Kapitel 1 - Anatomie einer Krankenschwester

»Komm schon.« Der Riemen meiner Handtasche bohrte sich tief in meine Schulter. »Bitte sei da.« Doch zwischen Brieftasche, Tampons und alten Kontoauszügen konnte ich nichts ertasten, was einem Dienstausweis ähnlich war. Autoschlüssel, Handy, Brillenetui...

Autoschlüssel. Shit.

Die Zeit arbeitete wie immer gegen mich. Dreißig Minuten seit Schichtbeginn und ich hatte mich noch nicht einmal umgezogen.

»Morgen, Bambi.« Brielle kam mir mit einer randvollen Kaffeetasse, dunklen Augenringen und einer halb verglühten Zigarette entgegen, die sie locker zwischen Ring- und Zeigefinger balancierte.

»Morgen«, nuschelte ich, nickte ihr flüchtig zu und wühlte mich weiter durch den Bodensatz meiner Tasche. »Du siehst übel aus.« Das erkannte ich selbst aus den Augenwinkeln. Meine kleine Bemerkung quittierte sie mit einem müden Lächeln.

»Du findest einfach immer die richtigen Worte.« Eine kopfschmerzbereitende Mischung aus Kaffee und Zigarettenqualm stieg mir in die Nase. Brielle legte den Kopf schief und musterte mich besorgt. »Alles okay bei dir?«

Unsere Blicke trafen sich, als ich mir das Ungetüm aus Kunstleder energisch über die Schulter warf und mit den Autoschlüsseln vor den Augen meiner Freundin klimperte. »Erzähl ich dir gleich.« Bevor sie etwas erwidern konnte, machte ich auf dem Hacken kehrt. Am liebsten hätte ich die braune Plörre aus ihrer Tasse mit einem Zug runtergekippt.

Es begann an jenem Montagmorgen, als ich schlaftrunken, mit der mahnenden Stimme meines Oberarztes im Ohr und dem Zeitdruck im Nacken, über den verlassenen Klinikparkplatz wetzte. Eigentlich begann es schon sehr viel früher. Aber müsste ich mich auf einen alles entscheidenden Tag X, oder besser gesagt Tag 0, in leuchtend roten Lettern festlegen, dann wäre es vermutlich dieser. Der Tag, an dem ich es bereute, den verdammten Thriller vergangene Nacht nicht schon eher zurück auf den Nachttisch gelegt zu haben. Träume süß, mein Mädchen. Welch ironischer Titel.

Es war unangenehm schwül und meine Haare, die ich mir vorhin noch lieblos mit einer Klammer am Hinterkopf fixierte, fühlten sich in der feuchtwarmen Luft klebrig und zerzaust an.

Ich öffnete die Fahrertür meines Kleinwagens, kletterte mit dem Kopf voran auf den Beifahrersitz und tastete erst das Armaturenbrett, dann den Fußraum gründlich ab. Die enge Rückbank war kaum noch als solche zu erkennen. Ich bahnte mir meinen Weg durch leere Pfandflaschen, Wechselklamotten und Post, die ich nie geöffnet habe. Hauptsächlich Reklame oder Essensgutscheine, zumindest hoffte ich das. Mit einem markerschütterndem Knacken meldete sich meine Schulter (»Was wird'n das, wenn's fertig ist?«), als ich hangelnd mit der einen Hand den Raum unter dem Fahrersitz inspizierte und mich mit der anderen am Kopfpolster festkrallte.

»Hab ich dich.«

Ich zog meinen Kopf so hastig zurück, dass mir schwindelig wurde, als ich rückwärts im Vierfüßlerstand aus dem Auto krabbelte, mir den Ausweis halbherzig an der Jeans abwischte und ihn in der hinteren Hosentasche verschwinden ließ. Nach einem letzten prüfenden Blick ins chaotische Wageninnere, knallte ich die Fahrertür zu. Als mich die Silhouette eines Mannes durch die Seitenscheibe ansah, entfuhr mir ein unterdrückter Schrei und ich wirbelte herum.

»Kann ich Ihnen helfen?«, druckste ich kleinlaut, vom Überraschungsmoment überwältigt. Das strenge Augenpaar gehörte einem jungen Mann mit dunklen Haaren, in schwarzer Lederjacke, einen halben Kopf größer als ich. Seine Lippen waren zu einer geraden Linie gezogen. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob er mich gehört hat.

»Entschuldigung, ist alles in Ordnung?«, probierte ich es wieder. Ich ließ meine Blicke über den menschenleeren Parkplatz schweifen und versuchte so unauffällig wie möglich, mein Hemd gerade zu streichen, das bei der halsbrecherischen Zirkusnummer im Wagen ein bisschen verrutschte und mehr preisgab, als es sollte.

»Bestens«, entgegnete er fast reglos.

Unsere Blicke verhakten sich.

»Haben wir uns schon mal gesehen?«, fragte ich und kramte tief in der Kiste meiner Erinnerungen nach den wasserblauen Augen, mit denen er mich ansah.

»Das halte ich für unwahrscheinlich«, antwortete er knapp.

Er legte den Kopf schief und wanderte mit seinen Augen meinen schlampig eingekleideten Körper herunter. Mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung, die selbst den Fremden wieder aufblicken ließ, richtete ich den Ausschnitt meines Hemdes, räusperte mich verlegen und schulterte meine Tasche.

»Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich-« Ich scannte seinen Körper noch in der Bewegung und blieb an einem Fleck am Kragen seines T-Shirts hängen. »Sind Sie verletzt?«

Er folgte meinem beunruhigten Blick und versteckte das, was ohne jeden Zweifel Blut war, mit seiner Jacke, bevor ich mir seine vermeintliche Schramme genauer hätte angucken können. »Vielen Dank, mir fehlt nichts.«

»Na gut.« Vierzig Minuten seit Dienstbeginn und ich trat noch immer verunsichert von einem Fuß auf den anderen. »Aber wenn Sie es sich anders überlegen sollten-« Mit einer übertrieben einladenden Handbewegung deutete ich in Richtung des Krankenhauses, das sich hinter uns in einem riesigen Gebäudekomplex erhob. Mein Gegenüber schnaubte bloß belustigt, als hätte ich einen Witz erzählt.

»Nur ein lästiger Pickel.« Daraufhin trat er verschmitzt grinsend einen Schritt zurück, damit ich mich an ihm vorbeischieben konnte.

»Verstehe.« Meine Antwort auf sein Grinsen sah vermutlich schief und nicht annähernd attraktiv aus. »Also dann, viel Erfolg beim Rauswaschen.« Gerade als ich ihm den Rücken zukehrte und mich selbst über diese saublöde Verabschiedung ärgerte, räusperte er sich hörbar und ich fuhr augenblicklich herum.

»Vergessen Sie den hier nicht.« Er schielte neugierig auf das Stück Hartplastik in seinen Händen. »... Bambi? Ernsthaft?«

Ich stockte. Scham schoss mir explosionsartig in Form von Blut ins Gesicht und pulsierte in meinen Schläfen.

»Sie haben ihn fallen lassen, Miss Bambi.«

»Nein, ich hab-« Eine Hand wanderte automatisch in meine leere Hosentasche, in der ich die Karte vermutete, aber logischerweise nicht fand. Ehe ich mich versah, war die Nasenspitze des Fremden nur noch wenige Zentimeter von meiner entfernt.

»Gern geschehen.«

Meine Finger tasteten vorsichtig nach meinem Ausweis, ohne seine zu berühren. Und als ich wieder aufsah, war er verschwunden.
    

◇ ◇ ◇

    
»Wer ist'n dein neuer Freund?«

Ich glotzte Brielle ungläubig an und um ein Haar hätte ich, prustend und nach Luft ringend, eine Ladung Spucke und Couscous auf dem Tisch im Pausenraum verteilt. Ihr Glück, dass ich den letzten Rest meines aufgewärmten Mittagessens gerade geräuschvoll herunterwürgte. Ich schob die leere Tupperdose beiseite und äffte ihr scheinheiliges Grinsen nach.

»Vielen Dank fürs Ausspionieren. Du meinst den Typen auf dem Parkplatz?« Sie nickte so heftig, dass die blonden Haarsträhnen, die ihr Gesicht umrahmten, auf und ab wippten. »Keine Ahnung. Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind.« Ich zog die Stirn nachdenklich in tiefe Falten. »Was seltsam ist an einem Ort wie Mystic Falls.«

»Was wollte er denn von dir?«

Brielle mochte es hier. Um Welten lieber als ich. Darum verzichtete sie bewusst auf einen Kommentar über meinen verächtlichen Tonfall.

Ich zuckte nur ratlos mit den Schultern. »Für einen Augenblick dachte ich, er wäre irgendwie verrückt. Dann hat er allerdings meinen Ausweis gefunden.« Dieser baumelte mir nun wie Beweisstück A an der Brusttasche. »Naja, er ist abgehauen, ehe ich mich bei ihm bedanken konnte, also-«

»Wie heißt er?«

Wieder bloß ein hilfloses Schulterzucken meinerseits. »Hat er nicht verraten.«

Brielle leerte ihren Kaffee in einem Satz. Anatomie einer Krankenschwester konnte man von allen Schriftzügen noch am deutlichsten auf der abgenutzten Oberfläche erkennen. Müde Füße, volle Blase, leerer Magen, las ich und lächelte in mich hinein. Warmes Herz, geheimnisvolle Flecken auf der Kleidung und Augen, die schon alles gesehen haben.

Ich hatte ihr diese Tasse kurz nach unserem Einzug ins Mystic Falls Hospital geschenkt. Was ursprünglich als Scherz gedacht war, endete in einer lächerlichen emotionalen Bindung zu einer Massenanfertigung aus dem Internet. Wir liebten diese alberne Tasse.

Brielle kam aus Greenville, einer Stadt in South Carolina, und ich aus Chicago, Illinois. Wir hatten ganz unterschiedliche Gründe von Zuhause wegzugehen, aber trotzdem stießen wir, wie durch einen glücklichen Zufall, im Erdgeschoss des Krankenhauses aufeinander. An jenem wesentlich kälteren Morgen im März, als ich, hauptsächlich vor Nervosität zitternd, kaum ein Wort am Empfang herausbekam. Brielle, die sich hinter mir in der Schlange die Beine in den Bauch stand, behauptet heute noch felsenfest, dass sie mir lediglich zu Hilfe eilte. Ich glaube, sie war einfach nur schrecklich ungeduldig.

»Erde an Bambi?«

Meine Blicke lösten sich wieder von der freundlich dreinblickenden Karikatur im Arztkittel. »Ich musste gerade daran denken, wie wir uns kennen gelernt haben«, seufzte ich und meine Freundin blinzelte mich rührselig an, als läge dieser Tag eine halbe Ewigkeit zurück. »Weißt du noch, letztes Jahr? Du hast mich von der Rezeption ins Büro gezerrt, immer hinter dir her, wie eine Watschelente.«

»Stimmt. Und als Dank hast du mir den Schädel eingeschlagen.«

Stimmt. Noch an unserem ersten Tag habe ich ihr die unnachgiebige Metalltür meines Spinds versehentlich über den Kopf gezogen. Tagelang musste ich als Strafe ihre Beule tätscheln.

Die Vibration meines Handys, das sich auf der windschiefen Ablage aus Tupperdosen-Deckeln anfühlte wie ein Erdbeben, ließ mich zusammenzucken und riss mich aus meinen Gedanken. Als ich es aufhob, um die neuste Nachricht auf dem Display zu checken, musste ich schmunzeln. »Liebe Grüße von Enzo«, sagte ich und Brielle hob hellhörig den Kopf. »Deine Ukulele ist so gut wie neu.«

»Er ist ein Schatz«, säuselte sie verträumt und legte ihren Kopf auf den Händen ab. »Ist bei euch beiden alles gut?«

Ich versuchte das aufkeimende Grinsen mit einer unsicheren Schnute zu überspielen, aber meine Mundwinkel waren stärker als die vorsorgliche Bescheidenheit. »Ziemlich gut«, entgegnete ich deshalb und saß mit einem Mal kerzengerade am Tisch.

»Das will ich auch hoffen. Du weißt, ich liebe unser verschlafenes Städtchen, aber jemand Besseren als Enzo wirst du ins Mystic Falls niemals finden.« Sie klopfte mit ihren kurz gefeilten Nägeln gedankenverloren auf der Tischplatte. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass jemand wie er ausgerechnet hier Wurzeln schlägt.«

»Ja, und dann noch mit jemandem wie mir«, fügte ich ehrlich überrascht hinzu und mein Rücken verformte sich wieder zu einem Katzenbuckel. Ich schüttelte verdutzt den Kopf. »Ich bin wirklich glücklich, Brielle. Es ist nur, ich weiß nicht. In letzter Zeit ist er irgendwie ein bisschen komisch.«

»Komisch?«

Ich nickte, diesmal gewann die unsichere Schnute. »Heute früh hat er kaum ein Wort zu mir gesagt. Das geht schon ein paar Tage so. Irgendwas beschäftigt ihn, aber er will mir auf Teufel komm raus nicht erzählen, was es ist. Das ist frustrierend, ich dachte irgendwie, wir wären schon weiter.«

»Muss etwas Persönliches sein«, gab sie trocken zurück.

Ich schüttelte wieder den Kopf. »Keine Ahnung. Ich meine, seine Eltern sind verstorben, er ist Einzelkind, neu in der Stadt. Ich wüsste nicht, welche Art von familiärer Vergangenheit ihn hier einholen könnte.«

»Dann geht es vielleicht nicht um seine Familie«, mutmaßte sie und schielte auf mein Handy, als überlegte sie, ihn kurzerhand zur Rede zu stellen.

Für einen kurzen Augenblick starrten wir beide geistesabwesend auf den mit Fingerabdrücken übersäten schwarzen Spiegel des Handydisplays. »Er hat mir erzählt, dass ein alter Freund von ihm in der Stadt ist«, sagte ich dann.

Brielle zog ein ungläubiges Gesicht. »Hier?«

Ich nickte und erwiderte ihren überaus passenden Gesichtsausdruck. »Er hat wohl keine Silbe zu Enzo gesagt, über seine Rückkehr. Ich weiß nicht, vielleicht hat ihn das verletzt.«

»Was will ein alter Freund von Enzo hier, in Mystic Falls?«

»Wohl das gleiche wie wir anderen auch.« Ich stand auf, schnappte mir meine Tupperdose und mit dem ausgestreckten Zeigefinger den Henkel unserer Keramiktasse. »Schlechten Krankenhaus-Kaffee trinken, zum Beispiel.«

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