Ganz „normaler" Morgen

Neuer Morgen, neues Geschrei.
Ich wusste, Melcon war wahrscheinlich ziemlich streitlustig, aber konnte ich nicht ein einziges Mal normal aufwachen? Ich stand auf und dachte, dass ich wirklich mal fragen sollte, ob ich duschen und neue Kleidung haben könnte. Das wäre zumindest ein guter Anfang. Vielleicht frage ich Finn, wenn er wieder vorbeikommt.

Ich sah mich im Zimmer um. Es war relativ alt eingerichtet. In der Ecke stand ein großer Schrank, und das Bett, in dem ich geschlafen hatte, war ein Doppelbett. Mein Kopf begann plötzlich leicht zu schmerzen. Irgendwie kam mir dieses Zimmer bekannt vor. Hatte ich es irgendwo schon einmal gesehen? Das Stechen in meinem Kopf wurde immer schlimmer.

„Guten Morgen."
Ich zuckte zusammen und drehte mich schnell um. Melcon stand in der Tür und lächelte. „Wie geht's dir?"

Ich starrte ihn ungläubig an. Wenigstens war das Stechen in meinem Kopf verschwunden – was irgendwie seltsam war.

„Hast du... Lisas...?" begann ich vorsichtig. Doch plötzlich wirkte er angespannt. Melcon murmelte etwas Verlegenes und schaute weg. „Ja, aber ich habe ihn wieder angenäht", fügte er hinzu, als würde das irgendetwas besser machen.

Ich starrte ihn an, völlig sprachlos. Seit wann zeigte er ein Gewissen? Oder empfand er so etwas wie Reue? Oder sprach ich gerade mit Milan und hatte es nicht bemerkt?

„Wieso bist du so grausam?" fragte ich schließlich.
Ich wusste selbst nicht, warum ich nicht wütend oder verängstigt war. Aber Melcon würde mir nie wirklich etwas antun. Manipulieren, ja – aber niemals mehr als das.

„Es ist notwendig", antwortete er schlicht. „Aber du wolltest doch duschen und dir etwas anderes anziehen. Im Schrank sind Klamotten, und das Badezimmer ist gegenüber."

Ich wollte widersprechen, doch er hob schnell die Hand. „Bitte lass uns später darüber reden."

Na gut. Diskutieren brachte mit ihm wahrscheinlich sowieso nichts. Ich ging also zum Schrank und öffnete ihn. Die Tür quietschte, und innen war alles ein wenig verstaubt. Hinten im Schrank hingen extrem alte Kleider. Ich schaute über meine Schulter zu Melcon, der nur breit grinste.

„Hättest du auch was aus diesem Jahrhundert? Wem gehören diese Sachen überhaupt?" fragte ich.

Sein Grinsen wurde noch breiter. „Die Kleider sind, glaube ich, aus dem 18. Jahrhundert. Einige sind sogar noch aus dem 16."

Wow. Alte, staubige Kleidung. „Habt ihr vielleicht Jeans und ein T-Shirt?"

Er schüttelte den Kopf, trat näher, griff über mich hinweg und zog ein Kleid hervor. Es war bodenlang, aus feiner weißer Seide, mit einem eng geschnürten Mieder, verziert mit zarten Stickereien. Die weiten Ärmel und der üppige Rock wirkten kunstvoll, während der steife Kragen eine gewisse Eleganz ausstrahlte – ein Kleid, wie es im Adel getragen wurde.

„Das trägt doch niemand im Alltag", murmelte ich. Doch Melcons Blick ruhte einfach auf dem Kleid, und er lächelte träumerisch.

„Würdest du es bitte anziehen?" fragte er schließlich.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich trage nur Kleidung aus diesem Jahrhundert."

Er schaute mich schmollend an. „Es ist doch nur vierhundert Jahre alt!"

Ich warf ihm einen finsteren Blick zu. Schließlich seufzte er. „Gut, ich schau, ob ich etwas anderes finde. Geh du erst mal duschen."

Ich hätte meine Sachen lieber vorher gehabt, aber gut – die Dusche war dringend notwendig.

Melcon begleitete mich ins Bad. „Hier sind die Handtücher", sagte er und zog eine Schublade auf. „Und der Rest steht in der Dusche." Dann öffnete er noch einen Schrank und reichte mir eine eingepackte Zahnbürste. „Falls du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Brauchst du sonst noch etwas?"

„Einen Schlüssel, um abzuschließen."

„Den bekommst du nicht. Keine Sorge, das ist mein privater Bereich. Hier kommen nur fünf Leute rein – Finn, Ren, Maris, Leonardo, Julius und ich. Und sie werden hier sicher nicht auftauchen."

Ich hätte trotzdem lieber abgeschlossen, aber bevor ich etwas sagen konnte, war Melcon bereits verschwunden. Ich seufzte, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Das tat gut.

Als ich herauskam, waren meine Sachen verschwunden. Stattdessen lag nur das weiße Kleid da, zusammen mit einem Zettel in krakeliger Schrift: „Sorry, habe nichts anderes gefunden."

Natürlich. Ich hätte es mir denken können. Ich zog das Kleid an, auch wenn es unbequem war. Die Schnüre an der Seite machten es kompliziert, aber plötzlich erschien ein kleines Lichtlein, das mir beim Anziehen half.

Ich sah in den Spiegel und erschrak. Ich sah aus wie das Mädchen aus meiner Vision. War das Melcons Absicht gewesen?

Ich ging die Treppe hinunter und fand Melcon mit einer anderen Person – einem jungen Mann. Warum war ich nicht einfach oben geblieben? Jetzt hatte er mich bemerkt, und der junge Mann drehte sich ebenfalls zu mir um. Ich erstarrte, und auch er schien geschockt zu sein.

Er wirkte kräftig und zäh, mit sonnengebräunter Haut und Schwielen an den Händen, die auf harte Arbeit hindeuteten. Seine Kleidung war schlicht und abgetragen.

„Mariam?" flüsterte er ungläubig.
„Maze?"

Der Name schoss aus meinem Mund, bevor ich ihn zurückhalten konnte. Doch wer war er? Woher kannte ich ihn?

Plötzlich explodierte mein Kopf vor Schmerz. Erinnerungen, die nicht meine eigenen waren, schossen durch meinen Verstand:

Oft gingen wir früh am Morgen hinaus, noch bevor die Sonne richtig aufgegangen war. Maze trug einen Korb für Pilze, während ich ihm folgte und versuchte, genauso leise zu sein wie er. Einmal entdeckte er ein Kaninchen in einer kleinen Senke. Er legte den Finger an die Lippen, und wir schlichen uns so nah heran, dass wir fast seinen Atem sehen konnten, bevor es davonhoppelte.

Nach der Arbeit auf dem Hof fanden wir immer Zeit zum Spielen. Maze baute kleine Boote aus Rinde, und wir ließen sie im Bach treiben. Er war immer der Anführer, derjenige mit den Ideen. Ich folgte ihm überallhin, sicher, dass er mich beschützen würde.

Ich kehrte in die Realität zurück, doch die Bilder ließen mich nicht los. Es fühlte sich so real an, so vertraut. Tränen standen in Maze' Augen, und er sah mich an, als hätte er einen Geist gesehen.

„Du weißt, wer ich bin?" fragte er leise.

Ich nickte, obwohl ich selbst nicht verstand, warum. In meinem Kopf herrschte ein Sturm aus Erinnerungen, Gefühlen und Schmerz. Es war, als ob mein Verstand versuchte, etwas zu verarbeiten, das ich nicht begreifen konnte.

„Mariam... ich habe dich so lange gesucht..." Seine Stimme brach, und er wollte einen Schritt auf mich zugehen, doch ich wich instinktiv zurück.

Melcon beobachtete uns schweigend, doch in seinem Blick lag etwas, das ich nicht deuten konnte – Zufriedenheit? Berechnung?

„Was ist hier los, Melcon?" fragte ich schließlich und drehte mich zu ihm. Meine Stimme klang härter, als ich erwartet hatte.

Er lächelte nur schwach. „ Manchmal muss man eben etwas radikaler sein"

Ich schüttelte den Kopf, verwirrt und frustriert. „Das ergibt keinen Sinn! Maze... wieso erinnere ich mich an dich? Ich kenne dich doch gar nicht!"

„Doch", sagte Maze leise. „ Aber ich... ich habe dich im Stich gelassen."

Die Schmerzen in meinem Kopf wurden unerträglich, und ich fiel auf die Knie. Es war, als würde etwas in meinem Inneren zerbrechen und gleichzeitig neu geformt werden. Stimmen und Bilder tanzten vor meinem inneren Auge – eine andere Zeit, ein anderes Leben.

Ich schrie. Es war zu viel. viel zu viel

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top