Picknick

Wir waren an dem Waldstück angekommen, zu dem er mich schon so oft geführt hatte – mit der Mauer, wo wir erst gestern gewesen waren. Warum führte er ein anderes Mädchen hierher? Warum schaute er sie so verliebt an? War ich vielleicht immer nur der Ersatz? Vielleicht war ich deswegen hier, um zu erkennen, dass ich für Melcon einfach nur eine von vielen war? Ich wollte weinen. Wieso weine ich jetzt?

Ich schaute auf meine Hand und bewegte sie langsam. Was war hier los? Soll ich mitspielen? Oder ...

„Mariam, ist alles in Ordnung?"

Was soll ich denn antworten? Ja, ich bin nur aus irgendeinem Grund nicht Mariam? Also nicht die, die du kennst? Er schaute mich besorgt an.

„Wir können auch zurückgehen."
„Nein, es ist alles in Ordnung", sagte ich.

Vielleicht konnte ich diesen Melcon doch ausquetschen. Konnte ich das? Du schaffst das. Vielleicht bekomme ich dann endlich meine Antworten.

Er lächelte verschmitzt und grinste. „Wenn alles gut ist, aus welcher bist du?"
Was meint er denn jetzt damit?
„Ich verstehe nicht."
Er lachte. „Aus welchem Jahrhundert kommst du, meine Liebe?"

Wie hatte er bemerkt, dass ich nicht seine Mariam war?
„Ich ... Wie kommst du darauf?"
Er lächelte immer noch warm, so viel entspannter als der Melcon, den ich kannte.

„Deine Augen glänzen schon so gelb, und man spürt, wie deine Begabung eingesetzt wird. Erst dachte ich, du wärst erwacht, aber mit 14 wärst du viel zu früh. Also?"

Ich dachte, die meisten Begabten erwachen mit 12? Wieso wäre dann 14 zu früh? Ich schwieg. Er sah mich nur erwartungsvoll an.

„2024 nach Christus."

„Ich werde mal nicht fragen, wie die Welt so ist. Wir sind hier im 20. Herrschaftsjahr von König Karl. Sagt dir wohl nichts. Christus war doch der Typ mit der Religion? Der ist ungefähr vor 700 Jahren oder so gestorben. Aber ich bin so unglaublich froh, dass du noch am Leben bist. Ohne dich könnte und würde ich gar nicht mehr leben wollen – du bist mein Ein und Alles, mein Licht in dieser Welt."

Das war, glaube ich, das Süßeste, was ich von Melcon je gehört hatte. Aber hier passte doch etwas nicht.

„Ich bin erst 16 in meiner Welt."

Sein Lächeln entglitt ihm kurz, aber es war fast sofort wieder da.
„Ich verstehe. Dann, wann hattest du deine Ukuvuka?"
„Meine was?"
Er schien meinen fragenden Gesichtsausdruck zu sehen.

„Dein Erwachen? Der Moment, in dem sich deine Fähigkeiten äußerlich gezeigt haben?"

Ich zuckte mit den Schultern. „Vor 7 Monaten? Ich weiß nicht mehr so genau."

Hatte ich es wirklich vergessen? Verdammt, ich hatte die letzte Zeit gar nicht mehr an Thomas gedacht. Wie ging es ihm? War er aus der Krankheit raus?

Melcon nickte jedoch. „Dann warst du wohl früh dran."

Ich schaute ihn fragend an. „Ich dachte, die meisten erwachen mit 12 oder 11 oder früher?"

Er schaute mich ungläubig an. „Wer hat dir denn das erzählt?"
„Alle, die ich kenne?"

Er schaute in den Wald hinein und schien zu diskutieren. Ich spürte Milan und Nolan.

„Was sagen die anderen beiden?"
Er seufzte. „Frag sie selbst."

Zwei durchsichtige Gestalten erschienen. Sie sahen aus wie die beiden, die ich kannte, nur mit älterer Kleidung. Seit wann konnten sie denn so erscheinen? Sie sahen jetzt vor allem wie normale Menschen aus.

Milan schaute mich mit mehr Selbstbewusstsein an. „Also, in deiner Zeit erwachen Menschen mit 12?"
Ich nickte. „Aber nicht nur Menschen. Auch die anderen Arten."

Nolan sah geschockt aus. „Bitte keine begabten Hexen."

Ich kicherte bei seinem Ausdruck. Er sah aus, als könnte er sich noch Schlimmeres vorstellen.

„Wir haben auch begabte Vampire, Wandler und Elfen."

Jetzt schauten sich die drei verwirrt an.
„Was sind Vampire?"

Jetzt schaute ich sie verwirrt an.
„Gut, wir wollen das nicht so genau wissen. Also, bei euch kann jeder ein Begabter werden?"
Ich nickte. „Und bei euch?"
„Nur Menschen. Das hat auch einen bestimmten Grund. Weißt du, sind es mächtige Elfen und Hexen und Wandler, die Begabungen bekommen?"

Ich dachte an Lisa, die ja immer sagte, sie sei eine schlechte Hexe, dann an Luna, die eigentlich nur ein Mensch war, der irgendwann als Vampir erwachen sollte, und an die anderen Begabten in meinen Kursen. Wenn sie übernatürliche Seiten hatten, waren sie schwächer als andere.

„Nein, es sind meistens die Schwächeren."

Jetzt äußerte sich Milan. „Vielleicht aktivieren sich die Begabungen deswegen so früh?"
Nolan schüttelte den Kopf. „Es würde sie trotzdem umbringen. Außer, die magische Gemeinde wäre so geschwächt, dass ..."

Er brach seinen Satz geschockt ab. Milan schien genauso geschockt.

„Kein Seytan würde das noch mal zulassen, dass sie ..." Er schaute zu mir. „... dass sie du-weißt-schon-was machen."
„Wenn die Seytane an der Macht wären, würde das stimmen. Also über was—"

Melcon schnitt mir das Wort ab. „Gut, wenn das so ist, musst du uns etwas ausrichten. Myeke. Bayophinde bazibhubhise bona kanye nabo bonke abanye. Khumbula okokugcina."

Und das soll ich mir merken? Ich könnte das doch nicht mal aussprechen.
„Gibt's das auch auf Deutsch?"

Jetzt schauten alle drei verlegen. „Naja, theoretisch schon, aber du darfst es nur Seytanen sagen."
Ich nickte.

„Halte sie auf. Sie werden auch sich selbst und alle anderen zerstören. Erinnere dich an das letzte Mal – Projekt 17 – und teile dies unbedingt auf unsere Sprache: ivusa izinkumbulo zami zokulala."

Das war auch gar nicht kryptisch. Mit „sie" war der Rat gemeint, aber wie zerstören sie die anderen? Und was meinte er mit dem letzten Mal?Und was hatte das alles mit dem Alter zu tun, in dem Begabte erwachten?

Doch plötzlich spürte ich, wie ich gewaltsam zurückgezogen wurde. So etwas hatte ich noch nie gespürt. Es war kein natürliches Aufwachen.

Ich öffnete die Augen, und mir begegneten die besorgten Blicke von Melcon und Maze. Julian wirkte wie immer hundemüde.
„Du solltest aufhören, so früh ohnmächtig zu werden. Ich musste dich gewaltsam rausholen."

Deswegen hatte es sich so komisch angefühlt.
„Stell dich nicht so an", schnauzte Melcon Julian an und wandte sich zu mir.
„Wie fühlst du dich?"
„Noch nie besser. Aber ich habe da mal eine Nachricht für dich."

Melcon schaute mich verwirrt an. Innerlich freute ich mich, endlich konnte ich ihn auch mal verwirren.
„Halte sie auf. Ich glaube, sie werden sich irgendwie selbst und andere zerstören. Erinnere dich an Projekt 17 – war es 17? – und dann ivusa izinkumbulo zami zokulala oder so."

Julian und Melcon sahen sich verwirrt an und schauten dann wieder zu mir.
„Was hast du gesehen?"

Melcon packte einfach meinen Arm und durchlebte meine Version? Mein Erlebnis? Wie man sowas auch nennt.
„Julius, ruf eine Besprechung an, und Maze, kümmere dich um Mariam", sagte er und verließ schnell den Raum.

Was war das denn jetzt? Maze sah auch nicht begeistert aus und ging ihm nach. Ich blieb – mal wieder – verwundert zurück. Ganz toll.

Diesmal jedoch wollte ich ihnen folgen. Doch meine Beine fühlten sich nicht nur an wie Pudding – sie waren Pudding. Ich fiel auf den Boden und probierte mich irgendwie festzuhalten, aber es war zwecklos. Verdammt. Warum fühle ich mich so schwach? Mein kompletter Körper fühlte sich einfach nicht richtig an. Vielleicht lag es an den Nachwirkungen des gewaltsamen Rausholens.

Ich versuchte, mich hochzuziehen, doch auch meine Arme fühlten sich so kraftlos an. Also legte ich meinen Kopf aufs Bett und hoffte, dass ich irgendwie wieder die Kraft hätte aufzustehen. Verdammt, komm schon. Verdammt, ich konnte es einfach nicht.

Muss ich jetzt wirklich wieder Melcon um Hilfe rufen? Ich spannte meine Muskeln an, doch nichts ging mehr. Warum bin ich nur so schlapp?

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