Wirklichkeit oder Einbildung
Ich öffnete meine Augen. Wo war ich? Wieso bewegte sich mein Körper automatisch? Das musste doch ein Traum sein. Es musste Tag sein, oder? Ich wollte nicht ständig in Ohnmacht fallen, denn das bedeutete, dass ich jederzeit umkippen könnte. Besonders in so einem Moment. Vielleicht hätte mir Melcon endlich mal etwas erzählt. Mach dir nichts vor, Mariam, es ist Melcon. Ich konnte weder eingreifen noch etwas anderes tun. Ich oder die Person, in der ich feststeckte, ging zum Fenster. Es waren gerade erst die ersten Sonnenstrahlen zu sehen. Ich lief schnell herunter, half einer Frau, Feuer zu machen, und ging dann zum Brunnen, um Wasser zu holen.
In welchem Jahrhundert war ich? Und was tat ich hier überhaupt? Und warum fühlte es sich nicht wie ein Traum an? Ich war doch gerade noch bei Maze und Melcon gewesen. Würde Melcon mir jemals etwas erklären?
Die Frau von eben rief: „Kinder, Essen ist fertig!" Ich beeilte mich und setzte mich an den Tisch. Es gab Brei. Und Maze? Seine Kleidung war schlicht und abgetragen, doch in seinem aufrechten Gang und seinem wachen Blick lag ein stiller Stolz. Er lächelte mich an. „Guten Morgen, Mutter, und Mariam."
Ich sagte: „Morgen." Warum benutzte Maze meinen Namen? Ich war doch im Körper von jemand anderem! Ich probierte, irgendetwas zu bewegen, aber es ging nicht. Also war das ein Traum, und ich konnte mich nicht bewegen.
„Mariam, du kümmerst dich heute bitte um die Kühe, und Maze—", begann die Mutter, doch der Junge, also Maze, unterbrach sie: „Ich gehe auf die Felder. Und Mariam, lass dich bitte nicht wieder von deinem ‚Freund' ablenken." Er sagte das Wort „Freund" abwertend.
Ich rollte mit den Augen. „Keine Sorge, er wollte heute nicht vorbeikommen." Maze schnaubte. „Und daran hält er sich auch? Du weißt, er gehört zu denen."
Jetzt war die Mutter genervt. „Er gehört doch nicht zu denen. Er ist vom Adel und eine gute Partie, die unserer Familie Wohlstand bringen würde. Und jetzt husch an die Arbeit!"
Also ging ich tatsächlich in den Kuhstall und kam später wieder zurück zum Essen. Wow, was für ein spannender Alltag. Konnte ich nun wieder aufwachen? Es reichte langsam mit der Ohnmacht. Nope, ich ging zum Mittagessen. Also ging ich über den steinernen, runden Hof.
„Guten Mittag, Mariam", wurde mir plötzlich von einer sehr bekannten Stimme zugerufen. Ich drehte mich um, und da war er: eine Person, die aussah wie eine Mischung aus Milans und Melcons Aussehen. Und die Stimme war unverwechselbar seine.
Ich lächelte ihn an. „Newton, wie schön, dass du vorbeischaust."
Er kam auf mich zu und umarmte mich. „Für dich doch immer."
„Mariam, jetzt komm!" Newton, Melcon oder wer auch immer zog mich an seiner Hand ins Haus. Er grüßte meine Mutter und meinen Bruder, dieser jedoch wirkte extrem genervt und wütend auf ihn. Er schloss die Augen und probierte, sich anscheinend zu beruhigen.
„Du bist hier immer noch nicht willkommen", schnaubte er.
Melcon oder Newton schnaubte zurück: „Das sagst du schon seit dem 17. Jahr der Herrschaft Karls, und inzwischen haben wir das 20. Jahr."
In welchem Jahr waren wir? Was war das überhaupt für eine Zeitangabe? Konnte man nicht nach Christus zählen? Ich konnte es einfach nicht einordnen. Vielleicht 1000 n. Chr. oder so. Aber keine Ahnung. Die sehen doch alle gleich aus. Jetzt komm schon, Mari, wach auf. Oder ja, etwas in die Privatsphäre eindringen ist das ja schon. Ich stecke im Körper einer anderen Person fest und beobachte Melcons früheres Leben. Gut, die Person heißt zufällig wie ich, aber ich will hier raus und nicht zusehen, wie die Mittagessen.
Brot. „Dürfte ich eure Tochter nach dem Essen mitnehmen?", fragte Melcon.
Die Mutter der Person lächelte strahlend. „Natürlich dürfen Sie Mariam mitnehmen."
Der Bruder schnaubte verächtlich. „Ich brauche Mariams Hilfe."
„Bei was denn bitte?", fragte Melcon mit amüsierter Stimme. Maze schaute mich hilfesuchend an. Aus meinem Mund kam: „Feldarbeit." Ich dachte, die Person wollte zusammen mit Mason sein? Ich geb's auf. Ich verstehe heute sowieso nichts. Warum war ich überhaupt hier?
„Ich schicke dir einfach jemanden, der dir hilft", sagte Melcon. Die beiden debattierten weiter. Jetzt werde wach aus deiner Ohnmacht! „Mariam!"
Ich zuckte zusammen. Meine Mutter schrie mich an. „Mariam, jetzt geh schon mit ihm!"
Maze rollte mit den Augen. „Ja, Mutter, jetzt schicke sie auch noch mit dem kriminellen Höllentaucher."
Melcon oder Newton zog mich raus. „Was hat dein Bruder gegen mich?"
Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht denkt er, du bist kriminell?"
Melcon lachte, ein fröhlicheres und ehrlicheres Lachen, als ich es je bei ihm gesehen hatte. Ich boxte ihn.
„Aua", sagte er gespielt. „Ich kann doch nichts dafür, wenn dein Bruder so paranoid ist."
Ich rollte mit den Augen. „Könntest du sehr wohl."
Er schmunzelte. „Stimmt, aber dann könnten wir jetzt nicht zusammen picknicken."
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