Kapitel 16 - Momentaufnahme
»Widerstand ist zwecklos!«, hörte ich meine beste Freundin gackern, während sie mich unsanft an den Schultern packte, wodurch Enzo und ich Arme-rudernd ein paar Schritte über unsere eigenen Füße stolperten. Seine Hand war ganz schwitzig, trotzdem hielt ich sie so fest, als hinge mein Leben davon ab. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, dass ich meinem Schicksal hätte entkommen können, wenn ich mich nur rechtzeitig und unbemerkt aus dem Staub gemacht hätte. Aber Brielle war erbarmungslos. Mit ihrem flatternden Kleid und dem Bastkörbchen in der Armbeuge sah sie aus wie Rotkäppchen.
Bevor ich protestierend die Arme heben konnte, ließ sie einen ihrer drahtigen Blumenkränze auf meinem Kopf fallen. Ohne jede Vorwarnung und ähnlich unsanft. Das Geflecht war mindestens eine Nummer zu groß und kitzelte mich zwischen den Augenbrauen. Enzo schob es mit dem Finger vorsichtig ein Stück zurück, damit ich wieder freie Sicht hatte und mir nach Möglichkeit nicht die Augen ausstach. Ich hielt seine Hand immer noch fest in meiner, während ich ihn missbilligend durch einige abstehende, giftgrüne Gummi-Blätter anfunkelte.
»Du siehst toll aus«, säuselte er vergnügt, wobei sein völlig übertriebenes Grinsen zweifellos darauf hindeutete, dass er sich über mich lustig machte. Aber solange er nicht aufhörte zu lächeln, sollte mir das recht sein.
»Bist du nervös?«, fragte ich, den Blick auf unsere verhakten Hände gerichtet.
Natürlich war er nervös. Er hatte kaum noch Farbe in seinem glänzenden Gesicht und seine Hand war eiskalt und doch nass geschwitzt. Auf dem Weg hierher hatte er sich immer wieder verstohlen umgesehen, fast als würde er die Umgebung nach einem Fluchtweg absuchen. Er massierte seine Schulter, dort wo der Tragegurt seines schweren Gitarrenkoffers einen feuerroten Abdruck hinterließ.
»Ein bisschen vielleicht«, gab er zu und schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Mit so einem Ansturm habe ich nicht gerechnet.«
»Das beleidigt mich, Enzolein«, seufzte Brielle pikiert, mit vorgeschobener Unterlippe, und winkte energisch einem Pärchen hinterher, das sich bereits, Arm in Arm und mit passendem Haarschmuck ausgestattet, in Richtung der Menge entfernte.
»Kommst du nach, wenn du mit dem Empfangskomitee fertig bist?«
Brielle ließ den Arm abrupt sinken, streckte mir zustimmend beide Daumen entgegen und scheuchte uns dann geradewegs durch den Torbogen in den Park.
»Natürlich«, rief sie uns mit wedelnden Armen nach. »Wir treffen uns an der Bühne. Und jetzt bitte lächeln!«
Mit diesen Worten und bevor sich einer von uns gezielt in Pose werfen konnte, betätigte sie den Auslöser der Kamera. In dieser Momentaufnahme wirbelte ein kräftiger Windstoß in meinem Rücken meine zerzausten Haare so plötzlich über die Schulter, dass sie mir kurzzeitig die Sicht nahmen. In der einen Hand hielt ich Enzo, der mich immer noch verträumt von der Seite ansah, und die andere führte ich gerade rechtzeitig zu meiner Blumenkrone, bevor sie von der Böe weggetragen wurde. Das einzige, was ich durch meine schützend zusammengekniffenen Augen erkennen konnte war Brielle, die den Kopf wie ein Kind lachend in den Nacken warf. Als das Rascheln der Baumkronen und der aufgewirbelten Blätter am Boden allmählich abebbte, wandte ich mich wieder Enzo zu und ließ die Hand langsam sinken.
Meistens erkennen wir die alles entscheidenden Augenblicke, die sich für den Rest unseres Lebens im hintersten Winkel des Gehirns einnisten, nicht in jener Sekunde. Oftmals werden wir zu einem späteren Zeitpunkt von den plötzlich aufkeimenden Erinnerungen überrascht. Aber diesmal wusste ich es mit Gewissheit. Ich wusste, dass sich dieses farbenfrohe Bild bis ins kleinste Detail auf meiner Festplatte abspeichern würde, für alle Zeit abrufbar. Enzos dunkle Augen, von langen, schwarzen Wimpern umrahmt, sein Lächeln, das so breit war, dass es schon vom Hinsehen in den Wangen zwickte. Vielleicht würde mir sogar Brielles aufgeregte Stimme wieder in den Ohren liegen, wenn ich mich in ferner Zukunft an den Moment zurückerinnerte, am dem mein Herz drohte vor lauter Liebe zu zerspringen. Ich drückte behutsam Enzos Hand, erwiderte sein Lächeln und wünschte mir nichts sehnlicher, als dass die Zeit noch ein wenig stillstehen würde.
◇ ◇ ◇
Ich wich japsend einer Gruppe Fahrradfahrer aus, die lautstark und im Eiltempo an mir vorbeizog. In letzter Sekunde, in der ich den übriggebliebenen Rest Geistesgegenwertigkeit zusammenkratzte und ihre aufgeregten Rufe registrierte. Sie mischten sich mit den surrenden Fahrradklingeln und dem Lachen der Kinder, die wie Könige auf den Gepäckträgern ihrer Eltern thronten. Ein kleiner Junge mit dunklen Kringellöckchen, die unter seinem Fahrradhelm hervorguckten, warf seinen Kopf übermütig zurück und winkte mir zu. Ich blinzelte benommen, wollte den Arm heben, hielt aber in der Bewegung inne und folgte den Familien stattdessen reglos mit meinen Blicken bis über die Kreuzung. Bis zu der Stelle am Horizont, an der der Junge sich wieder umdrehte und seine kurzen Arme um den Bauch seiner Mutter legte. Ich bildete mir ein, dass er enttäuscht aussah.
Damon war ein paar Schritte vorgelaufen, doch ihm entging meine Reaktion nicht. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er deshalb auf sicherer Distanz.
Seit wir uns auf dem Bürgersteig vor meiner Wohnung flüchtig zunickten, liefen wir schweigend nebeneinander her, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Damon war meisterhaft geschickt darin, sich in Schweigen zu hüllen, wenn er ausnahmsweise nichts zu sagen hatte. Aber der finstere Ausdruck in seinem Gesicht und seine angespannten Schultern zeichneten sich selbst durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille deutlich ab, wann immer ich einen Blick in seine Richtung riskierte. Er wollte nicht über Grandma reden und ich wollte nicht länger schweigen.
»Hast du ein Problem mit Menschenmassen?«, lautete mein Kompromiss und ich räusperte mich, erschrocken darüber, wie belegt meine Stimme klang. Als hätte ich den ganzen Tag noch kein einziges Wort gesagt.
Damon verlangsamte seinen Schritt und für einen Moment sah es aus, als hätte auch er sich vor dem Klang meiner Stimme erschreckt. »Nicht grundsätzlich«, murmelte er undeutlich, ohne mich anzusehen. »Warum fragst du?«
»Mir wurde vorgeworfen, ich würde mich nicht ausreichend informieren«, antwortete ich, den Kopf erwartungsvoll in seine Richtung verrenkt, aber er zeigte keinerlei Reaktion.
»Ein guter Bourbon wirkt wahre Wunder«, gab er nach einer Weile schulterzuckend zurück. »Kontrolliert den Durst.«
Kontrolliert den Durst.
Ich schauderte ganz automatisch und hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten. Erst an der nächsten Fußgängerampel holte ich ihn ein. »Enzo war nervös«, sagte ich, als wir nebeneinanderstanden.
»Was?«
»Auf dem Sommerfest im letzten Jahr.« Meine Blicke wanderten zu seinen Hosentaschen, in denen er seine Hände, die, wie ich mir vorstellte, ähnlich schwitzig waren, versteckte. »Die vielen Menschen haben ihn ganz zappelig werden lassen.«
»Wohl kaum. Enzo hatte Nerven aus Stahl-, hat«, er räusperte sich mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. »Enzo hat Nerven aus Stahl. Wenn ihn etwas beunruhigte, dann sicher kein Haufen spießbürgerlicher Kleinstädter.«
»Du musst es ja wissen.«
Damon überquerte die Straße, noch bevor uns das grüne Ampelmännchen die Erlaubnis erteilte. Ich wetzte ihm zähneknirschend hinterher. »Versteh mich nicht falsch«, wagte ich einen zweiten Anlauf und mir entging nicht, dass er die Augen verdrehte. »Aber wenn auch nur die geringste Chance besteht, nur eine klitzekleine, dass du möglicherweise, in Anbetracht der Gesamtsituation, ein klitzekleines bisschen überwältigt sein könntest-«
»Mitreißende Motivationsrede, Käpten«, schnaubte er verärgert und legte noch einen Zahn zu. »Was glaubst du, was dann passiert, hm? Ein klitzekleines Blutbad?«
»Ein klitzekleines Blutbad, zum Beispiel.« Ich schob mir die Sonnenbrille von der Nase auf den Kopf. »Versprich mir einfach, dass ich mir keine Sorgen machen muss.«
»Na endlich, meine Gesellschaft bereitet dir Sorgen! Reichlich spät, findest du nicht?«
Es hätte nur noch gefehlt, dass er die Arme wie ein bockiges Kind in die Luft warf. Aber dafür war er viel zu angespannt. Mittlerweile sah es aus, als würde er vor mir wegrennen. Bevor sein erratisch hin und her wippender Rücken um die Ecke bog, streckte ich meine Hand nach ihm aus und wirbelte ihn herum.
»Pass mal auf, Mr. Ich-beobachte-dich-während-du-schläfst«, zischte ich so leise wie möglich, um sicherzugehen, dass uns niemand belauschen konnte. »Ich soll dich nicht wie den Feind behandeln? Einverstanden. Dann hör du im Gegenzug auf dich wie ein Arschloch aufzuführen. Du hast deinen Fuß gerade nämlich nicht in meiner Tür, verstehst du? Hier geht es nicht um mich.« Weil meine Stimme nur noch ein heiseres Flüstern war, konzentrierte er sich auf die Worte, die er glaubte, meinen Mund formen zu sehen. »Es geht um die Sicherheit der ganzen Stadt. Um die Sicherheit meiner besten Freundin!«
Damon schnaubte belustigt, als hätte ich einen Witz erzählt. Wie bei unserer ersten Begegnung, dachte ich, reichlich verwirrt darüber, woher die plötzliche Erinnerung an seinen unverschämten Überfall auf dem Klinikparkplatz kam.
»Da ist sie wieder.« Er hielt meinem Blick tapfer stand, auch wenn sich der strenge Ausdruck in seinem Gesicht von Grund auf veränderte. »Hab sie schon vermisst. Die kleine Nervensäge.«
Ich biss mir auf die Zunge, um nicht lauthals in der Fußgängerzone loszuschreien, während ich meine Hände zu wenig einschüchternden Fäusten ballte. Drauf und dran ihm ein blaues Auge zu schlagen oder zumindest ein paar fiese blaue Flecken auf seiner Brust zu hinterlassen. Noch bevor sich der Gedanke in Gänze manifestierte, packte er mich an den Handgelenken. Ich hasste es wie stark er war. Eher würde ich mir einen Bänderriss zuziehen, als mich zu befreien. Herzhaft seufzend betrachtete er meine in Zornesfalten gelegte Stirn mit einer eigenartigen Mischung aus Missmut und Resignation.
»Schön. Wenn es dir dann besser geht, von mir aus. Auch wenn es mich, zugegeben, ein bisschen beleidigt, weil es selbstverständlich sein sollte, verspreche ich dir ganz ausdrücklich, dass die Sicherheit der Stadt, die Sicherheit deiner besten Freundin und allen voran deine Sicherheit für mich oberste Priorität hat.«
Ich glaubte rot anzulaufen. Zumindest staute sich die unangenehme Hitze gerade im Kehlkopf-Bereich und würde mir jeden Moment erst in die Ohren, dann in die Wangen schießen. Sicherlich nur, weil ich kurzzeitig vergessen hatte, zu atmen. »Gut«, keuchte ich und rieb mir die empfindliche Haut an den pochenden Handgelenken. »Danke schön.«
Seine Antwort war ein stummes Nicken. Er wartete geduldig, bis ich mir die Sonnenbrille zurück auf die Nase setzte, dann folgten mir seine Schritte. Am anderen Ende der Straße war der Eingang des Parks bereits zu sehen. Die farbenfroh gekleidete Menschentraube deutete jedenfalls daraufhin.
»Mitreißende Motivationsrede«, murmelte ich schmunzelnd, in der Hoffnung, die übergroßen Brillengläser würden meine unnatürliche Gesichtsfarbe überdecken.
Damon wirkte entspannter, seine Hände lagen locker in den Jackentaschen und kurz sah es sogar so aus, als würde er lächeln. Dann wandte er sich mir zu. »Habe ich zu dick aufgetragen?«
Ich wippte als Antwort mit dem Kopf, die Lippen zu einer Schnute verzogen. »Vielleicht ein bisschen.«
»Du hast recht«, entgegnete er mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Vergiss die Sicherheit der Stadt.«
Woraufhin ich ihm letztlich doch noch einen wohlverdienten Tritt verpasste.
◇ ◇ ◇
Es war alles genau wie im Vorjahr. Meine Haare klebten im Nacken, dank der gnadenlosen Hitze der im Zenit stehenden Mittagssonne. Es roch nach frisch gemähtem Gras und Popcorn, das zweifellos in unmittelbarer Näher verkauft wurde. Nichts hatte sich verändert. Auch die junge Frau gegenüber, die mit Sicherheit die ganze Nacht darüber grübelte, in welches Kleid sie heute schlüpfen sollte, war immer noch die gleiche. Sie entschied sich für ein sonnenblumengelbes Exemplar, das knapp über ihren Knien endete, mit kleinen Aufdrucken jener Blumen und niedlicher Knopfleiste an der Brust. Sie sah umwerfend aus, wie der Sommer in Person. Wie ein menschgewordenes Parfum der extra blumigen Sorte. Mit dem wohl ansteckendsten Lachen der Welt.
»Wurde aber auch Zeit!«, rief Brielle, als sie mich unter den Besuchern entdeckte und mir zur Begrüßung um den Hals fiel.
Und doch war alles anders.
»Wir haben uns beeilt«, nuschelte ich entschuldigend in ihre ordentliche Flechtfrisur.
Wir.
Ich konnte spüren, wie sich ihre Schulterblätter zusammenzogen bei dem Klang dieses einzelnen Wortes. Aber vielleicht war auch ich diejenige, die zusammenzuckte. Sie löste sich aus meiner Umklammerung und sah erst mich durchdringend an, ehe ihre Blicke langsam über meine Schulter und zu meiner Begleitung wanderten. Offenbar überließ Damon ihr den Vortritt, denn seine Mimik war wie versteinert und er sagte kein Wort. Brielle näherte sich ihm so vorsichtig, dass es kurz danach aussah, als würden sie sich zur gegenseitigen Respekterweisung voreinander verbeugen wollen.
»Du bist also Damon Salvatore«, sagte sie eine Spur zu laut und führte die Hand, mit der sie ihre Augen von der Sonne abschirmte, zu ihm. »Brielle Martin.«
»Hocherfreut«, antwortete Damon und ließ den Handschlag über sich ergehen.
Für einen kurzen, unnötig spannungsgeladenen Augenblick sahen sie einander bloß an. Wer zuerst blinzelte oder die Hand wegzog verlor. Es war ein knappes Kopf-an-Kopf-Rennen, doch letztlich, nachdem er meinen strengen Seitenblick aufschnappte, ließ Damon sich räuspernd von ihr ab.
»Hast du meinen Bruder gesehen?«, fragte er nach einer Weile und sah sich suchend um.
Ich folgte seinem Blick, aber Brielle zeigte mit dem Finger in die entgegengesetzte Richtung. »Da drüben ist er. Er macht sich ziemlich gut.«
Hinter einer Streitkraft aus Kinderwagen, unter dem wohltuenden Schatten, den die Bäume ringsherum spendeten, konnte man nichts weiter als einen dunkelblonden Haarschopf erahnen, der von herumtollenden Kindern in die Enge getrieben wurde.
»Stefan!«, rief Brielle, die Hände in die Seiten gestemmt. Mit einer Trillerpfeife würde sie aussehen wie meine alte Sportlehrerin. Der harsche Ton war derselbe, genau wie der prüfende Blick, mit dem sie Stefan verfolgte, der sich langsam und mit erhobenen Händen von der Horde, die ihn umzingelte, entfernte. Als mein Blick auf das fiel, was Stefan in der rechten Hand fest umklammert hielt, musste ich mir die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut loszulachen.
Aber Damon verbot sich nicht den Mund. »Was soll das werden, Bruder?«, fragte er entsetzt, als befände sich in dem runden Weidenkorb ein abgetrennter Kopf und keine kunstvoll geflochtenen Blumenkränze.
»Die gehören offenbar zum Empfangskomitee«, gab dieser wie selbstverständlich zurück und fummelte mit der freien Hand ein Exemplar aus dem Körbchen. »Interesse?«
»Hast du eine Wette verloren?«
»Nicht ganz.« Stefan ließ das kunterbunt leuchtende Objekt zurück zu den anderen fallen. »Es gab da ein kleines Missverständnis mit einer falschen Handynummer. Brielle dachte-« Sie räusperte sich übertrieben, als wollte sie ihn auffordern, nicht vom Skript abzuweichen. »Ich dachte, das wäre eine passende Gelegenheit, mich für mein Verhalten zu entschuldigen.«
»Und darum bist du der nette Bruder«, gluckste Brielle entzückt und tätschelte zur Belohnung seine Schulter.
»Der nette Bruder?« Damon verschränkte die Arme und sah mich an. »Und wer bin ich?«
»Der Garstige, schon vergessen?«
»Garstig«, schnaubte er beleidigt. »Was soll das überhaupt heißen?«
»Hey, alle Mann hierüber!« Brielle dirigierte bereits eine Gruppe Neuankömmlinge mit wedelnden Armen in unsere Richtung und schob das angestrengt freundlich dreinblickende Blumenmädchen vor sich her. Aber vorher schnappte sie sich einen ihrer handgemachten Kränze und klimperte mich mit ihren sorgfältig getuschten Wimpern an.
»Untersteh dich«, zischte ich mit erhobenem Zeigefinger, aber Brielle fing nur höhnisch an zu lachen.
»Widerstand ist zwecklos!«, antwortete sie und drückte mir die Krone, deren Blätter von allen Seiten abstanden, auf meinem von der Sonne aufgeheizten Kopf.
Widerstand ist zwecklos!
Seufzend und mit einem undefinierbaren Stechen in der Brust, sah ich zu Damon hoch, der sich neben mir aufbaute und immer noch ein wenig eingeschnappt aussah. Bei meinem Anblick allerdings wurde seine Miene prompt weicher und er ließ die Arme wieder sinken. »Du siehst toll aus«, kommentierte er meinen Haarschmuck mit einem unüberhörbaren ironischen Unterton, für den Brielle ihn mahnend aus den Augenwinkeln anfunkelte.
Du siehst toll aus.
Ich war wie zur Salzsäule erstarrt. Wie lebendig begraben in einer Erinnerung, die einst mein größter Quell der Freude war. Heute ließ mich der entsetzliche Gedanke, dass nichts mehr so sein würde wie noch vor einem Jahr, erzittern. Der sanfte Druck, mit dem Damon seine Hand auf meine Schulter legte, ließ mich hochschrecken.
»Und jetzt bitte lächeln!«
Ich nahm keine Notiz von Brielle. Weder von ihr noch von der Kamera, die sie vor ihr Gesicht führte. Ihre Worte wurden von dem Wind davongetragen, der so plötzlich über den Bürgersteig fegte, dass ich unter anderen Umständen überrascht nach Luft geschnappt hätte. Aber in dieser Momentaufnahme blieb ich wie angewurzelt stehen und suchte Trost in dem blauen Augenpaar, das mich so eindringlich ansah, dass Ausstehende womöglich denken könnten, es läge etwas liebevolles in seinem Blick.
Erst als der Wind sich beruhigte und Brielle die Kamera langsam wieder sinken ließ, bemerkte ich, dass ich die rechte Hand ganz automatisch schützend auf den Blumenkranz auf meinem Kopf gelegt hatte. Brielle starrte mich traurig an, erst durch den Sucher, dann über die Kamera hinweg, während ich den Arm langsam wieder sinken ließ. Auch der Druck auf meiner Schulter, den Damons Hand verursachte, ließ nach.
»Kommst du nach, wenn du mit dem Empfangskomitee fertig bist?«, hörte ich mich fragen.
Brielle nickte, bemüht zu lächeln, aber es gelang ihr nicht besonders gut. Desorientiert, als hätte sie vergessen, wo sie war, sah sie sich zu allen Seiten nach Stefan um und als sie ihn fand, steuerte sie geradewegs auf ihn zu. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu räuspern, meine Krone zu richten und meine Begleitung zu fragen: »Wollen wir?«
◇ ◇ ◇
Die brütende Hitze war der angenehmen Nachmittags-Wärme gewichen. Vereinzelte Schleierwolken überzogen den Himmel und spendeten so zumindest ein wenig Schatten. Ich lehnte mit den Armen am Geländer des Pavillons, der den Kuchenbasar überdachte, direkt neben der Bühne auf dem zentralen Festplatz. High On Life, so nannte sich die Schülerband, die vor einer halben Stunde die letzten Klänge der hundertsten Rock-Ballade auf ihren Gitarren schrammelten, bevor sie verstummten und tosenden Applaus ernteten. Ihre jugendlichen Gesichter waren ganz verschwitzt und vor Aufregung gerötet, als sie sich erleichtert um den Hals fielen. Seitdem schleppten die vier Jungs Instrumentenkoffer von A nach B, enthedderten den Salat aus Verstärkerkabeln und strahlten dabei immer noch, als hätte das Publikum nie aufgehört zu klatschen.
Mein Blick fiel auf Damon, Stefan und Brielle, die, wenn mich nicht alles täuschte, der Band ihre Hilfe anbot. Sie lehnten dankend ab, verwickelten die hübsche Blondine aber trotzdem in ein Gespräch. Angetrieben von der Bestätigung und dem Stolz, ein wenig übermütig vielleicht, aber Brielle gönnte den höchstens Siebzehnjährigen ihren großen Augenblick und gab sich deshalb so charmant wie immer.
Die Brüder schlugen sich überraschend gut. Was Stefan mit seiner Schwiegermutters-Liebling-Attitüde mühelos gelang, kompensierte Damon mit einer Extraportion trockenem Humor und blöden Sprüchen. Hin und wieder erwischte ich meine beste Freundin dabei, wie sie hinter vorgehaltener Hand prustete und nickte Damon daraufhin anerkennend zu. Ich war guter Dinge, dass sich ihre anfängliche Skepsis allmählich begann aufzulösen. Zumindest sah sie Damon nicht mehr an, als wäre er die Ausgeburt der Hölle.
Brielle trug meinen Ring, Enzos Ring, wie ich sie gebeten hatte, glücklicherweise. Ganz automatisch führte ich meine Hand an meinen Hals, zu dem Medaillon, als wollte ich mich vergewissern, dass es noch da war. Es fühlte sich angenehm kühl an.
»Hallo! Möchten Sie einen Eistee? Oder ein Stück Kuchen?«, unterbrach eine helle Jungenstimme meine Gedanken.
Der Kleine konnte durch die dunklen Korkenzieherlocken, die ihm ins Gesicht fielen, kaum sehen. Trotzdem hielt er mir mit einem beeindruckenden Selbstbewusstsein einen Plastikteller mit einem Stück Bienenstich vor die Nase. Vermutlich hatte er mein breites Grinsen fehlinterpretiert. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass wir uns heute schon begegnet sind. Dass er mich schon einmal aus meinen Gedanken riss.
»Der sieht wirklich lecker aus, aber ich hatte schon so viel Kuchen.« Ich hielt mir den ausgestreckten Bauch, um dem Jungen zu veranschaulichen, wie viel Kuchen ich in den letzten Stunden schon verputzt hatte und das war nicht einmal gelogen. Er lachte daraufhin, als hätte ich den besten Witz erzählt, den er je gehört hatte.
»Dann nehme ich das Stück, wenn es Ihnen nichts ausmacht?« Ein junger Mann, der mit einer ähnlichen Lockenpracht gesegnet war, sodass er gut als Vater des Kleinen hätte durchgehen können, schob sich zwischen uns und nahm den Plastikteller samt Gabel entgegen. Er steckte einen gefalteten Geldschein in den Plastikbecher, der als Kasse fungierte und bedankte sich mit einer höflichen Verbeugung, die den Jungen noch lauter zum Lachen brachte.
Dann wandte er sich ab und führte die Gabel, genüsslich stöhnend, in den Mund. »Ein tolles Fest«, schmatzte er undeutlich. »Und verdammt leckerer Kuchen!«
Im ersten Moment registrierte ich gar nicht, dass der Lockenkopf mit mir sprach. Darum nickte ich bloß übereifrig, als er neben mir stehen blieb und mich erwartungsvoll ansah. »Ja, der ist wirklich gut«, stimmte ich ihm zu, zeigte unnötigerweise auf den Teller in seinen Händen und positionierte mich wieder am Geländer des Pavillons.
»Ich heiße Jules«, sagte er freundlich und schluckte hörbar.
»Freut mich. Ich bin Bambi.« Seine Mundwinkel zuckten, aber er bemühte sich, nicht zu breit zu lächeln. Der übliche schmale Grat zwischen freundlich und belustigt. »Ist das Ihr erstes Mal auf dem Sommerfest?« Ich war mir ziemlich sicher, dass ich den aufgeweckten Blick in seinem attraktiven Gesicht bisher noch nie gesehen hatte und obwohl es albern war, da ich unmöglich jedes Gesicht unserer Kleinstadt kennen konnte, machte mich diese Beobachtung zum wiederholten Male stutzig.
»Oh, ja«, bestätigte er meine Vermutung und arbeitete sich weiter mit der Plastikgabel voran. »Hab überlegt, ob ich überhaupt herkommen soll. Ich kenne hier niemanden, wissen Sie? Bin nur auf der Durchreise, wollte eigentlich schon wieder weg sein, weiter Richtung New York. Dachte, hier wäre eh tote Hose.« Er nahm noch einen großen Happen. »Aber ich bin ganz ehrlich, Mystic Falls ist einfach hinreißend!« Dabei betonte er den Namen der Stadt wie jemand, der anzweifelte, dass es sie überhaupt gab.
»Mystic Falls ist nicht gerade ein Touristen-Hotspot, das stimmt. Aber dafür haben Sie sich wirklich das perfekte Wochenende ausgesucht, um unserer Stadt eine Chance zu geben.«
Jules lächelte zustimmend und wischte sich einen hartnäckigen Krümel aus dem Mundwinkel. Dabei fiel mein Blick auf etwas, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. So unerwartet und so plötzlich, dass ich beinahe einen entsetzten Laut ausgestoßen hätte, doch ich hielt gerade noch rechtzeitig die Luft an. Mein Mund wurde immer trockener, je länger ich die Hand, mit der er nun wieder die Gabel umfasste, anstarrte. Am Finger seiner linken Hand steckte ein Ring, den ich unter Tausenden wiedererkannt hätte.
»Mystic Falls«, flüsterte der Mann, der mit einem Mal jede Sympathie verloren hatte, »ist wirklich, wirklich hinreißend.«
Ich konnte meine Augen kaum von ihm abwenden, doch dann schnellte mein Kopf in Richtung des Festplatzes, zur Bühne. Ich versuchte Stefan und Damon unter den Menschen ausfindig zu machen, aber so weit ich es überblicken konnte, waren sie verschwunden.
»Wo ist Enzo?«, fragte ich, als ich meine Stimme wiederfand und mich traute, den Blick des Fremden, der sich Jules nannte, zu erwidern.
»Das ist unwichtig.« Er schleuderte den Plastikteller über das Geländer und knirschte angewidert mit den Zähnen, spuckte den letzten Rest des zerkauten Kuchens, dem Teller hinterher, über die Brüstung auf die Wiese. »Du wirst für mich eine Nachricht überbringen, Bambi, also hör gut zu.«
»Ist Enzo noch am Leben?«, keuchte ich so mühsam, dass ich nicht einmal mit Gewissheit sagen konnte, ob die schrecklichen Worte wirklich über meine Lippen kamen oder nur lähmende Gedanken waren. So oder so schnürten sie mir die Kehle zu.
»Die Nachricht«, wiederholte er unbeeindruckt, ohne eine Miene zu verziehen. »Sag ihnen, dass er erfolgreich war. Dass sich die ultimative Waffe endlich in seinem Besitz befindet. Und die Brüder sind als nächstes dran.«
Da war er wieder, der Auslöser. Ich konnte ihn hören. Das fast lautlose Knipsen der geistigen Kamera, die die alles entscheidenden Augenblicke für immer in Erinnerungen festhält. Aber diese Erinnerung, und auch das wurde mir in jener Sekunde schmerzlich bewusst, würde mich für den Rest meines Lebens verfolgen.
Die Brüder sind als nächstes dran.
»Hast du das verstanden?«
Ich schüttelte den Kopf, wie in Trance, völlig undefinierbar. Das war kein Zeichen der Zustimmung, nur ein Zeichen dafür, dass ich meinen Gegenüber trotz des ohrenbetäubend lauten Rauschens in meinem Kopf noch hören konnte. Je lauter das Rauschen anschwoll, desto benommener fühlte ich mich.
»Wer bist du?« Es war fast lächerlich, wie sehr ich mich darauf konzentrierte, die Worte tatsächlich auszusprechen. »Was hast du Enzo angetan?«
Jules' Augen weiteten sich unnatürlich. »Ich?«, fragte er und fasste sich mit der Hand, an der Enzos Ring steckte, bestürzt an die Brust. »Oh, ich doch nicht.«
»Wer dann?«
Seine Fratze verzog sich zu einem abscheulichen Grinsen. »Niklaus Mikaelson.«
Ich war wie betäubt. Alles war taub und still. Wie in einem Wachkoma-ähnlichen Zustand gefangen, versuchte ich zurück an die Oberfläche zu gelangen, aber der Weg war versperrt. Der Weg nach oben, dort wo sich mein Leben abspielte, während ich strampelnd gegen die sich anbahnende Ohnmacht ankämpfte.
Niklaus Mikaelson.
Ich nahm nur schemenhaft wahr, wie sich Jules' Gesicht von mir entfernte und aus den klaren Umrissen verwischte Linien wurden. Der schwindelerregende Weichzeichner legte sich über den gesamten Pavillon. Es verstrichen wertvolle Sekunden, ehe ich begriff, dass ich nicht ohnmächtig wurde. Ich hatte bloß angefangen zu weinen. Bleib stehen!, hätte ich es am liebsten aus voller Kehle gebrüllt, aber meine Kraft reichte gerade so aus, um mir den Tränenschleier mit zitternden Händen aus den Augen zu wischen. Und dabei den Blick freizugeben, auf den Mann, der soeben die Flucht ergriff.
Ich wetzte ihm hinterher, den braunen Locken, das einzige Erkennungsmerkmal, das ich mir in dieser verzweifelten Sekunde eingeprägt hatte. Atemlos nach Luft schnappend, stolperte ich die wenigen Stufen herunter, seinem Kopf hinterher. Vorbei an den Menschen, von denen ich glaubte, sie würden mich anstarren. Aber der Tunnelblick blendete erfolgreich alles aus, was um mich herum passierte. Du hast eine Panikattacke, dachte ich noch mit jedem Schritt, der sich anfühlte, als wäre ich eine weitere Meile gerannt. Die Luft wurde dünner und mein Sichtfeld enger. Ich hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, obwohl ich kaum noch zwischen Himmel und Erde unterscheiden konnte. Erst recht nicht zwischen Frau und Mann. Oder zwischen Mörder und Familienvater. Renn!, forderte ich mich auf, doch meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Ich konnte mich keinen Millimeter mehr fortbewegen.
»Bambi, hey, guck mich an!« Als ich endlich begriff, dass ich nicht gelähmt war, sondern nur an beiden Schultern gepackt wurde, war es schon zu spät. »Was ist passiert? Bambi, hörst du mich?«
»Weg«, stammelte ich. »Er ist weg.«
»Wer ist weg?«
»Jules.« Wenn das überhaupt der Name des Mannes war, der Enzo getötet hat.
Oder daran beteiligt war, dachte ich und spürte das erleichternde Gefühl von aufsteigenden Tränen. Ich konnte mich noch bewegen, ich konnte noch etwas tun. Mit dieser Erkenntnis hob ich den Kopf und sah in Damons fahles Gesicht.
»Wer zum Teufel ist Jules?«, stellte er die einzig richtige Frage. Dann hievte er meinen plötzlich tonnenschweren Körper auf die Bank, neben der ich zusammengebrochen war. Aus den Augenwinkeln erkannte ich Stefan, der sich zuerst zielstrebig mit schnellen Schritten auf uns zu bewegte, bei meinem Anblick aus nächster Nähe aber abrupt innehielt. Er wechselte ein paar Blicke mit seinem Bruder, bevor er näherkam.
»Ich soll euch etwas ausrichten.« Meine Stimme klang wie ferngesteuert, als hätte mir jemand die Worte in den Mund gelegt. Die beiden wagten es nicht mich zu unterbrechen, weil sie verstanden wie wichtig das war, was jetzt folgte.
»Er hat eine Waffe, eine mächtige, ultimative Waffe. Und er hat gesagt-« Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten, aber das hätte seine Stimme auch nicht vertrieben. Diese fürchterliche Stimme, die die nachfolgenden Worte immer und immer wieder in meinem Kopf wiederholte: »Die Brüder sind als nächstes dran.«
Damon und Stefan, die neben mir in die Hocke gegangen sind, stemmten sich im gleichen Augenblick wieder hoch. »Wer ist dieser Jules?«, fragte Damon noch einmal, diesmal nachdrücklicher.
»Nein, nicht Jules«, wiederholte ich die letzten Worte der scheußlichen Endlosschleife. »Niklaus Mikaelson.«
Für einen kurzen Augenblick kehrte die Taubheit zurück. Zumindest glaubte ich, die Anzeichen der lähmenden Ohnmacht in ihren bleichen Gesichtern ablesen zu können. Sie atmeten nicht mehr und starrten geradewegs durch mich hindurch.
»Wer ist Niklaus Mikaelson?« Meine Gegenfrage holte die Brüder zurück an die Oberfläche. Dort, wo sich unser Leben abspielte. Auch wenn es zu diesem Zeitpunkt nicht schien, als wäre noch viel davon übrig.
»Kannst du gehen?«, fragte Damon und zog mich zurück auf die Füße, ohne eine Antwort abzuwarten und ohne mir eine auf meine Frage zu geben. »Wir müssen hier weg.«
»Aber-«
»Wir müssen sofort von hier verschwinden!«
Stefan stabilisierte mich von der anderen Seite. »Das kann nicht sein, oder?«, fragte er seinen Bruder.
»Wir bleiben jedenfalls nicht hier, bis wir es herauszufinden.«
»Los!«, ächzte Stefan und warf sich meinen Arm über die Schulter. »Zu meinem Auto, schnell!«
Und so dirigierten Stefan, dem die Panik in die immer schneller strampelnden Beine rutschte und Damon, dem sich das blanke Entsetzen auf die verstummten Stimmenbänder legte, uns geradewegs in den nächsten Albtraum.
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