Kapitel 2 - Meer

Als ich die Wohnungstür mit einem Schwung öffnete, schlug mir sein Duft entgegen. Unverkennbar herb, aber keines Falls unangenehm.

»Enzo?«, rief ich in den langen, leeren Flur und schloss die Tür hinter mir. Ich hatte seinen Wagen zwar nicht in der Auffahrt stehen sehen, aber vielleicht hatte er am Grill geparkt. Das machte er öfter so, ich wohnte schließlich nur zwei Blocks entfernt. Ich zog mir die Turnschuhe von den Knöcheln und hing meine Jacke an die Garderobe, meine Tasche ungeschickt darüber. Ein flüchtiger Blick in die Küche verriet mir, dass ich allein war.

Viertel nach sechs und noch keinerlei Reaktion auf meine hinterlassenen Nachrichten, seufzte ich innerlich und steckte das Handy enttäuscht zurück in die Hosentasche.

Zuerst pellte ich mich aus meiner verwaschenen Jeans, dann dem ausgeleierten Hemd, zog die Socken aus und den Bauch ein, als ich vor den großen Badezimmerspiegel trat. Meine nackten Füße klebten am kalten Fliesenboden.

Ich enthedderte heute zum ersten Mal das Knäuel aus perlblonden Locken auf meinem Kopf und ließ mir das verknotete Durcheinander lässig über die Schulter fallen. Meine kleine Brust war vollständig hinter der hellen Naturkrause verschwunden. Einzig und allein die dunklen Schatten unter meinen Augen sowie feine, blaue Äderchen und mein ungesund heller Teint deuteten darauf hin, dass ich keine achtzehn mehr war. Und natürlich der dumpfe Schmerz, der seit heute Morgen von meiner Schulter ausging. Die Stupsnase in der Mitte meines eher rundlichen Gesichts hat sich seit der Schule nicht großartig verändert. Die schmalen, spitzen Lippen und die markanten Wangenknochen waren auch noch die gleichen. Nicht zu vergessen meine unverwechselbar blauen Augen.

Wie ferngesteuert machte ich einen Schritt auf mein Spiegelbild zu, bis wir uns so nah standen, dass das Glas vor meiner Nase mit jedem Ein- und Ausatmen beschlug. Mein Mund wurde trocken, als ich mir das Bild des Fremden von heute Morgen ins Bewusstsein rief. Sein schiefes, schelmisches Grinsen, das nur jemand grinst, der glaubt, er würde über allem stehen. Er und seine makellose Zahnreihe.

Und diese unverwechselbar blauen Augen.

Ich blinzelte die Erinnerungen fort, stieg über den Badewannenrand und stöhnte erleichtert auf, als der erste Schwall warmes Wasser mein Gesicht benetzte. Aber die Art und Weise, wie er mich ansah, ließ sich nicht abspülen. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mich immer noch beobachtete. Und je heftiger ich die Augen zusammenkniff, desto deutlicher setzte sich das Bild wieder zusammen. Ich konnte die dunklen Haarsträhnen zählen, die ihm vereinzelt ins Gesicht fielen und sein Aftershave riechen, als er einen Schritt auf mich zu kam. Ich hob den Kopf, unter angehaltenem Atem und wohl wissend, dass er mit dem nächsten Augenaufschlag verschwinden würde. Aber diesmal rührte er sich nicht. Er hielt meinem Blick stand. Und er ließ mich eintauchen, in das endlose Meer seiner Augen.

Erst der aufdringliche Klingelton meines Handys riss mich aus der lähmenden Gedankenschleife, keinen Moment zu früh. Ich stellte das Wasser ab, schob den Duschvorhang fluchend beiseite und fischte mein Telefon aus der Jeans. »Hallo?« Nach dem vierten Klingeln schaltete ich den Lautsprecher ein und griff nach meinem Bademantel.

»Hallo, Liebes.« Der Klang seiner Stimme durchfuhr mich wie ein Blitz und ich zog den flauschigen Gürtel so eng um meine Taille, dass es mir kurzzeitig die Luft abschnürte. »Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt bei dir melde.«

Zum Glück sah Enzo die schiefe Grimasse nicht, zu der ich mein Gesicht gerade verzog. »Kein Problem, ich war eben duschen.«

Oder so ähnlich.

Ich verbannte meine klitschnassen Haare in einen Handtuch-Turban und jegliche Schuldgefühle gleich mit dazu. »Ich dachte schon, du gehst mir aus dem Weg. Bist du noch im Grill?«, fragte ich beiläufig und überkreuzte die Finger.

»So ein Unsinn. Ich übernehme Erics Schicht und wollte fragen, ob du mir Gesellschaft leisten möchtest.«

Ich atmete geräuschvoll durch die Nase aus und stützte mich mit beiden Händen am Waschbeckenrand ab. Ich fand den Grill scheußlich. »Dein Glück, dass deine Stimme den ganzen Tag über klingt wie direkt nach dem Aufstehen.«

Was auch immer das zu bedeuten hat. Aber es stimmte. Enzo hatte diese einzigartig angenehme Hörbuch-, Radio-, Geschichtenerzähler-Stimme, der man den ganzen Tag zuhören konnte und am Ende verlangte man trotzdem noch eine Zugabe. Es war völlig unmöglich, diesem wohlklingenden Bariton einen Gefallen abzuschlagen.

Enzo fing an zu lachen. »Ich werte das als ja.«

Wenn etwas seine Stimme toppte, dann war es einzig und allein sein verführerisches, rauchiges Lachen, dachte ich schmunzelnd und tauschte noch einige unschlüssige Blicke mit meinem verschwommenen Spiegelbild, ehe ich mich geschlagen gab. »Okay, dann bis gleich«, seufzte ich.

»Bis gleich, Liebes.«
     

◇ ◇ ◇
    

So schrecklich fand ich den Mystic Grill im Grunde gar nicht. Letztes Jahr ließ Brielle keine Chance aus, unsere freien Nachmittage dorthin zu verlegen. Er erfüllte seinen Dienst als größter und einziger Hotspot in Mystic Falls. Darum versammelten sich die Jugendlichen nach Schulschluss allzu gern bei den Billardtischen, die älteren Herren saßen mit randvollen Biergläsern an ihren Stammtischen und die, die sich nirgendwo dazugehörig fühlten, verbrachten den Abend auf ungemütlichen Barhockern direkt am Tresen. Das Essen war weitestgehend genießbar. Aber im Grunde war Enzos Anblick, adrett gekleidet an der Bar, schon Grund genug für einen Besuch und sichere Quellen bestätigten mir, dass ich mit dieser Meinung nicht allein war.

Als sein Bild vor meinem inneren Auge aufflackerte, lief mir ein wohlig warmer Schauer über den Rücken.

Ich hatte nur noch eine Querstraße vor mir. Die Luft war sehr viel angenehmer als am Tage, weniger drückend. Ich verlangsamte meinen Schritt, um sie voll und ganz in mich aufzusaugen und schloss dabei für einen kurzen Moment genießerisch die Augen.

Auf der linken Seite erhob sich der Grill in einem satten Olivgrün und rechts lag der Mystic Falls Nationalpark, was auch immer sich die Verantwortlichen bei der maßlos übertriebenen Namensgebung gedacht haben. Enzo hatte mich unzählige Male dorthin ausgeführt, weil ich bei unserer ersten Begegnung den Fehler machte, pausenlos vom Chicago Park District zu schwärmen. »Das hier sei zwar nicht Chicago«, hatte er gesagt, »aber Mystic Falls weiß dennoch zu betören.«

Betört hat mich am Ende des Tages nur einer.

Als hätte er mich belauscht, ploppte eine Nachricht auf meinem Handydisplay auf. »Hast du dich verlaufen?« Meine Antwort war ein rotes Herz-Emoji. Ich wechselte die Straßenseite, schlängelte mich durch die leeren Tische des Außenbereichs und öffnete die Tür.

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