennengelernt, Kumpel?« Ganz offensichtlich ergötzte er sich an dem verbitterten Ausdruck seines Gegenübers und als er ihn nur weiter unverwandt anstarrte, fuhr er fort: »Schon klar, ich denke auch nicht gerne an die Zeit zurück. Ferienlager.« Er zog ein gequältes Gesicht. »Scheußliche Erfindung.«
»Ferienlager?«, wiederholte ich, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht verhört habe.
»Ich weiß, was du jetzt denkst.« Damon winkte ab. »Stockbrot und Marshmallows am Lagerfeuer. Aber ganz so war es nicht. Vielmehr ein ganzer Sommer, der sich anfühlte wie Jahre, in Isolation und Unterdrückung.«
»Jetzt werd' mal nicht melodramatisch«, warf Enzo ein.
»Oh, möchtest du weitermachen? Nur zu.« Damon nippte amüsiert an seinem Glas und beobachtete Enzos Hände dabei, wie sie den Ring an seinem Finger hin und her bewegten.
»Du kannst das besser«, schnaubte er abfällig. »Und ehrlich gesagt weiß ich nicht, worauf du eigentlich hinauswillst.«
»Ich versuche Bambi begreiflich zu machen, wieso du mich hasst.« Ich zuckte zusammen, als sich unsere Blicke trafen. »Dafür bist du doch hier, richtig?«
Zu diesem Zeitpunkt war ich mir gar nicht mehr so sicher, warum ich eigentlich dort war und hätte jeden anderen Ort diesem vorgezogen. Trotzdem nickte ich, fest entschlossen, mir den Rest der Geschichte anzuhören.
Damon räusperte sich. »Es ist schon viele Jahre her. Wir waren praktisch noch Kinder, als wir in diese ausgesprochen missliche Lage gerieten. Da waren noch andere Kinder in unserer Institution, aber wir bekamen sie selten zu Gesicht. Im Grunde hatten wir nur uns beide.« Seine Augenbrauen zuckten. »Und Maggie.«
Enzo ballte die Hände zu Fäusten, lehnte sich so weit über den Tisch, dass er ihn nur um ein Haar verfehlte und bevor er ein zweites Mal ausholen konnte, zog ich ihn ruckartig an den Schultern zurück.
»Unschwer zu erkennen, stand er auf sie.« Damons Augen blitzten voller Schadenfreude auf. »Aber ich möchte dir nicht den spaßigsten Teil vorwegnehmen. Bevor ich ihm nämlich die Freundin ausspannte...« Er machte eine dramatische Pause, als wartete er auf einen Trommelwirbel. »Habe ich ihn bei lebendigem Leibe verbrennen lassen.«
Mein Magen verkrampfte sich und ich zog meine Hände, die immer noch auf Enzos bebenden Schultern ruhten, automatisch zurück.
»Oh, es war ein Unfall«, lautete Damons Antwort auf meinen entsetzten Gesichtsausdruck. »Stockbrot und Marshmallows, weißt du noch?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Zugegeben, wir haben es übertrieben. Das Feuer loderte unkontrolliert und unsere Betreuer, ein Haufen gewissenloser Scheißkerle, haben den kleinen Enzo geradewegs in die Flammen geschubst.« Als er wieder von seinem Glas aufsah, verfinsterte sich seine Miene. »Und ich habe nur danebengestanden und zugesehen.«
Ich sah in Enzos Gesicht, als sähe ich es zum ersten Mal. »Du hast nichts getan?«, fragte ich wieder Damon zugewandt und erschrak vor dem mickrigen Klang meiner eigenen Stimme.
»Was hätte ich denn tun sollen?« Sein Ton wurde rauer. »Etwa hinterherspringen? Außerdem eilten ihm die Männer zu Hilfe, die ihn versehentlich gestoßen hatten.«
»Mir eilte niemand zu Hilfe.«
Damon lachte unterkühlt. »Und wie erklärst du uns den glücklichen Umstand, dass du noch lebst?«
»Warte«, fiel ich ihm ins Wort. »Wie kann das alles sein? Ich mein, du hast doch-«
»Keine Narben davongetragen?«, vollendete Damon meinen Gedanken. »Und nie davon erzählt, nicht ein Sterbenswörtchen?« Ich schüttelte bloß betreten den Kopf. »Wenn du das schon schockierend findest, dann warte ab, bis du das Ende der Geschichte hörst.« Stefan wollte etwas sagen, streckte seine Hand nach seinem Bruder aus, aber er wehrte sie ab. »Enzo wurde also aus den Höllenflammen gerettet. Und als er seinen einzigen Freund auf der Welt sehen wollte, musste er feststellen, dass er schon über alle Berge war.«
»Du hast mich einfach zurückgelassen«, sagte er und seine Stimme zitterte.
»Ganz genau, ich habe den ersten Zug nach Hause genommen, als sich mir die Gelegenheit dazu bot. Sag nicht, du hättest nicht dasselbe getan.«
Enzo baute sich schwer atmend vor seinem Gegenüber auf. »Ich wäre zurückgekommen, um dich zu holen.«
»Ich bin zurückgekommen!«
Eine Weile sagten die beiden kein Wort, stierten einander bloß tollwütig an. Stefan beobachtete mich teilnahmslos, die Arme verschränkt, das erkannte ich aus den Augenwinkeln. Die Luft in unserer Mitte knisterte ohrenbetäubend laut. Ein Teil von mir wollte fliehen und nie wieder zurückkehren, aber ein anderer sehnte sich danach, sich in Damons Schultern festzukrallen und ihn so lange durchzurütteln, bis er nicht mehr atmete. Dieser Teil siegte und hielt mich davon ab aufzuspringen und die Ruine, die keine war, augenblicklich zu verlassen.
Enzo schüttelte kaum merklich den Kopf, als sich seine vor Zorn geballten Fäuste entspannten und er sich mit hängenden Schultern neben mich fallen ließ. »Du kamst zu spät.«
Zu spät?
Ich hatte eindeutig genug gehört.
»Das ist doch alles nicht wahr, oder?«, platzte ich heraus, ein wenig erschrocken über meinen hysterischen Tonfall, der jedoch völlig angebracht war, und suchte hilflos Stefans Blick. Aber seine großen, grünen Augen sahen immer noch erschreckend abwesend aus. Als wäre all das hier normal und als würde es ihn nicht im Geringsten beunruhigen.
»Nein, natürlich ist das alles nicht wahr!« Damon schrie so laut, dass ich zusammenzuckte und instinktiv weiter nach hinten in den Sitz rutschte. Seine Augen waren zu Rädern geweitet, sein Gesicht wutverzerrt. Er stellte sein Glas zurück, bevor es in seinen bloßen Händen zersplitterte und machte einen gewaltigen Satz auf mich zu.
»Nichts von alledem ist wahr.« Er ging vor mir in die Knie und gewährte mir Einblick in den unverhohlenen Wahnsinn in seinen Augen. »Nur eins: Ich habe Enzo im Stich gelassen, als er mich am meisten gebraucht hat. Er hat mir das Leben gerettet und ich habe sein Todesurteil gefällt.« Er war mir so nah, dass ich seinen heißen Atem in meinem Gesicht spüren konnte. Ich wollte nach ihm greifen und ihn von mir stoßen, aber meine Arme gehorchten mir nicht mehr, hingen wie gelähmt an meinem tonnenschweren Körper.
»Ich habe ihn zurückgelassen, dazu verdonnert, den Rest seines erbärmlichen Lebens in der Hölle zu verbringen, aus der ich nur dank seiner Hilfe fliehen konnte. Und Maggie?« Er stieß ein absonderliches Lachen aus, ehe er mir wieder tief in die Augen sah. »Ich habe sie getötet.«
Ich japste nach Luft, als Enzos Schatten an mir vorbei jagte und er seine Hände wie eine Schlinge um Damons Hals legte. Er röchelte und griff nach den Pranken, die ihm die Luft abschnürten. Mit einer einzigen Bewegung, schneller als ein Flügelschlag, wirbelte Damon herum und rang Enzo keuchend zu Boden. Er zappelte unter seinem Gewicht wie ein Fisch an Land.
»Damon, lass ihn los.«
»Noch nicht, Bruder«, keifte er und drückte seine flache Handfläche fester auf Enzos Kehlkopf. »Er muss Bambi doch noch das Ende der Geschichte erzählen.«
»Hör auf. Bitte tu ihm nichts!«
»Was ist los, Kumpel?«, ignorierte er mein Flehen. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
Endlich tat Stefan das, wozu ich nicht mehr imstande war. Er stand auf, schlang seine Arme um Damons Brust, zog ihn mit aller Kraft von Enzo los und schleuderte ihn so weit von sich, dass er nur mühsam strauchelnd auf beiden Beinen zum Stehen kam. Aber bevor sich Enzo, der immer noch hechelnd nach Luft rang, aufrappeln konnte, schob Damon seinen Bruder mühelos aus dem Weg und beugte sich wieder über ihn. Seine schwarzen Haare klebten an seiner glänzenden Stirn. »Schluss mit der Heimlichtuerei. Das waren deine Worte!«
Mein Herz schlug so heftig, dass ich mir sicher war, dass die anderen es hören konnten. Ich war immer noch gelähmt, wie von einer unsichtbaren Kraft tiefer in den Sitz gedrückt. Die Sicht vor meinen Augen verschwamm und so nahm ich nur schemenhaft wahr, wie sich Damon mit schweren Schritten auf mich zu bewegte. Letztlich war es die blanke Panik, die mir die Luft zum Atmen nahm und jedes meiner Worte im Keim erstickte.
»Zeig ihr, was du bist!«, brüllte er, ohne sich umzudrehen. Er war nur noch eine Haaresbreite von mir entfernt, keuchend vor Erregung. Ich ließ es einfach geschehen. »Stefan?«, versuchte er es wieder und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. »Auch nicht?«
Mir wurde speiübel, als ich begriff, dass ich in der Falle saß. Unfähig gegen die heißen Tränen anzukämpfen, die mir über die Wangen rannten, von meinem Kinn abperlten und mir wie Regen plätschernd in den Schoß fielen.
»Also dann.« Damon holte noch einmal tief Luft, bevor sich sein Gesicht zu einer abscheulichen Grimasse verzog, bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Unter seinen blutunterlaufenen Augen traten dicke, dunkle Adern hervor. Totenblässe überzogen von blutroten Venen. Als sich sein Mund öffnete, wanderte seine Zunge begierig über zwei Reißzähne, von deren Spitzen der Speichel in seinen Rachen tropfte.
Und dann fing ich an zu schreien.
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