Kapitel 7 - Märchenstunde

Die Geschichte des alten Mystic Falls bestand aus vielen ineinandergreifenden Puzzleteilen und die stillgelegte Pension der Familie Salvatore war eins davon. Natürlich kannte ich die Schauergeschichten, die sich wie Kletterpflanzen um dieses Grundstück und dessen früheren Besitzern rankten, zumindest flüchtig. Unheimliche Gute-Nacht-Geschichten aus der düstersten Zeit dieser unschuldigen Kleinstadt. Ich hatte ihnen nie viel Bedeutung zugemessen.
Trotzdem lief es mir eiskalt den Rücken herunter, als wir gemeinsam die gepflasterte Auffahrt erklommen. In meiner Vorstellung war das verlassene Geisterhaus nichts weiter als ein muffiges Wrack, von morschen Holzplanken stiefmütterlich zusammengehalten.

Aber ich lag falsch.

Das kupferrote, zweistöckige Backsteingebäude, mit Ziegeldach und dickem Schornstein, das sich majestätisch aus einem dichten Waldstück erhob, hätte nicht lebendiger aussehen können. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst gucken sollte.

Damon kam uns auf nicht einmal der Hälfte des Weges entgegen. »Enzo!« Er breitete die Arme feierlich aus. »Ich habe mich schon gefragt, wann du mich endlich besuchen würdest.« Als sein Blick mich traf, erstarb sein schiefes Grinsen und er blieb auf der Stelle stehen. »Wer hat sie eingeladen?«

Enzo öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch ich peitschte unbeirrt voran, angetrieben von dem Restalkohol, der mir durch die Blutbahn floss. »Wir haben ein paar Dinge zu klären!« Ich fummelte die mysteriöse Kette aus der Hosentasche und streckte sie ihm entgegen. »Kommt die dir vielleicht bekannt vor?«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht und seine Mimik wurde schlagartig weicher. »Ein schönes Stück, nicht wahr? Betrachte es als Geburtstagsgeschenk.«

»Wieso?!«, fuhr ich ihn an. «Ich will sie nicht, nimm sie zurück!«

Ich glaubte, meine Hand nach seiner auszustrecken. Aber entweder, ich bewegte mich in Zeitlupe, oder Damon hatte Superkräfte. An diesem fürchterlichen Morgen traf mit Sicherheit beides ein bisschen zu. Denn bevor ich wusste, wie mir geschah, packte er mich am Oberarm und schleifte mich die Auffahrt hinunter. »Deine Freundin ist schrecklich undankbar!«, rief er Enzo im Vorbeigehen hinterher.

Je wilder ich um mich schlug, desto fester wurde sein Griff, also stolperte ich ihm bloß fluchend hinterher, bis sich Enzo uns in den Weg stellte. »Lass sie los«, blaffte er zähnefletschend und befreite mich ruckartig aus seinem unsanften Griff.

Damon hob beschwichtigend die Hände. »Wie du meinst, Kumpel. Setz sie ins Auto und wir unterhalten uns drinnen.«

»Vergiss es«, stöhnte ich und rieb mir die schmerzende Stelle, in die sich seine Nägel bohrten. »Schluss mit der Heimlichtuerei.«

»Herrgott nochmal, du nervst!«

»Sie hat recht, Damon.« Enzo baute sich breitschultrig neben mir auf und ließ seine Blicke zwischen uns beiden hin und her schweifen. »Schluss mit der Heimlichtuerei.«

Für einen erleichternden Augenblick hat es dem arroganten Kotzbrocken tatsächlich die Sprache verschlagen.

»Das soll wohl n' Scherz sein«, sagte er schließlich. »Hast du den Verstand verloren?«

Zwischen uns wurde es so still, dass ich hörte, wie das Blut in meinen Adern pulsierte. Ich hielt den Atem an, weil ich fürchtete, das kleinste Geräusch könnte das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen. Und gerade zitterte das Wasser an der Oberfläche wie Espenlaub. Damon war der erste von uns dreien, der sich rührte. »Schön! Wenn es das ist, was du willst«, schnaubte er erregt. »Dann lass uns der Kleinen ein paar Geschichten erzählen.«

Als sich seine kräftigen Hände wieder bedrohlich schnell auf mich zubewegten, wich ich einen Schritt zurück, aber diesmal zerrte er nicht an mir, wie an einem Hund an der Leine. Stattdessen nahm er mir die Kette aus der Hand, strich mir die Haare aus dem Rücken und legte sie mir um den Hals. Als er sich langsam von mir entfernte und dabei sein Werk betrachtete, grinste er triumphierend und ich fühlte mich geschlagen.

Mit einer Handbewegung hielt er uns an, ihm zu folgen. Enzo und ich nickten uns zu, bevor wir uns in Bewegung setzten. Damons Rücken wippte mit jedem Schritt auf und ab, wie eine verlockende Zielscheibe. Es war zu seinem Vorteil, dass er sehr viel stärker war, als seine durchschnittliche Statur vermuten ließ. Ich konnte seinen festen Griff um meinen Arm immer noch spüren. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich mich gegen ihn zur Wehr setzen, so viel stand fest.

»Mademoiselle? Vollidiot?«, Damon öffnete uns die schwere Eingangstür. »Tretet ein.«

Ich ignorierte sein dämliches Grinsen und betrat als erste den weitläufigen Flur. Aus irgendeinem Grund erwartete ich, dass mir ein modriger Geruch entgegen schlägt. Mit Staub überzogenes Mobiliar, vergilbte Wände, fleckige, ausgefranste Läufer auf den quietschenden Dielen und Plastikeimer an jeder Ecke, die den Regen, der durch das undichte Dach sickert, auffangen. Aber der Anblick, der sich mir bot, war atemberaubend. Ich schüttelte den ehrfurchtsvollen Ausdruck aus meinem Gesicht. Diese Genugtuung gönnte ich ihm nicht.

»Wir haben Besuch!«, hallte Damons Stimme in einem Singsang in den gewaltigen Mauern wider, als er die Tür hinter Enzo ins Schloss fallen ließ und damit den letzten Rest Tageslicht aus dem Raum verbannte. Bevor ich etwas sagen konnte, tauchte die Silhouette eines Mannes auf der Treppe auf, die ins obere Stockwerk führte. Er kam mit schweren Schritten auf uns zu. Großgewachsen, mit dunkelblonden Haaren auf dem Kopf und großen, grünen Augen im Gesicht, die uns feindselig anstarrten. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

»Was soll das werden? Was will sie hier?«

»Dein Ruf als Nervensäge eilt dir offenbar voraus«, raunte mir Damon augenzwinkernd zu, als er meinen verwirrten Blick aufschnappte. »Entspann dich, wir wollen uns nur ein bisschen unterhalten. Mein alter Freund ist auf einem selbstzerstörerischen Beichtstuhl-Trip.«

»Das ist keine gute Idee«, antwortete sein Gegenüber grimmig, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Damon gab bloß einige abwertende Laute von sich. »Das ist sogar eine ganz fantastische Idee, Bruder!« Er wandte sich wieder uns zu und sagte: »Bitte, fühlt euch wie Zuhause. Die Märchenstunde kann beginnen.«

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