Kapitel 19 - Das Virus

Ich weiß nicht wie lang es brauchte, bis ich es schaffte mich zurück auf die Füße zu kämpfen, aber zuletzt war es die Ungewissheit darüber, wie viel Zeit uns »für den Moment« tatsächlich verschaffte und ich wollte nur noch so viel Abstand wie möglich zwischen mir und Jules' »für den Moment« leblosen Körper bringen.

»Was machen wir mit ihm?«, fragte ich Stefan, nur um mich davon abzulenken, dass der rachsüchtige Vampir längst nicht unser größtes Problem war.

»Ich kümmere mich um ihn.« Seine lakonische Antwort, die alles und nichts bedeuten konnte.

Aus den Augenwinkeln erkannte ich, wie sich Damon rücklings gegen die Wand presste, die Arme umständlich vor dem gekrümmten Körper verschränkt, weil er immer noch versuchte, die Blutung seiner Wunde zu stoppen. »Ich will dir ja wirklich keine Umstände bereiten«, hustete er mehr, als er sprach, »aber wir haben keine Zeit zu verlieren, Frau Doktor.«

Erst jetzt schnellte ich zu ihm herum und konnte mir nicht recht erklären, warum der Anblick seines bleichen, vor Schweiß glänzenden Gesichts und seiner zitternden, spröden Lippen ausgerechnet Wut in mir hervorrief. Von allen Gefühlen war Wut die in diesem Augenblick wohl unpassendste. »Worauf wartest du dann? Heil dich gefälligst!«

»Tolle Idee«, nuschelte er mit halbgeschlossenen Augen, den Kopf erschöpft in den Nacken gelegt. »Darauf bin ich ja noch gar nicht gekommen.«

»Dann heil du ihn, Stefan!« Sein Bruder, der bereits drauf und dran war, Jules in eine der offenstehenden Zellen zu schleifen, hob den Kopf und erwiderte meinen hilflosen Blick nur zögerlich. »Dein Blut hat mich gerettet. Es kann also auch Damon retten, richtig?«

Stefan hielt in der Bewegung inne, dann schob er seine Arme unter Jules' Achseln und zog ihn weiter rückwärts hinter sich her. »Er hat sich mindestens zwei Kugeln eingefangen«, ignorierte er meine Aufforderung, »keine Austrittswunde. Wir müssen uns beeilen. Sag mir einfach, was du brauchst.«

Was ich brauche?

»Hör auf damit und heil ihn, verdammt nochmal!«

»Es funktioniert nicht, Bambi, hör mir doch zu.« Damon klang bemüht, seine letzte verbleibende Energie in die Worte zu verwandeln, die ich gar nicht hören wollte, trotzdem röchelte er und hustete gequält, bevor er fortfuhr: »Ich hab die Schüsse abgedämpft, trug einen von den Mistkerlen wie einen Schild vor mir her. Saublöde Idee.«

»Das kann nicht-, das geht doch-, das ist unmöglich! Was zur Hölle ist euch zugestoßen? Stefan?!« Aber Stefan blieb stumm, er war schon aus meinem Sichtfeld und gemeinsam mit Jules in der Dunkelheit verschwunden.

Und da wusste ich, wieso die rebellierende Kugel, die immer dann in meinem Magen vibrierte, wenn mich die blinde Wut überkam, mich aufgerechnet jetzt die Hände zu Fäusten ballen und mir die Tränen in die Augen steigen ließ.

Es war meine Schuld. Damon ging geradewegs durch die mit Schmerz gepflasterte Hölle und seine Qualen hatte er einzig und allein mir zu verdanken.

»Also dann, kleine Nervensäge. Wie lautet deine fachkundige Einschätzung?« Er machte den Fehler, seine Hand und damit das durchgesuppte Knäuel seines T-Shirts einen Zentimeter anzuheben, wodurch neues Blut in Höhe des Schlüsselbeins wie durch einen gebrochenen Damm heraussickerte. Er jaulte leise auf, als wir unsere Hände gleichzeitig zurück auf die Wunde pressten.

Schon zum zweiten Mal an diesem Tag schaltete mein Körper in den primitiven, angstgesteuerten Überlebensmodus um. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich diesmal alles dafür tun würde nicht mich, sondern Damon am Leben zu halten.

»Wir müssen so schnell wie möglich ins Krankenhaus«, forderte ich ihn deshalb auf. »Zu einem richtigen Arzt, in einen richtigen Operationssaal!«

»Kommt nicht in Frage, das ist zu riskant. Wir machen es hier.« Stefan verschloss die Tür, hinter der er Jules offenbar zurückgelassen hatte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, bevor er einen flüchtigen Blick zurückwarf. »Die Ketten haben schon tollwütige Werwölfe im Zaum gehalten. Und jetzt sag mir endlich, was du brauchst! Ich werde alles, was nötig ist, aus dem Krankenhaus besorgen.«

Was ich wirklich brauche ist Praxiserfahrung und ein extra starkes Beruhigungsmittel.

»Mullbinden«, antwortete ich stattdessen, den Blick immer noch wie in Trance auf unsere verhakten Finger gerichtet, »jede Menge, so viel Verbandszeug wie du tragen kannst. Etwas zum Desinfizieren, Tücher vielleicht, Nadel, Faden und Besteck, also eine Klemme, Pinzette, Skalpell. Schmerzmittel, ganz egal welches. Und Blutkonserven, er hat schon viel zu viel Blut verloren.«

»Sei nicht albern«, röchelte Damon wieder, noch heiserer als zuvor, mit einem schiefen Grinsen im Gesicht, das keinesfalls fröhlich, sondern schmerzhaft aussah. »Eine hübsche Pflegerin tuts auch.«

Hätte sein Körper unter meinen vor Anstrengung zitternden Händen nicht gebebt, als würde er jeden Moment ohnmächtig an der Wand hinuntergleiten, hätte ich ihm als Antwort meinen Ellenbogen in die Seite gestoßen. So biss ich mir nur auf die Unterlippe und ignorierte seine Bemerkung.

»Ist das alles?«, vergewisserte sich Stefan, der bereits am Fuß der Kellertreppe auf weitere Anweisungen wartete.

Keine Ahnung. Ich habe noch nie eine doppelte Schussverletzung verarzten müssen. Im Alleingang. Im Keller einer stillgelegten Pension, mit einem »für den Moment« toten Vampiren, angekettet in einer Zelle nur zwei Meter Luftlinie entfernt.

»Ja und jetzt beeil dich!«, rief ich ihm zu. »Auf der Schwesternstation im ersten Stock findest du alles, was du brauchst. Manipulier einen der Pfleger, wenn's sein muss. Aber nicht Brielle, hörst du? Sie ist bestimmt schon wieder im Dienst. Halt dich von ihr fern, sie trägt Enzos Ring-«

Der Gedanke traf mich wie eine geballte Faust in den Bauch. Der Gedanke und die fast schon schmerzvolle Scham darüber, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen müden Gedanken an den eigentlichen Grund für die tollkühne Selbstmord-Mission der Brüder verschwendete.

Ich hatte Enzo völlig vergessen.

Und als wollte Damon, dass es dabei bleibt, fing er an zu stöhnen und zu röcheln und lenkte meine Aufmerksamkeit augenblicklich wieder auf sich und sein zertrümmertes Schulterblatt.

»Du hast recht«, pflichtete ich ihm bei, obwohl es keinen Sinn ergab und ich den Gedanken eigentlich gar nicht laut aussprechen wollte. »Eins nach dem anderen. Wir müssen dich hier erstmal rausschaffen.«

Der Blick in den Gang, der mir mit einem Mal unendlich lang vorkam, verriet mir, dass Stefan bereits ohne ein weiteres Wort der Verabschiedung aufgebrochen war. Ich hoffte inständig, dass er sich meine provisorische Bestandsliste merken würde und noch viel inständiger hoffte ich, dass ich mit den gestohlenen Materialien zu dem Wunder in der Lage war, das die beiden von mir erwarteten. Im Moment wagte ich das noch ernsthaft zu bezweifeln.

»Leg deinen Arm um mich«, befahl ich ihm und versuchte ihn bestmöglich zu stabilisieren. Aber er hielt sich besser auf den Beinen, als ich anfangs vermutete, was sicherlich daran lag, dass er sich fortan auf sein Gleichgewicht und nicht länger auf aberwitzige Kommentare konzentrierte. So schlichen wir beide, schweigend und vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung der Kellertreppe und langsam die Stufen empor.

»Fast geschafft«, seufzte ich unnötigerweise, bevor ich die Kellertür aufstieß und mich und meinen zustimmend grummelnden Patienten hindurchschob. Dankbar für sein Lebenszeichen und dafür, dass wir den anstrengendsten Teil des Weges hinter uns hatten, seufzte ich wieder und krallte meine Fingernägel tiefer in seine Seite, so als fürchtete ich, er würde mir aus den Händen gleiten, wenn ich nicht genau aufpasste.

»Esstisch!« Ich musste feststellen, dass ich offenbar nur noch zu Ein-Wort-Phrasen in der Lage war, als wir endlich den Flur erreichten. Doch glücklicherweise verstand er meinen kümmerlichen Ausruf als die Frage, die ich eigentlich formulieren wollte.

»Im Salon«, antwortete Damon und wippte mit dem Kopf nach links, in die Richtung des Raumes, den ich gedanklich bisher noch Wohnzimmer nannte und der mir von nun an immer einen Schauer des Entsetzen über den Rücken jagen würde, weil er mich an Angst, Blut und Schmerz erinnerte.

Und an Jules.

Der Salon, zu dem ich Damon mit immer hastigeren Schritten führte und in dem der Esstisch stand, der einer Operationsliege noch am nähesten kam, lag angrenzend zum Raum des Schmerzes. »Handtücher!« Der nächste geringsilbige Gedanke, der mir durch den Kopf und auf die Zunge schoss. »Du legst dich hin und ich hole Ha-«

WUMM!

Sein Anblick traf mich wie eine Druckwelle, mit der gewaltigen Kraft einer Explosion, die mir fast den Boden unter den Füßen wegriss. Diesmal war es Damon, in dessen Hüfte ich mich eben noch wie mit einem Widerhaken verkeilte, der mir mit seinem ausgestreckten Arm Halt geben musste, bevor ich das Gleichgewicht verlor.

Für einen kurzen, fast schon friedlichen Augenblick glaubte ich die Erklärung für alles zu kennen. Für Damons offenklaffende Wunde, die nur wenige Stunden zuvor von ganz allein verheilt wäre. Für Jules, dessen Kopf bloß »für den Moment« in ungesunder Schieflage von seinen Schultern abstand und auch für den Umstand, dass mein eigenes Leben am seidenen Faden hing, bevor Stefan auf den Reset-Knopf drückte, den Albtraum der letzten Minuten wie ungeschehen machte und mir die Schmerzen nahm.

Ich träume.

Denn anders konnte ich mir nicht erklären, warum Enzo, körperlich unversehrt, lediglich mit wehmütigen, glitzernden Augen nervös seine zitternden Hände knetete, als sich unsere Blicke trafen.

»Hallo, Liebes.«

An diesem Tag lernte ich eine entscheidende Sache über mich selbst. Nämlich dass Wut, das stichflammenartige Brennen in der Magengegend, immer das vorherrschende Gefühl war, wenn ich nicht mehr zwischen Entsetzen, Erleichterung und Glück unterscheiden konnte. Wenn sich alle möglichen Empfindungen zu einem überwältigenden Einheitsbrei vermischten.

Im Zweifel blieb die Wut. Und die kündigte sich gerade wieder mit schweißnassen Handflächen und einem flauen Bauchgefühl an.

»Du-, du bist wirklich hier?«, druckste ich und spürte, wie sich mein Kiefer verspannte.

Enzo nickte zögerlich. Er konnte ja auch nicht ahnen, dass er die immer wiederkehrende Hauptrolle in meinen Albträumen spielte und ich deshalb befürchtete, er würde mit dem nächsten Wimpernschlag verschwinden und ich würde hochschrecken und feststellen, dass nichts von alledem real war – so wie immer.

Nur diesmal nicht. Das eine mal, als ich mir sehnlichst wünschte, ich würde nur träumen, tat ich es nicht.

»Du bist schon die ganze Zeit über hier. Während Stefan den Vampiren, der mich umbringen wollte, im Keller fesseln musste, Damon wie ein Schwein blutet und ich ihn ganz allein bis hier nach oben geschleppt habe, warst du hier und hast was getan?!« Mein Blick fiel auf einen Stapel Handtücher, die mein Gegenüber offenbar, einem ähnlichen Impuls folgend, aus dem Badezimmer zusammenklaubte, während ich im Geiste eine Operation vorbereitete, der ich nicht gewachsen war. »Etwa Handtücher geholt? Wie überaus hilfreich! Und du!« Damon war in der Zwischenzeit ohne fremde Hilfe auf den Esstisch geklettert. »Du hast es nicht für nötig gehalten, mir zu sagen, dass ihr Enzo gefunden habt?«

»Du hättest bloß fragen brauchen«, flüsterte er, aber in meinen Ohren klang es wie: »Dir war Enzos Verbleib doch völlig egal.«

Damon stöhnte unter dem Druck, den ich möglicherweise ein bisschen zu rabiat auf seiner Schulter ausübte, gequält auf, aber gerade war nichts wichtiger, als ihn mit dem gefalteten Frotteehandtuch vor dem Verbluten zu bewahren. Und mich von dem Gespräch abzulenken, das Enzo in meinem Rücken versuchte aufzubauen. Aus irgendeinem Grund konnte ich es kaum ertragen ihm in die Augen zu sehen, jetzt, da er endlich vor mir stand, leibhaftig und nicht bloß als Halluzination, als Begleiterscheinung von zu wenig Schlaf.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, begann er und räusperte sich. »Es tut mir unendlich leid, das musst du mir glauben. Ich hätte nicht weggehen sollen, dann wäre das alles nicht passiert.«

»Du hättest eine ganze Menge nicht tun sollen«, erwiderte ich in dem Bewusstsein, dass immer noch einzig und allein die irrationale Stimme der Wut aus mir sprach. »Mich nach Strich und Faden belügen, zum Beispiel. Brielle vorgaukeln, sie läge dir wirklich am Herzen. Oder Damon ins offene Messer laufen lassen-, ich meine, siehst du, was hier gerade passiert?!«

Beinahe wünschte ich mir, sie hätten Enzo nicht gefunden und als Strafe für den Anflug dieses fürchterlichen Gedankens biss ich mir auf die Zunge. Dass wir uns das erste Mal, nach allem, was während seines Verschwindens passiert war, ausgerechnet in dieser Ausnahmesituation aussprechen mussten, war unfair für ihn und für mich. Ich war schließlich kaum imstande gewesen mein eigenes Leben zu retten, schon wurde mir ein anderes in die Hände gelegt.

Enzo kam mit einem großen Schritt näher und machte es mir damit unmöglich, seinem fordernden Blick länger auszuweichen. »Lass es mich dir bitte erklären-«

»Erklär mir nur, wie es sein kann, dass Damon, seines Zeichens unsterblicher Vampir, gerade vor unseren Augen verblutet. Alles andere ist mir egal.«

Zumindest für den Augenblick musste es mir egal sein.

Ihm war die Farbe mittlerweile gänzlich aus dem schweißnassen Gesicht gewichen. Die Augen hatte er noch geöffnet, was ich erstmal als gutes Zeichen interpretierte. Seine Atmung war flach, aber wenigstens atmete er noch. Bis zu Stefans Rückkehr war ich völlig machtlos. Ich konnte nichts weiter tun, als den Stoff so fest wie möglich auf seine Wunde zu drücken und mir zum ersten Mal seine große Klappe und seinen nervtötenden Mitteilungsdrang zurückzuwünschen.

»In Ordnung.« Falls Enzo meine Abwehrhaltung kränkte, dann konnte er es gut verbergen, denn er nickte mir verständnisvoll zu. »Ich schätze, Damon hat dir schon von unserer gemeinsamen Zeit bei Augustine erzählt?«

Diesmal nickte ich, den Blick immer noch starr auf meine weißangelaufenen Fingerknöchel gerichtet. »Das Vampir-Folterhaus, ja, ich weiß. Vor sechzig Jahren hat man euch Unvorstellbares angetan. Willst du damit sagen«, ich räusperte mich und hob langsam den Kopf, »sie sind wieder da?«

»Sie waren nie weg«, antwortete Enzo nach einer kurzen Pause, in der er nicht mehr meinen, sondern Damons Blick suchte. »Sie haben einen Virus entwickelt. Einen DNA-verändernden Virus, das sich massiv auf die heilende Kraft von Vampirblut auswirkt.«

»Ein Virus?« Meine Stimme rutschte unbeabsichtigt ein paar Oktaven in die Höhe. »Woher weißt du das, Enzo?«

»Weil ich dabei war, als sie mit dem Experiment begannen. Augustine hatte schon damals, nach Damons Flucht, an einer ähnlichen biologischen Waffe gearbeitet. Zunächst mit mäßigem Erfolg.«

Blutleere Vampire, Stefan, genau das haben wir schon vor sechzig Jahren gesehen!

Damons Stimme, die in diesem Augenblick in meinem Kopf hallte, jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken und ich musste dem Impuls, mich zu schütteln, widerstehen, denn ich durfte den Druck auf seine Schulter unter keinen Umständen verringern.

»Und jetzt, all die Jahre später, ist es ihnen gelungen?«, wisperte ich und wagte es, Enzo wieder in die traurigen Augen zu sehen, bereute es jedoch in der Sekunde, in der sein Schmerz wie ein Funke auf mich übersprang.

»Sie bezeichnen es selbst als die ultimative Waffe. Einen infizierten Vampiren zu lähmen und zu pfählen ist so leicht wie eine Mücke zu erschlagen. Vampire, die sich nicht eigenständig heilen können und die noch dazu das Blut eines gesunden Vampiren abstoßen, sind zum Tode verurteilt.« Nun sah er wieder auf Damons schwach auf und absinkenden Brustkorb herab. »Schon eine einfache Schussverletzung wird zum Überlebenskampf.«

»Ich wusste es.« Natürlich war es eine Falle. Ein Hinterhalt aus dem Bilderbuch. Ich hasste mich dafür, dass ich ihn nicht schon eher erkannte und die Brüder stattdessen blindlings hineintappen ließ. Augustine hatte sie bereits erwartet, aber glücklicherweise (auch wenn in dieser Situation von »Glück« keine Rede sein konnte) nur einen von ihnen verwundet. »Dann hat Jules gelogen und Augustine steckt hinter all dem, nicht etwa Klaus?«

»Doch.« Enzo nickte schwach, den Blick in die Ferne geheftet.

»Was? Das ergibt doch gar keinen Sinn! Warum sollte sich Klaus ausgerechnet einer Organisation anschließen, die seit hundert Jahren gegen Seinesgleichen kämpft?«

Erst dachte ich, dass Damon mir beipflichten wollte, aber was ich als Zustimmung fehlinterpretierte, entpuppte sich letztlich doch nur als ein heiseres, kehliges Husten. Ganz automatisch strich ich ihm besänftigend über die nasse Stirn und glaubte seine Augen kurz dankbar aufflackern zu sehen, bevor ich die Hand zurück auf das Handtuch presste.

»Er hat sich ihnen nicht angeschlossen«, widersprach Enzo in unüberhörbar rauerem Ton, mit verschränkten Armen von mir abgewendet. »Er hat die Leitung übernommen.«

Und auch das ergab für mich keinen Sinn. Nicht zu dem Zeitpunkt, als Damon, so schwach wie ich mir sicher war ihn niemals sehen zu müssen, unter meinen Händen immer stärker zu zittern begann und ich wurde das Bild nicht los, das sich bei seinem Anblick vor mein inneres Auge schob: Wie er vor sechzig Jahren, an den Hand- und Fußgelenken an einer richtigen Operationsliege fixiert, mit dem gleichen hoffnungslosen Blick in die wahnsinnigen Augen des Monsters sah, das sich über ihn beugte, wohlwissend, dass ihm die schlimmsten Qualen erst noch bevorstanden.

»Enzo, komm her und drück für mich auf die Wunde!«, befahl ich ihm und erschrak mich fast selbst über meinen herrischen Ton und über die Entschlossenheit das zu tun, was mir eigentlich eine Heidenangst bereiten sollte.

»Was hast du vor?«

Erst als Enzo meinen Platz einnahm, wenn auch widerwillig, und ich sicherging, dass er die Stelle richtig erwischte, stellte ich mich ihm gegenüber, auf die andere Seite des Tisches. Auf die Seite, zu der Damon seinen Kopf fallen ließ, um mir unter seinen flatternden Lidern ins Gesicht sehen zu können. Dann beugte ich mich ein Stück vornüber, um sicherzugehen, dass er mich verstehen konnte.

»Ich weiß, dass du das jetzt nicht hören willst, aber dir läuft die Zeit davon.« Seine Vorahnung durchzuckte Enzos ganzen Körper, doch ein strenger Blick genügte, um ihn daran zu erinnern, dass er sich nicht bewegen durfte, keinen Zentimeter. Nicht in Damons wohl kritischsten Minuten, seit ihn das Schussfeuer außer Gefecht setzte. »Ich weiß auch, dass du das eigentlich nicht tun willst und dass du mir genau das sagen würdest, wenn du noch imstande wärst mir zu widersprechen. Aber du verblutest, Damon. Du stirbst.«

Nicht nur für den Moment. 

Ich fuhr mir mit dem Daumen über die dünne, weiche Haut über den Pulsadern, dann führte ich mein Handgelenk vorsichtig an seine leicht geöffneten Lippen.

Sondern für immer.

»Ich habe euch die Schuld an allem gegeben, dir und Stefan, und das war falsch. Ich habe dich öfter verflucht als ich dankbar für deine Bekanntschaft war, das kannst du mir glauben. Und trotzdem weiß ich, dass du mit deiner verschrobenen, grobschlächtigen Art bloß für mich da sein wolltest und das warst du auch, Damon, du warst für mich da! Jetzt werde ich für dich da sein.«

»Auf keinen Fall«, protestierte Enzo über unsere Köpfe hinweg. »Das werde ich nicht zulassen. Er wird dich töten.«

»Er? Schau ihn dir doch an!« Aber Enzo hielt meinem Blick stand, die Zähne angestrengt aufeinander gebissen. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich recht hatte. »Dein Blut würde er auch abstoßen, genau wie Stefans, richtig? Meins verschafft ihm wenigstens noch ein bisschen Zeit! Mehr brauchen wir doch gar nicht, nur noch ein bisschen-«

Er schüttelte entschieden den Kopf und schnitt mir das Wort ab. »Das ist keine Option, Bambi.«

»Ich habe dich nicht um Erlaubnis gebeten!«

Dann, als mich die nächste Welle der Verzweiflung unter sich begrub, legte ich meine Hand auf Damons Wange, drehte seinen Kopf zurück in meine Richtung und hörte erst dann auf ihn zu schütteln, als er meinen Blick aus seinen glasigen, müden Augen erwiderte. »Bitte«, wollte ich sagen, immer und immer wieder. Hätten die aufsteigenden Tränen mir nicht die Kehle zugeschnürt und meine Worte im Keim erstickt.

Plötzlich veränderte sich der Ausdruck in seinem Gesicht. In der Sekunde, als er mein Handgelenk, das ich bisher keinen Zentimeter von seinem Mund wegbewegt hatte, umfasste. Sein zaghafter Griff war kaum zu spüren. Ich sog die Luft geräuschvoll durch die Zähne ein, kniff die Augen automatisch ein Stück zusammen. Bereitete mich auf den Schmerz vor, dessen Ausmaß ich unmöglich abschätzen konnte. Aber schlimmer als das, was ich die letzten Stunden durchgemacht hatte, konnte es nicht werden.

Gerade als ich meinen Blick abwenden wollte, begann Damon zu lächeln.

Nicht ironisch, nicht selbstgefällig, nicht gehässig. Sondern warm und ehrlich. 

»Nein«, japste ich, als ich begriff, was das zu bedeuten hatte. »Bitte, fall du mir nicht auch noch in den Rücken! Denn genau das tust du, Damon!« Seine Finger waren feucht und eiskalt und obwohl es ein Leichtes gewesen wäre, seine Hand abzuschütteln, versuchte ich es nicht einmal. Mein Blick war wieder aufgeklart, dafür tropften mir die glühend heißen Tränen vom Kinn. »Das tust du, wenn du es zulässt, dass ich dich sterben lasse.«

Er lächelte immer noch.

Dann schloss er die Augen und seine Gesichtszüge entspannten sich.

Erst jetzt glitt seine Hand zurück, sein Kopf fiel zur Seite, aber ich bildete mir ein, dass das Lächeln nicht gänzlich aus seinem Gesicht verschwand.

Enzos Atem, der bis eben noch schwer und unregelmäßig ging, war verstummt. Die Uhr, die mich vom anderen Ende des Salons daran erinnerte, dass uns die Zeit davonrannte, tickte nicht mehr. Und meine Fingerspitzen, unter denen ich Damons Haut bis zu diesem Moment noch spüren konnte, wurden taub. Darum registrierte ich die Stimme nicht, die versuchte zu mir durchzudringen und mich dabei nur weiter an den Rand der Ohnmacht trieb. Die mit ihrem festen Griff unnachgiebig an meinen Schultern rüttelte.

Du darfst dich nicht bewegen, wollte ich schreien. DU MUSST WEITER AUF DIE WUNDE DRÜCKEN!

Aber meine Stimme versagte. 

Ich fürchtete mich vor dem Anblick meiner gescheiterten Rettungsmission. Vor dem leblosen Ausdruck in seinem Gesicht. Dem matten Blau seiner Augen, das mich nie wieder an die endlosen Tiefen des Meeres erinnern würde. Vor den Gefühlen, die ich so lange unterdrücken konnte, wie ich die Augen geschlossen hielt.

Als ich mich zwang wieder hinzusehen, begriff ich, dass sich Enzo immer noch beidhändig auf das mittlerweile blutgetränkte Handtuch stemmte.

Denn ich hatte weder die Eingangstür gehört, die vor wenigen Sekunden ins Schloss gefallen sein musste, noch seine aufgeregten Rufe bemerkt. Aber jetzt erkannte ich ganz deutlich, wie Stefan den Inhalt seiner Tasche achtlos auf dem Boden ausleerte, wobei das lose Sammelsurium an Operationsbesteck ohrenbetäubend laut aneinander klirrte. Er riss eine der Blutkonserven mit den Händen auf, ehe er zu seinem Bruder aufschloss.

Und die nächsten Tränen, die ich vergebens versuchte wegzublinzeln, kamen mir lediglich vor Erleichterung.

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