3. Maurice Dubois

Die Worte aus der Karte begleiten mich den ganzen Tag über. Sogar während des Ausfluges in den Park mit meinen Großeltern schaffe ich es nicht, sie aus dem Kopf zu werfen. Als ich mich nachts dann in mein Bett lege, kann ich auch nicht einschlafen, doch etwas anderes habe ich nicht erwartet. Dieser Jaques weiß jetzt wahrscheinlich alles über mich. Wie wär's mit ein bisschen Privatsphäre? Aber... so etwas kennt er bestimmt gar nicht. Das Einzige, wo ich mir hundertprozentig sicher sein kann, ist, dass er die Informationen nicht in meinem Kopfgelesen hat. Ich habe zwar nie einen Vampir danach gefragt – so blöd bin ich nicht, ich brauche kein Vampirheer vor meinem Fenster, das mich gern umbringen würde – aber gewisse andere Bekannte lassen sich ebenso als vertrauenswürdige Quellen bezeichnen.

Aber da wäre ich zurück bei der Frage, welche Feinde ich denn hätte. Vampire sind listig, woher soll ich wissen, dass mich Jaques nicht einfach auf seine Seite bringen möchte? Ich habe zwar keine Vorstellung davon, wofür – ich besitze keinen Tropfen Macht in ihrer Welt –,aber heißt es nicht immer, Vampire würden große geheime Ziele verfolgen? Hört sich nach Kindergarten an. Feinde... diese Zeit ist schon längst vorbei.

Ich schaue das letzte Mal auf mein Handy, dessen Helligkeit mich für einige Augenblicke blendet. 02:31. Eine Whatsappnachricht. Max...! Wir müssen morgen arbeiten, warum schläfst du denn nicht?! Ich entsperre meinen Bildschirm.

Hey Lyssi! Sry, dass ich jetzt so spät schreibe, aber hättest du morgennach der Arbeit vlt Zeit?

In der Küche herrscht immer so viel Tumult – ich verstehe gar nicht, wie er nach seiner Schicht überhaupt noch Kraft hat, irgendwohin zu fahren.

Klar!, antworte ich, mache das WLan aus, lege mein Handy weg und drehe mich zum Fenster um. Ich soll Feinde haben? Von mir aus. Es gibt keinen Grund, mich zu ängstigen, denn bis jetzt habe ich schließlich auch überlebt, obwohl ich mich nicht so passiv den Nicht-rein-menschlichen gegenüber verhalten habe. Außerdem habe ich ausreichend Kontakte, die ich gegebenenfalls um Hilfe bitten kann.


Als ich am Morgen auf dem Weg zum Restaurant bin, meldet sich das Kribbeln in meinem Kopf und breitet sich als spinnenartige Gänsehaut über meinen ganzen Körper aus. Irgendwas stimmt hier nicht. Es ist mir nicht bekannt, wer in meiner Nähe ist, doch er folgt mir den ganzen Weg lang und diese Tatsache stört mich. Ich sehe mich mehrfach um, doch meine Augen stellen keinen Nicht-rein-menschlichen fest, durch den ich das äußerst unangenehme, aber gewöhnliche Gefühl in mir hätte bekommen können.

Und dann, als ich schon nicht mehr erwarte, den Störfaktor ausfindig zumachen, rumpelt mich an einer Ampel gegenüber dem Italiener ein Mann an und es durchzuckt mich wortwörtlich. „Warten Sie!", rufe ich aus und laufe ihm hinterher, wobei ich mich von meinem Ziel leider abwenden muss.

Etwas abseits der Straße bleibt der Mann schließlich stehen und dreht sich zu mir um. Es ist nicht Jaques, das habe ich bereits an seiner Statur festgestellt. Der Mann ist etwas kleiner, schlanker, hat haselnussbraune Augen, die mir bei derzeitigem Lichteinfall sofortdurch ihre Leuchtkraft auffallen, einen Stoppelbart und hellbraune Haare. Außerdem trägt er wohlgemerkt keinen Hut, der sein halbes Gesicht verdeckt. Und auch keinen langen, schwarzen Mantel, sondern einen völlig gewöhnlichen Pullover. Er blickt mir ruhig entgegen und hatte offenbar schon von Anfang an vorgehabt, mich auf ein Gespräch unter vier Augen zu locken. Soweit es jedenfalls mitten auf der Straße geht. Was ist er? Warum weiß ich nicht, was er ist?!

Anstatt länger in seinem Gesicht zu forschen und auf eine Antwort von meinem Körper zu warten, entscheide ich mich, es einfach direkt zu fragen. Ich hasse Ratespiele. „Was sind Sie?"

Ein sachtes Lächeln umspielt seine Lippen. „Ich habe gehört, Sie könnten das selbst bestimmen."

Ichschnaube. Dieses Arschloch hat eindeutig etwas mit Vampiren am Hut. Bin ich zufällig ein Pechvogel? Vampire sind das Letzte, was ich zurzeit brauche. Ich habe doch überhaupt keine Erfahrung mit ihnen. „Nun, nicht wenn ich das Wesen nicht kenne. Also nochmal: Was sind Sie? Sie können kein Vampir sein, aber etwas nicht allzu weit Entferntes sind Sie durchaus. Ah, und was noch interessanter wäre: Was wollen Sie von mir?"

Das Lächeln wird deutlicher. Der Mann wirkt nun sehr zufrieden und dann nickt er leicht. „Man hat mir aufgetragen, Ihnen nicht zu verraten, was ich bin. Es tut mir leid. Aber ich bin begeistert."

Ich stocke. Was heißt, man habe ihm aufgetragen, es mir nicht zu verraten? Wer?

Ich schiebe meinen linken Jackenärmel zurück und werfe einen Blick auf die schwarze Armbanduhr. Noch habe ich Zeit. „Wer sind Sie? Für wen arbeiten Sie und was wollen Sie von mir?"

Lässig steckt er die Hände in die Taschen seines Pullovers. „Auch hat man mir gesagt, Sie würden sich nicht für unsere Welt interessieren. Aber das war wohl eine Fehlerquelle." Ein sachtes Schulterzucken. „Welche Meister kennen Sie? Ich bin mir nicht sicher, ob meine Antwort Ihnen etwas bringt."

Soweit ich weiß, nennen Vampire ihre... uhm... Herrscher Meister. Aber ich kenne keinen, weder vom Hören noch vom Sehen. Den Begriff habe ich aber auch schon aus dem Mund einer Hexe und dem eines Magiers gehört. Mir bekannte Werwölfe pflegen ihren Rudelführer anders zu bezeichnen, Ulfrig nennen sie ihn, doch manchmal ist ihnen im Gespräch mit mir auch Meister über die Lippen gerutscht. Und dass ich mich nicht mehr einmische, bedeutet noch lange nicht, dass ich mich nicht interessiere. Es steht nur nicht in meinen Plänen, ständig in Schwierigkeiten zu stecken, wie es der Fall war, als ich sechzehn wurde. Zu der Zeit war ich voll in dem Übernatürlichen drin, dafür aber wusste noch keiner von mir Bescheid. Na ja, ein paar Jahre lang. Ich rate bis heute, wie ich überhaupt überlebt habe. Ich hatte niemanden auf meiner Seite und auch keinen blassen Schimmer, wie ich meine Fähigkeiten beherrschen sollte. Wahrscheinlich bin ich noch am Leben, weil ich mit sechzehn alles war, nur nicht schlau.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ihre Taktik ist gut, doch mir ist bewusst, dass Sie sowohl mein Wissen als auch mein Unwissen gegen mich anwenden können. Sagen Sie einfach, wer Sie geschickt hat. Tatsächlich habe ich ausreichend einflussreiche Kontakte in der Hinterwelt."

So kenne ich beispielsweise die Meisterin der weißen Hexen von New York. Ich hatte die Ehre, Jocelyne oft genug zu treffen, doch in den letzten zwei Jahren – seit ich eben mein Leben im Griff habe – haben wir uns nicht mehr gesehen. Das stört mich kein bisschen. Ich bin gar nicht erpicht darauf, sie auch nur noch einmal zu besuchen. Jocelyne ist eine Führungskraft und das bedeutet, dass sie knallhart sein muss. Und wer sich jahrzehntelang knallhart gibt, vergisst, wie es ist, mal weich zu sein und anderen das Wort und den Willen zu lassen. Kann ich vollkommen nachvollziehen, heißt aber nicht, dass ich mich damit zufriedengebe.

Zudem habe ich viel vom Führer des Weißen Rudels gehört. Mein Bekannter Liceu, den ich an der Uni kennengelernt habe, gehört ihm an. Wie er mir erklärt hat, entstehen Rudel für gewöhnlich – was heißt für gewöhnlich, es ist immer der Fall – nicht durch das Beitreten von Mitgliedern mit gleicher Fellfarbe. Doch der Weiße Rudel spricht bereits für sich. Liceu hat auch irgendwas von wegen im Gegensatz zu Vampiren gesagt, doch diesen Einschub verstehe ich bis heute nicht. Vampire haben kein Fell und wenn sie durch Haarfarbe an einem Meisterfesthalten würden... Jedenfalls ist das der komplette Schwachsinn. Außerdem weiß ich, dass Vampire an ihren Meister gebunden sind, weil er sie gewandelt hat. Dabei endet aber auch mein Wissen über Vampire, da niemand von meinen nicht-rein-menschlichen Bekannten jemals über sie sprechen wollte. Drücken wir es mal so aus: sobald ich damit anfing, hieß es VAMPIRE???!!!.Bei Liceu kann ich das ja noch nachvollziehen, Werwölfe und Vampire sind verfeindet. Doch wenn ich diesen Ausruf von einem Magier höre, der sich beinahe auf Meisterniveau befindet...

Der Mann, der sich mir übrigens noch immer nicht vorgestellt hat, nickt kalt. Und es ist nicht sein Auftreten, das mir dieses abweisende Gefühlgibt, sondern seine eigene Gefühlslage. „Eine sehr geschickte Antwort, Madame. Ich stelle die Frage anders: Haben Sie Bekanntschaft zu Meistervampiren genossen?"

Seine aufgeblasene Art ist mir alles andere als angenehm. Ich kann Nicht-rein-menschliche nicht ausstehen. Was ich mich jedoch frage, ist, ob Jaques ein Meistervampir sein könnte. Soweit mir bekannt, laufen Meister nicht einfach so in der Stadt herum. Alle Meisterhaben Gefolgsleute, die ihre Angelegenheiten für sie erledigen. Von daher könnte Jaques einem von ihnen angehören. Aber apropos Gefolgsleute. Ist dieser Mann vielleicht...

„Nicht, dass ich wüsste." Ich zucke mit den Schultern.

Das mittlerweile starre Lächeln auf dem Gesicht des Mannes verändert sich und hätte ich nicht darauf geachtet, hätte ich wie alle anderen Menschen die Mimik ignoriert, mir wäre es nicht aufgefallen. Er scheint etwas zu wissen, was mir unbekannt ist. Aber hallo, das ist doch klar! Ich kann nicht einmal mit Sicherheit sagen, was er für ein Wesen ist!

„Verzeihung, wie spät ist es?", fragt er plötzlich.

Verwirrt schaue ich erneut auf meine Uhr. „Acht Uhr sechsundzwanzig. "Mist, ich muss in vier Minuten im Restaurant sein. Aber ich kann hier nicht einfach mit tausend Fragen und dem Gewissen, den Mann nie wieder zu sehen, zur Arbeit los. „Müssen Sie jetzt gehen?"

„Nicht wirklich. Aber Sie, habe ich Recht?"

Ich setze einen sturen Blick auf. „Nicht bevor ich erfahren habe, wer Sie sind – ich meine Ihren Namen – und was Sie oder Ihr Meister, oder in wessen Auftrag auch immer Sie hier sind, von mir wollen." Wenn ich möchte, kann ich richtig bockig sein. Und die Sturheit endet erst dann, wenn mein blöder Kopf kapiert, dass die Situation gefährlich wird. Was im Moment nicht der Fall ist, denn der Mann wirkt immer noch freundlich.

Er nimmt die Hände aus den Taschen und reicht mir eine. Ich gebe ihm meine, doch statt dem Händeschütteln folgt etwas anderes. Er dreht sie um und beugt sich vor, wie um meinen Handrücken zu küssen. Seine Augenschauen plötzlich sehr eindringlich in meine hoch und blitzen für eine Sekunde lila auf. Am liebsten hätte ich geblinzelt, doch ich kann den Blick nicht von dem Mann abwenden. Als würde er mich hypnotisieren. Vielleicht stimmt das ja sogar. „Mein Name ist Maurice Dubois." Auf einmal klingt er wie ein französischer Tourist. „und ich verspreche Ihnen, dass wir uns wiedersehen werden."


Und dann tut er genau das, was ich nur scherzhaft gedacht habe. Er senkt den Blick und küsst meinen Handrücken. Diese Geste ist so unpassend in unserer Zeit, so unpassend zu seiner Kleidung und dem Umgang anderer mit mir, an den ich so gewöhnt bin, dass ich vor Überraschung und Verlegenheit erstarre und dem Mann nur beim Weggehen zusehe. Bis ich mich daran erinnere, dass ich gleich zu spät zur Arbeit komme! Ich stürme los.

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