Kapitel 17 - Mein Schutzengel
Ich erinnerte mich noch genau an den Tag, an dem ich begriff, dass es das Schicksal nicht gut mit uns meinte. Als ich die Pergament-dicken Blätter des Fotoalbums, das Grandma wie einen Schatz hütete, zum ersten Mal vorsichtig durchblätterte und mir klar wurde, dass die Frau auf den sorgfältig arrangierten Polaroid-Bildern nur im Innern dieses Buches existierte. Meine Mutter war nur eine Erinnerung. Ein wenig verschwommen, kontrastarm und an den Ecken vergilbt. Aber mein Vater war noch weniger als das. Er hatte nicht mal einen Namen. Ich dachte immer, wer mit dem Unglück groß wird, gewöhnt sich eines Tages dran. Denn sogar meine Grandma wuchs als Waise bei Familie Adams auf. William und Agatha, ein konservatives, aber dankbares Paar, dem der Nachwuchs verwehrt blieb, behandelten sie stets wie ihr eigenes Kind.
Wie gesagt, das Schicksal hatte seine Lieblinge und wir gehörten nicht dazu.
»Du bist ein Glückskind«, hatte mein Schutzengel an jenem Tag zu mir gesagt und mir die Tränen aus dem Gesicht gewischt. »Das darfst du niemals vergessen, hörst du?«
Das war ihre Art mir zu sagen, dass alles gut werden würde. Wann immer mich die Hürden des Lebens in die Knie zwangen, egal ob kleine Stolperfallen oder unüberwindbare Abgründe, nahm Geneviev Grey meine Hand und sagte: »Du bist ein Glückskind. Statistisch gesehen hat jeder Mensch sieben Doppelgänger. Sieben Menschen, die dir bis aufs Haar gleichen, auf der ganzen Welt verstreut. Wusstest du das?« Ich schniefte, wischte mir mit dem Arm über das nasse Gesicht, ließ ihre Hand dabei aber nicht los. »Denk immer daran, wenn du glaubst, dass das Pech dich verfolgt. Denn dass wir uns begegnet sind, Bambi, ist ein Wunder. Du bist ein Glückskind.«
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass mich mein Schutzengel auf der Fahrt zurück zum Haus der Salvatores begleitet hätte.
Stefan umklammerte das Lenkrad mit durchgedrückten Armen und ließ die Straße keine Sekunde aus den Augen. Damon, der immer tiefer in den Beifahrersitz rutschte, tat es ihm gleich und stierte wortlos durch die Windschutzscheibe. Meine Lebensgeister waren allmählich zurückgekehrt. Zumindest gehorchten mir meine Arme und Beine wieder, auch wenn mir das im Augenblick nichts nützte. Hier hinten auf der Rückbank wurde die Luft gefährlich dünn. Die Fahrt fühlte sich an wie ein Gefangenentransport.
»Er ist nicht tot«, sagte Damon und der unendlich müde Klang seiner Stimme durchfuhr mich wie ein Blitz. Seit wir im Auto saßen schwiegen wir uns an und zogen es vor, unseren eigenen zerstörerischen Gedanken nachzuhängen.
Ich richtete mich kerzengerade auf. »Aber sein Ring-«
»Ein Tageslichtring, die sehen alle gleich aus.«
Aber ich weiß doch, was ich gesehen habe!, hätte ich am liebsten laut geschrien. Den klobigen silbernen Ring mit seinen aufwendigen Verzierungen, der für mich immer aussah wie eine Filmrequisite. Ich presste mir die Hand auf den Mund und versuchte das Bild abzurufen. Aber die Minuten, bevor sie mich auf die Rückbank ihres Autos schoben und mit quietschenden Reifen aus der Parklücke schossen, kamen mir vor wie ein Fiebertraum. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, was ich gesehen hatte.
»Enzo ist nicht tot«, sagte er wieder.
»Was macht dich da so sicher?«
»Brielle«, gab mir Damon die Antwort, die mich von allen, die er mir hätte geben können, am meisten verwirrte. »Wenn das was du gesagt hast wahr ist, dann ist Enzo noch am Leben. Andernfalls hätte sie sich schon längst an alles erinnert.«
Mein Mundraum war trocken wie Sandpapier. »Wovon sprichst du?«
»Mit dem Tod eines Vampiren erlöschen auch seine Kräfte. Und damit hebt sich der Bann auf, unter dem sie steht. Sie würde sich an jedes Wort erinnern, das Enzo je zu ihr gesagt hat und sie im Anschluss wieder vergessen ließ. Sie würde sich an alles erinnern, verstehst du?«
Sie würde sich an alles erinnern, hallte es in meinem Kopf wider. Einige Male, bevor mir die Bedeutung hinter den Worten klar wurde. Wenn ich richtig lag und sie sich plötzlich erinnerte, an alles was im letzten Jahr passierte und an alles, was sie womöglich für ihn getan hat, dann-
Enzo durfte nicht sterben.
Beinahe schlug ich mit der Stirn gegen das Kopfpolster meines Vordermannes, so abrupt brachte Stefan den Wagen in der Einfahrt zum Stehen. Die Erschütterung riss mich gerade rechtzeitig aus meinen Gedanken, die bloß um ein und denselben Entschluss kreisten: Enzo durfte nicht sterben.
Nicht bevor ich ihr die Wahrheit gesagt habe.
◇ ◇ ◇
Damon tigerte wortlos im Zimmer auf und ab, wie ein Wahnsinniger und Stefan zog nacheinander alle Vorhänge vor den Fenstern zu. Dann, als ihm bewusst wurde wie albern das war, riss er sie wieder auf und fluchte. Dabei griff er sich mit gespreizten Fingern in die vollen Haare, als wolle er sie sich büschelweise ausreißen. »Könntest du bitte einen Augenblick stillstehen? Nur einen verdammten Augenblick, Damon!«
Ich hatte Stefan noch nie brüllen gehört und fand, dass es sich irgendwie falsch anhörte.
Sein Bruder starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als er aufhörte, im Kreis zu gehen. »Tut mir leid, dass ich dich störe, aber ich muss nachdenken!«, keifte er zurück.
Stefan ließ die Arme wieder sinken und Damon zog weiter unsichtbare Bahnen quer durchs Wohnzimmer.
Und in der Mitte saß ich. Auf dem roten Sofa vor dem Kamin, mit angewinkelten Beinen. Ähnlich hilflos wie noch vor einer Woche. An jenem Tag, an dem Enzo über meinen Kopf hinweg entschied, dass ich bereit dafür war die schwer verdauliche Wahrheit zu kennen. Der Tag, an dem alles den Bach runterging. Mit dem einzigen Unterschied, dass der Platz neben mir frei war.
»Was wissen wir?«, fragte Stefan, die Hände wie zum Gebet gefaltet. Er klang gefasster, obwohl Damons schwere Schritte in meinem Rücken immer lauter wurden.
Dann verstummten sie. Fast wäre ich erschrocken in meinem Sitz aufgesprungen, als er sich mit der einen Hand an der Sofalehne neben meinem Ohr festkrallte und mit der anderen aufgeregt in der Luft herumwedelte. »Der totbringende Urhybrid, der Ursprung alles Bösen, die Pest unter den okkulten Kreaturen dieser gottverdammten Welt ist uns auf den Fersen, Stefan. Das wissen wir.«
Stefan nickte, aber sein Blick sagte: Wir sind erledigt. »Es ist zehn Jahre her, Damon. Zehn Jahre. Keiner von uns hat ihn seitdem je wiedergesehen. Was hat Klaus vor? Wie passen wir in seinen Plan?«
»Klaus«, schnaubte ich, weil ich fand, dass dieser Name viel zu harmlos klang. »So nennt ihr ihn?«
»So nennt ihn jeder.«
Klaus.
Damon tauchte immer noch wild gestikulierend neben seinem Bruder und wieder in meinem Sichtfeld auf. »Genau das müssen wir herausfinden. Möglichst bevor er die Stadt ein zweites Mal in Schutt und Asche legt.«
»Ein zweites Mal?«, entfuhr es mir und die beiden starrten mich an wie einen Fremdkörper. Wie jemanden, der sich unbefugt Zutritt in ihr Haus verschaffte und den sie erst jetzt bemerkten.
Stefan schüttelte den Kopf. »Klaus hat kein Interesse an Mystic Falls. Er interessiert sich für niemanden außer sich selbst.«
»Wahre Worte, Bruder«, raunte Damon, wobei er mich weiterhin mit zusammen gekniffenen Augen ansah. »Und genau das macht mir am meisten Sorgen.« Er ließ sich langsam neben mir fallen und sagte nach einer kurzen Denkpause: »Ich werde dir jetzt die wahre Geschichte über den Untergang des alten Mystic Falls erzählen und ich will, dass du mir aufmerksam zuhörst.«
»Damon, wir haben keine Zeit-«
»Wir werden uns diese Zeit nehmen müssen«, fiel er Stefan ins Wort und warf ihm einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, wie ernst es ihm war. Sein Gegenüber überlegte einen Moment, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Dann nickte er und Damon wandte sich wieder mir zu.
»Also schön, hier ist die Kurzfassung. Vor zehn Jahren kehrte Klaus das letzte Mal nach Mystic Falls zurück. In die Stadt, die du glücklicherweise nie kennengelernt hast. Sie war die Brutstätte des Bösen. Menschen wurden verletzt, getötet und-« Er räusperte sich. »Und schlimmeres.«
»Wir haben ein Mädchen kennengelernt«, fuhr Stefan fort, der sich in seinem Sitz vornüberbeugte. »Mit ihr fing alles an. Ihr Name war Elena Gilbert.«
»Sie war die Petrova-Doppelgängerin.«
»Und die Liebe meines Lebens.«
»Nicht so schnell«, warf ich ein und hob die Hände, weil mir ihr Ping-Pong-Wortgefecht Kopfschmerzen bereitete. »Was hat Elena mit Klaus zu tun?«
»Sie war der Schlüssel«, antwortete Damon im Flüsterton, als er bemerkte, dass sein Bruder immer noch apathisch auf die Kette um meinen Hals starrte. »Niklaus Mikaelson gehört zu der ältesten Vampir-Familie der Welt, die Familie der Urvampire. Aber im Gegensatz zu seinen Geschwistern ist Klaus ein Mischling, entstanden aus einer Affäre. Zur Hälfte Vampir, zur Hälfte Werwolf. Der Urhybrid, der erste seiner Art.«
Auf der Heimfahrt vor einer Woche, in der Nacht, die alles auf den Kopf stellte, gab mir Damon einen kompletten Rundumschlag über alles, was ich seiner Meinung nach wissen sollte. Ich hatte nur mit einem Ohr zugehört, weil mich jede kleinste Bodenschwelle aus dem immer wieder einsetzenden Sekundenschlaf weckte. Darum erinnerte ich mich nur bruchstückhaft an seinen Vortrag über Werwölfe, Hexen und Urvampire. Er sprach ohne Luft zu holen, vermutlich weil er wusste, dass mein Auffassungsvermögen bereits gegen null ging und ich am nächsten Morgen wieder alles vergessen hätte.
»Als Klaus vor zehn Jahren nach Mystic Falls zurückkehrte, hatte er nur eins im Sinn: Den Sonne-Mond-Fluch zu brechen. Um seine seit frühester Kindheit versiegelte Werwolfseite zu erwecken und damit das mächtigste Wesen zu werden, das die Welt je gesehen hat. Dafür brauchte er-« Damon brach ab. Ich berührte vorsichtig seinen Arm, weil ich keine passenden Worte fand, die ihn hätten besänftigen können. Er räusperte sich, dann fuhr er fort: »Dafür brauchte er den Mondstein. So ein verhextes, uraltes Ding, um das sich kurzzeitig die ganze Welt drehte. Als nächstes einen Vampiren und einen Werwolf als Opfergabe. Und zu guter Letzt die Petrova-Doppelgängerin. Auch sie musste sterben.«
Stefan, der aus seiner Trance erwacht war und mittlerweile wieder in der Mitte des Raumes stand, betrachtete mich mit den traurigsten Augen, die ich je in einem Gesicht gesehen hatte. »In dieser Nacht haben wir Jules, das Werwolfmädchen, verloren.« Bei dem Klang ihres Namens zuckte ich unwillkürlich zusammen. »Jenna, Gott, sie hatte sich gerade erst verwandelt, sie war unschuldig. Sie wusste gar nicht, wie ihr geschieht. Und Elena-«
»Elena hat er sich für den Schluss aufgehoben«, sagte Damon das, wozu sein Bruder nicht in der Lage war. Er hatte sich, die Hände auf den Mund gepresst, von uns abgewendet. »Klaus ist es in jener Nacht gelungen seinen Fluch zu brechen. Stefan und ich haben alles, wirklich alles versucht, um ihn aufzuhalten. Wir kämpften an der Seite der brillantesten, tapfersten und aufopferungsvollsten Hexe unserer Zeit. Aber selbst Bonnie Bennett kam nicht gegen ihn an.«
»Und Caroline.« Stefan rieb sich die geröteten Augen. »Caroline Forbes. Der Beweis dafür, dass das Leben nach dem Tod noch nicht vorbei ist. Ich habe nie aufgehört sie dafür zu bewundern, zu was für einem unglaublichen Menschen sie geworden ist, nachdem sie verwandelt wurde. Sie war unendlich stark. Aber nicht stark genug.«
Ich fühlte mich wie unter einer Lawine begraben, mit einem unerträglichen Druck auf der Lunge. Aber der Anblick ihrer Gesichter, wie versteinert, das Licht aus beiden Augenpaaren erloschen, war noch viel schlimmer. »Sie sind alle tot?«
»Stefan hat die ganze verdammte Welt auf den Kopf gestellt, hat jeden Stein zweimal umgedreht«, flüsterte Damon, damit sein Bruder ihn nicht hören konnte. Dieser hatte sich wieder ein paar Schritte von uns entfernt. Dann ließ er erschöpft seufzend die Schultern fallen. »Nachdem das Ritual vollendet und sein Fluch gebrochen wurde, haben Klaus und seine Anhänger die ganze Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Sie sind alle tot.«
»Das war der Untergang des alten Mystic Falls«, vollendete Stefan die Geschichte.
Ich traute mich kaum zu atmen. Das tut mir unendlich leid, lief es in meinem Kopf wie auf einer Tonspur ab, aber ich brachte kein Wort heraus. So unendlich leid.
Ich erkannte nur aus den Augenwinkeln, wie sich Damon hochstemmte und zu seinem Bruder aufschloss. Dieser hatte die Arme verschränkt und schüttelte vor Ratlosigkeit langsam den Kopf. »Und jetzt, zehn Jahre später, ist Klaus wieder hinter uns her«, sagte er zu Damon, immer noch den Kopf schüttelnd. »Das ist alles was wir wissen.«
»Nein, Stefan, wir wissen noch mehr. Klaus hat eine Waffe, richtig?« Das letzte Wort galt mir, aber ich hatte seinen Blick nicht bemerkt. Ich starrte noch wie hypnotisiert auf meine Zehenspitzen. Aber für seine nächste Überlegung brauchte er keinen zustimmenden Laut: »Eine mächtige, aber ganz offensichtlich nicht tödliche Waffe! Ansonsten wäre Bambis Mailbox schon bis oben hin voll und ihre Freundin reif für die Geschlossene. Mächtig, aber nicht tödlich. Erinnert dich das an etwas?«
Als Stefan seinen Blick nur stumm erwiderte, tat er das, was mich nach Luft schnappend aus meinen Gedanken hochschrecken ließ: Er griff nach einem Glas vom Beistelltisch in unserer Mitte und schleuderte es im hohen Bogen gegen die Wand, wo es in tausend Splitter zersprang. Ich schirmte meine Augen gerade noch rechtzeitig vor dem Scheppern ab, das die Stille so plötzlich durchbrach, dass mir das Herz mit einem Mal bis zu den Ohren schlug.
Er ging vor der demolierten Wand in die Knie und nahm eine Scherbe in die Hand, die für seine Zwecke groß genug war. Wir beide, Stefan und ich, die kurzzeitig zu den Statisten in diesem Horrorfilm wurden, starrten ihn fassungslos an. »Erzähl ihm von deinen Albträumen!«, wandte sich der Irre mit der Glasscherbe wieder an mich. »Erzähl ihm von Enzo, von seinen Verletzungen und dem ganzen Blut, das nicht aufhören will zu fließen und zu fließen, egal wie stark du deine Hände auf die Wunde drückst!«
Ich verstand kein Wort. Dann setzte er die Spitze der Handballen-großen Scherbe an der weichen und besonders empfindlichen Stelle in der Armbeuge an.
Und schlitzte sich das Fleisch bis zu den Pulsadern auf.
Der Schrei, der in den Mauern ihres Anwesens widerhallte, war so laut und so schrill, dass er unmöglich aus meiner Kehle stammen konnte. Ich brachte es fertig so laut zu schreien, dass sich selbst Stefan die Ohren zuhielt.
»Damon, was-«
Was hast du nur getan?
Er ließ das blutverschmierte Stück Glas in Zeitlupe zu Boden fallen. Zumindest sah es für mich danach aus. »Sieh genau hin, Bambi.«
Und das tat ich. Hellrotes Blut schoss binnen Sekunden aus dem sauberen Schnitt, den Damon sich selbst zugefügt hatte. Er verlor so viel davon, dass er unmöglich noch viel länger hätte aufrecht stehen können. Fünfzehn Sekunden, höchstens, dann würde seine Herzfrequenz abfallen und er das Bewusstsein verlieren.
Aber zu meinem Entsetzen geschah das genaue Gegenteil. Die Haut, die er sich so brutal aufgerissen hatte, fügte sich wieder zusammen. Zu einer ebenmäßigen Fläche ohne den kleinsten Kratzer. Das Blut versiegte so schnell wie es austrat. Und der einzige Hinweis darauf, dass das gerade wirklich passiert war, waren die schlierenartigen Überreste an seinen Händen und die blutrote Scherbe zu seinen Füßen.
Sonst nichts.
Er machte einen Schritt auf mich zu. »Vampir-Lektion Nummer eins; alles was kein Holzpfahl ist und nicht in meiner Brust steckt kann mich nicht töten.«
Das ist die goldene Regel, schreib sie dir hinter die Ohren.
Ich erinnerte mich wieder.
»Wir heilen, Bambi!«, sagte er und betonte dabei jede Silbe übertrieben deutlich. »Vampirblut hat heilende Kräfte. Das macht uns unsterblich. Das macht uns zu den perfekten Laborratten! Aber was wäre, wenn nicht?«
Nun hatte er auch wieder Stefans Aufmerksamkeit, der bis eben noch ausgesehen hatte, als würde er immer noch angestrengt über des Rätsels Lösung nachdenken.
»Was wäre, wenn nicht? Erinnerst du dich wieder?«, wiederholte Damon ihm zugewandt.
»1960«, flüsterte Stefan nach einer Weile, als ihm endlich dämmerte, worauf er hinauswollte. »Du hast mich damals aufgesucht, weil du dachtest, Augustine wäre zurück.«
»Richtig. Zwei Jahre nach meiner Flucht aus diesem Drecksloch. Zwei Jahre, in denen ich glaubte, Enzo wäre schon lange tot.« Dabei sah er mich an. »Ich habe dich um Hilfe gebeten, Stefan, aber das war keine schicksalhafte Eingebung oder ein siebter Sinn! Erinnerst du dich an ihre Spur der Verwüstung?« Er wandte sich wieder seinem Bruder zu, der sich die Wange rieb, als hätte er Schmerzen.
»Ja, Damon, ich erinnere mich. Die blutleeren Körper im Wald. Einige von ihnen gepfählt, andere wiederum nicht.«
Damon nickte übereifrig. »Ganz genau! Dr. Frankensteins sonst so penible Arbeit wurde zunehmend schlampig. Wir brauchten nichts weiter tun, als den Überresten seiner Versuchsobjekte zu folgen und trafen genau ins Schwarze. Blutleere Vampire, Stefan, genau das haben wir schon vor sechzig Jahren gesehen!«
»Und weißt du, was wir noch gesehen haben, bei unserem nächtlichen Überfall vor sechzig Jahren?« Stefan senkte seine Stimme so weit, dass ich den Atem anhalten musste, um sie noch verstehen zu können. »Ihren Unterschlupf. Oder das, was davon noch übrig war. Augustine mag dich einmal hinters Licht geführt haben, aber du weißt genauso gut wie ich, dass Enzo bei seinem Ausbruch dafür gesorgt hat, dass der Spuk ein für alle Mal ein Ende hat.«
»Du vergisst dabei ein entscheidendes Detail.« Damon packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, als würde ihm das dabei helfen, die Dinge klarer zu sehen. »Klaus! Er teilt das Meer, wenn es sich ihm in den Weg stellt. Er begräbt ganze Städte unter sich, noch vor dem Frühstück. Sogar Katherine Pierce hat ihn in der letzten jämmerlichen Sekunde ihres gottlosen Lebens um Gnade angefleht, während er Elena, Caroline und Bonnie vor unseren Augen zwischen Daumen- und Zeigefinger zermalmte - Klaus macht das Unmögliche möglich! Er findet immer einen Weg! Und wenn das, was ich befürchte wahr ist, dann weiß ich genau, wo ich Enzo finde.«
Damons letzte Worte genügten, um mir wieder Leben einzuhauchen und die Kraft aufzubringen, den Kopf zu heben. Ich sah in sein vor Anstrengung gerötetes Gesicht, das mir mit einem Mal so nah war, das zwischen uns kein Blatt Papier noch Platz gehabt hätte. Er stemmte sich beidhändig gegen die Sofalehne und schloss mich zwischen seinen zitternden Armen ein.
»Ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Enzo zu dir zurückbringen«, sagte er und dabei hüpften seine bis zum Anschlag geweiteten Pupillen fiebrig auf und ab. »Du hast mein Wort.«
Ich nickte heftig mit dem Kopf als Reaktion auf die schönsten und erlösendsten Worte, die ich seit Ewigkeiten gehört hatte. Es war, als hätte er den Knoten, der mir seit Tagen auf den Magen drückte und der mich daran hinderte einen klaren Gedanken zu fassen, endlich durchgeschnitten. Mein Befreiungsschlag. Dabei merkte ich nicht einmal, dass mir die Tränen in die Augen schossen und sich unsere Nasenspitzen berührten.
»Damon, du weißt nicht, was du da sagst.« Stefan hatte ihn an der Schulter gepackt und zurück in eine aufrechte Position gezogen, weg von mir. »Du bist komplett irre, wenn du es wirklich für eine gute Idee hältst, in die Höhle des Löwen einzumarschieren, so ganz allein.«
»Ich gehe doch nicht allein, Bruder.«
Nun hatte der Wahnsinn gleich zwei Gesichter. Ein beängstigendes, das feuerrot leuchtete, dem der Schweiß schon von der Stirn perlte, mit aufgerissenen Augen und aufgeblähten Nasenflügeln. Und das andere lachte ein hysterisches, ersticktes Lachen, das so klang, als stünde es kurz vor den Tränen.
»Das ist ein Selbstmord-Kommando und das weißt du!«
»Du hast recht, Stefan. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Lass uns Verstärkung holen, die Gang zusammentrommeln! Der guten alten Zeiten Willen! Rufen wir Alaric an oder Tyler. Vielleicht drücken wir Matt Donovan eine Waffe in die Hand, dann kann er sich auch mal nützlich machen! Oh warte, ganz vergessen - SIE SIND JA ALLE TOT!« Jetzt war er seinem Gegenüber so nah, als wolle er ihm unter die Haut kriechen. »Ich weiß im Augenblick nur, dass ich höllische Lust darauf habe, einem Urhybriden so tief in den Arsch zu treten, dass er sich wünscht, er hätte seinen Fuß niemals zurück in diese Stadt gesetzt.« Dann wandte er sich von seinem Bruder ab, stapfte geradewegs an mir vorbei und drehte sich erst im Türrahmen wieder um. »Denk dabei nicht an mich oder an Enzo. Sondern an die, die seinetwegen nicht mehr hier sind.«
Damit hatte er den richtigen Nerv getroffen.
Die Stimmung schlug in der Sekunde um, als mich die Brüder, die beiden Gesichter des Wahnsinns, allein ließen. Das bedrohliche Knistern war verstummt, die Funken erloschen. Da saß plötzlich nur noch ich hinter der schweren Eingangstür, die geräuschvoll ins Schloss fiel, bevor alles still wurde. Die Beine immer noch angewinkelt, den Atem immer noch angehalten.
Ich konnte das Display durch den feinen Tränenschleier kaum erkennen, als ich zum Handy griff und blind die einzige Nummer wählte, die noch imstande war, mir zu helfen. Um die einzige Stimme zu hören, die mich jetzt noch retten konnte.
Die Stimme meines Schutzengels.
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