Kapitel 18 - Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende
»Bambi?«
Ich bereute meinen überstürzten Anruf schon mit dem ersten Freizeichen.
Ich bereute es, mir keine passenden Worte zurechtgelegt zu haben, die den kraftlosen Klang meiner tränenerstickten Stimme möglichst plausibel erklärten.
»Bambi, bist du dran?«
Aber am allermeisten bereute ich es, dass ich sie geradewegs in ihr Verderben rennen ließ, wo ich doch das beklemmende Gefühl nicht loswurde, dass all das nur meine Schuld war. Und doch war ich diejenige, die in den schützenden Mauern ihres Zuhauses zurückblieb, während die Brüder in eine Schlacht zogen, die sie unmöglich gewinnen konnten.
Das war nicht richtig. Nichts von alledem.
Was haben wir übersehen?
»Ich leg jetzt auf.«
»Warte«, druckste ich und presste mir die Hand auf den Mund, als hätte ich gerade ein Geheimnis ausgeplaudert. Und gewissermaßen tat ich das auch. Denn die Verzweiflung, die in diesem einen Wort mitschwang, war unüberhörbar. Für einen Augenblick wurde es ganz still in der Leitung.
»Hey, weinst du etwa?« Gens Frage genügte, um die lodernde Hitze hinter meinen Augäpfeln wieder aufkeimen zu lassen.
»Nein«, log ich und biss die Zähne aufeinander. »Ich habe nur gerade an dich gedacht.«
Das war zumindest ein Teil der Wahrheit. Vorrangig dachte ich an das gesichtslose Monster mit dem unschuldig klingenden Namen. Und an Enzo, für den es vielleicht noch Hoffnung gab, wenn auch eine schwindend geringe. Aber das lag nun nicht mehr in meiner Hand.
»So wie du dich anhörst, kann das ja nichts Gutes bedeuten.«
Nein. Ich fühle mich wie beerdigt in meinem eigenen Körper, so große Angst habe ich.
Was haben wir übersehen?
»Erinnerst du dich noch an das, was du früher immer zu mir gesagt hast?«
»Hände weg von Italienern?« Ihr Glucksen und die blasse Erinnerung an Francesco Valentini brachten mich selbst in dieser aussichtslosen Situation beinahe dazu, laut los zu prusten. Aber mein Lachen, immer noch hinter vorgehaltener Hand, klang gequält und freudlos.
Ich schüttelte automatisch den Kopf. »Nein, noch früher. Damals, als wir noch Kinder waren.«
»Würdest du mir vielleicht verraten, was eigentlich los ist?«
Das Ungeheuer, das vor zehn Jahren die gesamte Stadt mitsamt ihrer Einwohner verschlungen hat, macht heute Jagd auf den Vampiren, in den ich mich verliebt habe. Und irgendetwas sagt mir, dass die beiden anderen, ohne die ich mit Sicherheit schon den Verstand verloren hätte, nicht lebend aus der Sache rauskommen werden.
Irgendetwas übersehen wir.
»Eine Sieben«, log ich wieder und umging damit ihre Frage. »Eine gewaltige Sieben von Zehn.« Dabei befand ich mich mindestens auf einer Zwölf.
Früher fiel es mir leichter, meinen Kummer zu beziffern, anstatt ihn in Worte zu fassen. Eine Sieben auf unserer damals erfundenen Kummer-Skala war beispielsweise die durch meinen Versetzungskampf selbstverschuldete Prüfungsangst, die mich wochenlang wie ein Zombie durch die Schulflure stolpern ließ. Eine vergleichsweise solide, schlafraubende Sieben von Zehn. Aber der Schmerz, der mir gerade mein Innerstes zersprengte, zersprengte auch unsere Skala.
»Oh, Süße«, seufzte Gen und klang dabei wesentlich sanfter als zuvor. Beinahe hätte ich wieder angefangen zu schluchzen. »Soll ich zu dir kommen? Ich setz mich sofort ins Auto, wenn du mich-«
»Nein«, widersprach ich ihr so hastig, wie ich konnte.
Bloß nicht. Ich darf nicht noch einen Menschen mit mir in den Strudel des Verderbens ziehen.
»Ich kann dir aber nicht versprechen, dass mein kleiner Pep Talk auch fernmündlich funktioniert.«
»Es funktioniert doch schon«, antwortete ich und diesmal war es die Wahrheit. Das Schmunzeln in ihrer Stimme ersetzte die warme Hand, mit der sie meine in diesem Augenblick gedrückt hätte. Wären wir beide noch Kinder gewesen, hinter abgeriegelter Tür im Schneidersitz auf dem Schlafzimmerboden. Ich schniefte und wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht.
»Also schön. Schließ die Augen.«
Ich stellte mir vor, wie sie, die eine Hand mit dem Handy ans Ohr gedrückt und die andere zwischen Ellenbogen und Rippen eingeklemmt, rücklings an der Wand lehnte. Oder an einem Sofakissen, so wie ich in diesem Augenblick. Ich drückte die Beine durch und ließ das Blut, das sich irgendwo in meinen Oberschenkeln staute, zurück in die tauben Fußspitzen fließen. Begleitet von den beruhigenden Atemgeräuschen, von denen ich nicht sagen konnte, ob sie von mir oder aus der Leitung stammten.
»Du bist ein Glückskind, Bambi. Das warst du schon immer und ich werde niemals aufhören, dich daran zu erinnern. Denn, dass wir uns begegnet sind«, schmunzelte sie und ich war mir fast sicher, dass sie gerade ungläubig den Kopf schüttelte, »dass wir uns begegnet sind, ist und bleibt ein Wunder.«
Du bist ein Glückskind.
Gerade als auch mir die Absurdität unserer Unterhaltung bewusstwurde, peitschte mich ein Windzug wie eine Ohrfeige, und ich riss die Augen wieder auf. Er war kühl, dabei musste er von draußen stammen. Und da draußen, hinter den Gemäuern, die mir nicht länger wie ein Schutzwall, sondern zunehmend wie eine Gefängniszelle vorkamen, schien schließlich immer noch die Sonne. So viel Zeit war noch nicht vergangen.
Trotzdem wurde es bitterkalt.
Zu schnell, dachte ich noch, als ich das Telefon fallen ließ und mich wie elektrisiert in die Richtung drehte, aus der das Geräusch der ins Schloss fallenden Eingangstür gekommen war. Das ging viel zu schnell.
Und mit einem Mal wusste ich, was wir übersehen hatten.
◇ ◇ ◇
»Wie erstaunlich. Ein symbolisches Fingerschnippen und zack, deine Bodyguards haben dich allein gelassen. Das war ja noch leichter, als einem Baby den Schnuller zu stehlen, ehrlich.«
Die aufgeweckten Augen des Mannes mit den dunklen Locken, denen ich vor wenigen Stunden noch keuchend hinterhergerannt bin, starrten mich jetzt belustigt an.
»Jules«, schaffte ich es gerade noch, das Offensichtliche auszuspucken, bevor meine Stimme versagte.
Das ist eine Falle, konkretisierte mein Bauchgefühl seinen nicht weniger offensichtlichen Verdacht. Aber da war es schon zu spät.
Mein Gegenüber pfiff durch die Zähne und klatschte in die bestialisch großen Hände. »Volle Punktzahl! Ich bin beeindruckt. Wären die Gebrüder Grimmig doch nur halb so schlau wie du. Dann hätten sie selbst in ihrem tollwütigen Blutrausch bemerkt, dass sie eine winzige Kleinigkeit vergessen haben.«
Mich, dachte ich und schluckte. Sie haben mich vergessen.
»Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Jules, der meinen stummen Blick richtig gedeutet hatte und mit gehobenen Händen langsam auf mich zu kam. »Du bist klüger als die beiden, richtig? Du wirst nicht die Heldin spielen. Und dann wird dir auch nichts passieren.«
»Wo sind sie?«, krächzte ich an dem Klos vorbei, der mir die Luft abschnürte, darauf bedacht, wieder genügend Abstand zwischen uns zu bringen. Aber viel Spielraum blieb mir nicht mehr. Gleich würde ich in die verkohlten Holzscheite im Schlund des Kamins treten. »Du hast gelogen, stimmts? Niklaus ist nicht zurückgekehrt. Das war nur eine Falle.«
Aber warum?
Er verzog das Gesicht, die Hände immer noch in Abwehrhaltung. Zwischen uns befand sich nur noch der kniehohe Couchtisch, keine zwei Armlängen von einem bis zum anderen Ende. Dann schüttelte er so heftig den Kopf, dass ihm einige Strähnen wie Sprungfedern ins Gesicht fielen. Unter anderen Umständen hätte ich dieses Detail sicher charmant gefunden. »Nein, nein, nein, nein. Du stellst die falschen Fragen.«
Jules wirkte unangemessen besonnen. Nicht wie jemand, dessen Fangzähne sich jeden Moment in meinen Hals bohren würden. Sein Atem ging ruhig, keine Anzeichen von Nervosität in Form von Schweiß, roten Hautflecken, zitternden Gliedmaßen. Wahrscheinlich wartete ich deswegen ein paar entscheidende Sekunden zu lang, bevor ich ihm mit einem Hechtsprung auswich, denn seine Pranken erwischten mich mit spielender Leichtigkeit und rissen mich zu Boden.
Der Aufprall kam so unerwartet, dass ich keine Möglichkeit hatte, meinen Sturz abzufangen und um ein Haar hätte meine Schläfe nicht das Parkett, sondern die Backsteine erwischt, die die Feuerstelle einzäunten.
»Tut mir leid, aber ich habe dich gewarnt. Spiel nicht die Heldin und dir wird nichts passieren.«
Durch den Druck auf meinen Ohren klang seine Stimme weit entfernt, wie durch einen Wattebausch abgedämpft. Aber vielleicht konzentrierten sich meine Sinne auch bloß auf den gerade einsetzenden Schmerz, der von meiner Schulter bis in den unteren Rücken strahlte und der mich beinahe laut aufjaulen ließ. Es kostete mich alle noch verfügbare Kraft, um die Sicht vor meinen tränenden Augen wieder scharfzustellen.
Seine Miene war unverändert friedlich.
Er wird mich nicht töten, dachte ich und musste mir eingestehen, dass mir diese Schlussfolgerung keinerlei Erleichterung brachte. Im Gegenteil. Noch nicht. Er spielt auf Zeit. Ich brauche einen Plan.
Von da unten entdeckte ich nichts, was mir helfen konnte, mich aus der Situation zu befreien. Jules' Gesicht, durch die Schieflage fast komplett hinter seinen Haaren verborgen. Die fransigen Zipfel des Teppichs neben mir, über meinem Kopf die schweren Enden der Vorhänge. Die auf den ersten Blick offensichtlichste Flucht nach vorn, aus dem Fenster, war unmöglich. Jules war viel schneller als ich, konnte jede meiner Bewegungen vorhersagen. Von seiner körperlichen Überlegenheit ganz zu schweigen. Ich musste ihn überrumpeln.
Einen Plan, einen Plan, einen Plan.
Ich suchte die Umgebung weiter mit den Augen ab, zunehmend verzweifelt und entschied, dass ich zumindest den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen musste. »Warum ich?«, zischte ich mit zusammengebissenen Zähnen und erzielte damit die gewünschte Reaktion.
Irgendeine Reaktion, die es mir erlaubte, mich zu bewegen. Er entschied sich für ein übertriebenes Grinsen, den Kopf theatralisch in den Nacken gelegt. »Gut, sehr gut. Wir kommen der Sache immer näher.«
Ich brauchte nur einen Zentimeter, auf den Unterarmen abgestützt, unbemerkt nach hinten zu robben, um zu realisieren, woher der stechende Schmerz kam, der mir bei der plötzlichen Bewegung wieder die Tränen in die Augen trieb.
»Aber was wäre ich für ein Ungeheuer, wenn ich dir die einzige Sache nehmen würde, von der deine geistige Gesundheit jetzt noch abhängt?«
Und dann konnte ich ihn mit den Fingerspitzen ertasten, ganz vorsichtig. Ich bin nicht nur unglücklich gefallen, sondern geradewegs auf den gusseisernen Schürhaken, dessen Spitze sich, den überwältigenden Schmerzen nach zu urteilen, bereits in meine linke Schulter bohrte.
»Deine Unwissenheit, Bambi.«
Jetzt oder nie.
Ich bäumte mich auf und betete, dass der Haken nicht lang und die Wunde nicht tief war. Denn um mich behutsam voranzutasten fehlte mir die Zeit. Mein Plan beinhaltete zwei präzise Bewegungen, mehr nicht. Eine, um den Haken, mit beiden Händen über den Kopf geführt, zu greifen und herauszuziehen. Dann ein weiterer gezielter Stoß direkt in sein Herz.
Alles, was kein Holzpfahl ist und nicht in meiner Brust steckt, kann mich nicht töten.
»Aber es kann dir wehtun!«
Mit einem Schlachtruf, der so schrill klang, dass mein Gegenüber einen Schritt zurücktaumelte, riss ich mir die Stange aus dem Fleisch, führte die blutige Spitze wie einen Degen vor mir her und nutzte den Überraschungsmoment, um sie ihm, untermalt von einem zweiten markerschütternden Schrei, in die Brust zu rammen.
Ich war mir sicher, dass ich statt seinem Herzen höchstens seinen linken Lungenflügel durchbohrte, vielleicht bloß ankratzte, aber der Schock genügte. Jules ging in die Knie, röchelnd und vornübergebeugt, beide Hände auf die Stelle gepresst, aus der das dunkelrote Blut sickerte. Der Speichel lief ihm in einem Faden aus dem Mundwinkel.
Raus hier!
Ich wusste, dass ich mir nicht viel Zeit für meine Flucht verschafft hatte. Darum riskierte ich keinen Blick zurück, verschwendete keine Sekunde damit, das Ausmaß meiner Verletzung zu beurteilen. Meine Beine trugen mich durch den dunklen, schlauchartigen Tunnel, der einmal das Wohnzimmer der Salvatores gewesen war und dessen Wände näher und näher zu kommen schienen. In diesem Augenblick registrierte ich weder das geistesgestörte Lachen hinter mir noch die sich schleichend ausbreitende Wärme, mit der sich mein dünnes T-Shirt wie ein Schwamm vollsog.
Bis zur Eingangstür waren es nur noch wenige Schritte und ich konzentriere mich auf jeden einzelnen. Die letzte Distanz überbrückte ich mit einem übermütigen Ausfallschritt, ließ mich blindlings gegen das Massivholz fallen und tastete dann erst nach der Klinke, drückte sie durch und traf auf Widerstand.
Bitte nicht.
Angetrieben von der Panik, die von der blanken Verzweiflung abgelöst wurde, ausgelöst durch die immer lauter trampelnden Schritte aus dem Nachbarzimmer, stemmte ich mich mit meinem ganzen Gewicht erst gegen die Tür, dann auf die Klinke. Jede Bewegung ging mit einem Schmerz einher, der sich anfühlte, als würden die einzelnen tausend Knochen, zu denen mein Schulterblatt bereits zersplitterte, aneinander reiben und mir das Fleisch durchbohren.
Ich rüttelte, zog, kreischte, trat mit aller Kraft gegen die Wand, die nicht nachgeben wollte, kreischte noch lauter und bemerkte dadurch nicht die blutverschmierte Hand, die sich flach gegen die Tür presste und mir den Ausweg versperrte. Die Augen, aus denen jeder Ausdruck von Gnade verschwunden war.
In der freien Hand hielt Jules den Schürhaken wie eine Hantel. Erst jetzt, als mein Blick bewusst auf die verklebte Spitze meiner Waffe fiel, wurde mir klar, dass ich verloren war.
Der Haken war lang und die Wunde war tief. Seine war schon verheilt. Aber aus meiner schoss das Blut wie aus einer undichten Wasserleitung.
»Du hast einen gewaltigen Fehler gemacht, Prinzessin.«
Beinahe hätte ich ihm zugestimmt. Die gerade anschlagende Alarmanlage meines Schmerzzentrums hätte mir keine unmissverständlicheren Signale senden können. Mein Blutdruck war im Keller, mein Sichtfeld verengt, mein Atem flach. Den Wettlauf gegen die Zeit hatte ich so gut wie verloren.
Doch dann war es Jules, dem ein entscheidender Fehler unterlief. Was auch immer er im Begriff war zu sagen, er zögerte und fokussierte die Kette um meinen Hals, die mich davor bewahrte, seinen Befehlen Folge zu leisten.
Und die mir die Antwort auf die Frage gab, was ich als nächstes tun sollte.
Später fragte ich mich, woher die beinahe übermenschliche Kraft kam, die ich in diesem Moment mobilisierte und die mich wie ein Pfeil an meinem Peiniger vorbeischießen ließ. Aber noch konzentrierte ich mich auf die Eingebung, die mir vielleicht das Leben retten würde. Mir war schwindelig vor Angst. Zum einen vor Jules, der wieder die Verfolgung aufnahm, aber vor allem davor, dass mich mein Körper im Stich ließ, bevor ich mein Ziel erreichte.
Die Tür zur Kellertreppe war glücklicherweise nicht versperrt, sie gab widerstandslos nach und fiel hinter mir zu. In der Dunkelheit konnte ich die flachen Stufen nur erahnen, nahm zwei auf einmal und stolperte, mit beiden Händen an der Wand verzweifelt nach Halt suchend, hinab in Richtung der Zelle. Jules' Schritte verlangsamten sich, weil er dem Trugschluss aufsaß, ich würde mich hier unten in meine eigene Falle manövrieren.
Aber eine Sache konnte er nicht wissen.
Ich tastete mich durch die Dunkelheit voran. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die schemenhafte Umgebung und ich fand die Tür mit der kleinen Aussparung, hinter der ich vor einer Woche ebenfalls verwundet aus der Ohnmacht hochschreckte. Der quadratische, fensterlose Raum mit der Holzpritsche war völlig nutzlos. Doch die angelehnte Tür, die in die Zelle nebenan führte, war meine Chance.
Als ich die Eisentür hinter mir zudrückte wünschte ich mir, ich hätte Jules wenigstens den Schürhaken entwendet. So hätte ich die Tür zumindest kurzzeitig verriegeln können, bevor sie der blutlechzende Wahnsinnige mit bloßen Händen aus den Angeln gerissen hätte. Es kam auf jede Sekunde an. Darum zögerte ich nicht länger, näherte mich dem Tisch in der Mitte des Raumes und entfernte die Glaskuppel vorsichtig mit beiden Händen, ohne das, was darunter verborgen lag, zu beschädigen.
Früher, im alten Mystic Falls, war die hauseigene Eisenkraut-Plantage der Salvatores sicher einmal beschaulich gewesen. Das ließ das Herdplatten-große Terrarium, das heute nicht einmal mehr bis zur Hälfte mit Erde gefüllt war, aber nur noch erahnen. Die staubige Birne über der Glasglocke flackerte noch und trug ihren Teil dazu bei, dass die kläglichen Überreste der Pflanzen noch ein Weilchen länger am Leben blieben, für Notfälle wie diesen.
Eine der Blüten trug ich in meinem Medaillon.
»Komm raus, komm raus, wo immer du bist!«, hallte Jules' Stimme in einem unheimlichen Singsang, der mir die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Schlimmer war nur noch das Kreissägen ähnliche Scharben des Schürhakens gegen die Eisentüren des Kellers. Die Vibration kam von nebenan, nur noch wenige Meter entfernt.
Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass ich meinen lückenhaften Plan nicht zu Ende dachte. Denn Damons Erinnerung an seine Augustine-Einlieferung war der einzige Impuls, dem ich hierher gefolgt bin. Der metallische Geschmack nach Blut, der sich in dem Moment wieder in meinem Mund ausbreitete, als ich versuchte die albtraumhaften Bilder abzurufen. Blut, Speichel, Schleimhaut. Die ätzende, säureähnliche Substanz, die sich durch seine und auch durch meine Zunge fraß. Der Schmerz, der kaum auszuhalten war.
Vielleicht würde ich es schaffen, ihn zu überwältigen.
Aber schaffe ich es auch rechtzeitig hier raus?
Als wollte mir mein Körper mit einem eindeutigen »Nein« antworten, entzog er mir mit einer Welle der Übelkeit seine ganze noch übrige Wärme. Ich stützte meine schweißnassen Hände gerade noch rechtzeitig an der Tischkante ab, um weder das Gleichgewicht noch das Bewusstsein zu verlieren. Aber die Vorboten der Ohnmacht hielten nur so lange an, bis Jules an meine Zelle klopfte.
»Versteckt oder nicht, ich komme!«
Gleich würde die Tür auffliegen. Mein Herz raste, pumpte das restliche Blut, das ich noch nicht verloren hatte, viel zu schnell durch die Adern, im Kampf gegen die bleierne Müdigkeit. Ich hob den Kopf, versuchte das Bild vor meinen Augen scharfzustellen, aber vergebens. Ich musste blind handeln.
Also löste ich die Hände von der Tischplatte und rupfte mit letzter Kraft so viel des Eisenkrautes aus der trockenen Erde, wie ich halten konnte, bevor ich herumfuhr und ein paar vorsichtige Schritte auf die immer noch verschlossene Tür zuging. In ihr war keine Aussparung in Form eines kleinen Fensters eingelassen.
Na los, komm schon!, dachte ich, obwohl ich die Worte am liebsten geschrien hätte. Wenn ich nicht meine ganze Energie darauf verwendet hätte, das Eisenkraut in meinen zitternden Fäusten festzuhalten. Aber vielleicht sprach ich meine Gedanken tatsächlich laut aus. Denn noch in der gleichen Sekunde stand ich dem Mann gegenüber, dessen gütiger Blick mich vorhin noch auf unerklärliche Weise in so etwas ähnlichem wie Sicherheit wiegte.
Aber er war nicht mehr derselbe. Er hatte das Monster, das in seinem Innersten schlummerte, bereits nach Außen gekehrt.
Diesmal war er es, der sich mit einem animalischen Urschrei auf mich stürzte, mit beiden Händen, die mir erstaunlicherweise noch größer vorkamen, voran. Und als die spitzen Zähne in seinem aufgerissenen Mund nur noch eine Haaresbreite entfernt waren, zwang ich mich ein letztes Mal, meine müden Arme zu bewegen.
Und ihm die Pflanzen, an deren durchtrennten Wurzeln noch die bröckelige Erde baumelte, so tief in den Rachen zu stopfen, dass ihm allein der Gedanke ans Luftholen Schmerzen bereiten würde.
»AAGHHHH!«
Schon an der versperrten Eingangstür schaltete mein Körper auf den reinen Überlebensmodus um. Darum konnte ich von Glück reden, dass es keiner großen Anstrengung bedurfte, meinen Gegenüber Schritt für Schritt durch den Türspalt und zurück in den Keller zu lotsen. Ich durfte bloß nicht das Eisenkraut loslassen.
»MISCHTÜCK!«, glaubte ich ihn schreien zu hören und hätte ich ihm mit der anderen Hand nicht bereits sein Augenlicht genommen, hätte er das Gemisch aus Blut und Speichel, das sich in seiner Mundhöhle sammelte, sicher am liebsten ausgespuckt. Aber so blieb ihm nichts anderes übrig, als das eitrige Sekret zu schlucken und seine Qualen herauszuschreien. »DUBISCHTOT!«
Schritt für Schritt, mit meinen Händen in seinem Gesicht, das sich unter meinen Fingern wie schmelzendes Wachs anfühlte, immer weiter. Zentimeter für Zentimeter, meiner Freiheit entgegen. Er taumelte, rückwärts und armerudernd, untermalt von den erstickten Lauten eines Ertrinkenden. Es war nicht mehr weit. Gleich würde ich ihn mit einem letzten Ruck zu Boden drücken und dann-
Dann war er verschwunden.
Und mit ihm das Gegengewicht, das meinen Sturz hinauszögerte. Ich fiel mit einem spitzen Aufschrei der Überraschung auf den harten Steinboden und war mir sicher, als der Aufprall eine weitere Welle des Schmerzes durch meinen Körper jagte, meine Schulter nie wieder bewegen zu können. Ich war mir auch sicher, dass ich mir die Umrisse der beiden Gesichter in der Dunkelheit bloß einbildete. Das eine lag vor mir, in einer unnatürlichen Schieflage, blutig und aufgeschäumt, mit halbgeöffneten Lidern, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
Und das andere sah besorgt auf mich herab.
»Es tut mir so leid«, flüsterte es. Dann kam es näher und als ich das grüne Augenpaar endlich deutlich erkennen konnte, hätte ich vor Erleichterung schluchzen können. Aber meine Kraft reichte nur noch für ein heiseres Röcheln, das sowohl »Stefan« als auch »Jules« oder ganz einfach »Hilfe« bedeuten konnte.
»Ganz ruhig, sag jetzt nichts.«
Zuerst dachte ich, dass ich mir bei meinem finalen Sturz die Zungenspitze abgebissen hatte, als die unverwechselbar nach Eisen schmeckende Flüssigkeit meinen Rachen herunterrannte und auch wenn mein Körper bis zu diesem Zeitpunkt das anatomische Wunder vollbrachte, nicht kraftlos in sich zusammenzufallen, noch eine derartige Verletzung würde er unmöglich durchstehen. Erst als meine Lider flatterten merkte ich, dass ich die Augen bereits geschlossen hatte, bereit abzutauchen und mich dem hinzugeben, wonach alles in mir sehnlichst verlangte. Aber Stefan holte mich aus dem Ohnmacht ähnlichen Sekundenschlaf zurück.
Und dann, als ich seine eine Hand an meinem Kopf und die andere an meinen Lippen spürte wusste ich, wessen Blut sich in meinem Mund sammelte und ich begann erneut zu röcheln und zu prusten.
»Hör auf. Lass mich dir helfen«, sagte er bloß und klang dabei ebenso fürsorglich wie fordernd. Er hielt mich noch fester, ließ es nicht zu, dass ich mich aus seinem Griff befreien konnte. »Wir brauchen dich jetzt.«
In seinem Klammergriff war es mir unmöglich ablehnend den Kopf zu schütteln. Aber allein der Impuls, der untrügliche Beweis dafür, dass mit meiner körperlichen auch meine geistige Gesundheit im Eiltempo zurückkehrte, beflügelte mich. Ich hätte schreien können. Nicht vor Schmerz, sondern vor Erleichterung. Weil von den überwältigenden Schmerzen plötzlich nichts mehr übrig war.
Stefan zog sein Handgelenk mit einem schmatzenden Geräusch zurück und wischte mir vorsichtig mit dem Finger über meine feuchten Lippen, ehe er mir in eine aufrechte Position half. Den Rest des Blutes wischte ich mir mit dem Handrücken aus dem Mundwinkel und starrte erst auf die Schlieren, die es hinterließ, dann auf den leblosen Körper mit dem gebrochenen Genick, dann wieder zu Stefan.
»Ist er tot?«
»Für den Moment, ja.«
Ich schauderte, dann spürte ich wie mein Herz einen Schlag aussetzte, weil mir plötzlich klar wurde, was an diesem Bild nicht stimmte. Jules' Leiche, Stefans melancholischer Blick, der metallische Geschmack auf meiner Zunge. Ein ohnehin verstörendes Bild, aber eine Sache stimmte ganz gewaltig nicht. »Damon. Wo ist er? Geht es ihm gut?«
Es sah aus, als könnte er sich nicht zwischen Nicken und Kopfschütteln entscheiden.
»Stefan, wo ist Damon?« Die Erleichterung über die wohltuende Abwesenheit des Schmerzes hielt nur so lang, bis die Angst erneut von mir Besitz ergriff und sich wie eine Würgeschlange um meinen Hals legte. »Wo ist Damon?«
»Hier.«
Als ich herumfuhr war es, als würde ich in einen Wölbspiegel sehen, der zwar die Realität zeigte, aber irgendwie verzerrt. Damons mit Blut vollgesogenes T-Shirt klebte an seiner Brust. Mit der einen Hand stützte er sich nach Halt suchend an der Mauer ab, die andere presste er sich auf die linke Schulter.
»Ich fürchte, ich muss auf dein Angebot zurückkommen, Bambi«, sagte er, aber seine Stimme klang so schwach, dass die Worte kaum zu verstehen waren. »Ja, ich bin verletzt und ja, ich brauche einen Arzt.«
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