2. Der Brief 1

Meine Wochen vergehen ganz einfach: Montag bis Freitag, von neun bis fünfzehn Uhr arbeite ich im Restaurant, dann gehe ich am Nachmittag einkaufen, jogge mehrere Runden im Park und versuche, mich abends mit einer Tasse Tee zu Hause vor dem Übernatürlichen zu verstecken. Der Samstag ist mein Shopping- und Freundetrefftag und ich habe mich bereits mit meinen besten Freundinnen verabredet, bei mir etwas Wein zu trinken, Sushi zu bestellen und kitschige Liebesfilme zu schauen. Manchmal muss man einfach abschalten können und den ganzen Quatsch vergessen, der sich um einen dreht.

Bettany beendet zurzeit ihr Medizinstudium und versucht nebenbei, in ihrem Job als Aushilfe im örtlichen Krankenhaus Ansehen zu erlangen. Ihre Mitarbeiter benehmen sich ziemlich grässlich ihr gegenüber, doch sie wird sich nicht unterkriegen, da bin ich mir völlig sicher. Ihre Kindesjahre als Gymnastiktänzerin haben sie Standhaftigkeit gelehrt und jetzt geht es nur voran, die Ziele zu erreichen. Ich kenne sie seit der High-School und mit jedem Jahr ist sie nur stärker geworden.

Caroline hat dagegen ein Studium zum Architekten abgeschlossen, arbeitet gerade für eine große Firma, die vollkommen irrsinnige Gebäude in ganz USA errichtet, und verkauft eigene Gemälde auf Etsy. Ich beneide sie um ihre Fähigkeit, so wundervoll mit Farben und Stiften umzugehen, denn ich selbst kann nur digital zeichnen – und sogar da finde ich mich nicht besonders toll. Carol aber ist die talentierteste Zeichnerin aus meiner Uni, die ich je kennenlernen durfte.

Die beiden sind mir ans Herz und Seele gewachsen, doch ich bringe es bis heute nicht über mich, ihnen von meiner Fähigkeit und von der Hinterwelt zu erzählen. In mir wohnt die Angst, dass dann etwas geschieht...wofür ich mich mein ganzes Leben verfluchen würde. Und ich weiß nicht, woher diese Furcht kommen mag.

„Und wisst ihr, da traut er sich noch, mir zu schreiben! Wir haben uns seit der High-School nicht mehr gesehen – ich verstehe nicht, was er von mir erwartet. Dass ich ihm in die Arme laufe und schreie, wie sehr ich ihn und unsere Beziehung doch all die Jahre vermisst habe?! Meint ihr, es ist berechtigt, ihn zu blockieren?" Bett kommt wie immer sehr schnell auf ihr Liebesleben zurück, anstatt sich den Kopf über die Arbeitsprobleme zu zerbrechen. Das ist mein Mädchen, so ist das richtig.

Carol nickt schnell. „Ja, mach das sofort. Ich sag dir, ich hatte bis jetzt zwar nur eine Beziehung, doch seitdem Jon wusste, dass mir ein Kommilitone sympathisierte, hat er sich wie ein verdammter Stalker benommen bis ich ihn zum Teufel geschickt habe, weil er angefangen hat, mich wieder anzurufen."

„Oh ja", stimme ich zu. „Den Männern musst du alles eindeutig und voller Bestimmtheit sagen – Andeutungen gibt es in ihrer Welt wohl nicht."

So läuft das immer bei uns. Nach einiger Zeit fangen wir an, über die Zukunft nachzudenken, über Veränderungen, die wir auf jeden Fall noch durchmachen wollen, und ein Leben, das uns nur in Träumen wahr erscheinen kann. Manchmal braucht man so etwas. In solchen Momenten vergesse ich immer, wer und wo ich bin, dass um mich herum so viele Nicht-rein-menschliche sind und dass diese Art von Leben für mich leider immer unter Normalität fallen wird. In solchen Momenten wünsche ich mir jedes Mal, ich könnte meine Fähigkeit wie Kleidung ablegen.

„Wie geht's eigentlich deinem Vater?", frage ich und schaue Carol an.

Sie nimmt einen großen Schluck Wein aus ihrem Glas und seufzt betrübt. „Er kämpft. Aber der Krebs kämpft halt gegen ihn. Wir hoffen alle, dass die Chemo was bringen wird. Er sieht so schwach aus, dass ich nicht zu ihm schauen kann, wenn meine Mom und ich ihn besuchen kommen. Aber er lächelt immer und streichelt meine Hand. Ich habe mich schon daran gewöhnt, Mädels. Irgendwann wird er wieder nach Hause kommen."

Ich greife nach ihrer Hand und drücke sie leicht. Bett legt ihr den Arm um die Schultern und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

„Er wird es schaffen.", versichere ich ihr. So denke ich das auch.

„Die Medizin ist heutzutage hochentwickelt und vor allem wir hier in New York haben eine große Möglichkeit, gesund zu werden und es auch zubleiben. Ich spreche aus Erfahrung, das weißt du.", fügt Bett aufrecht hinzu.

Wir quatschen so lange, bis uns die Lider zufallen und wir schließlich zwischen Schokolade, Gummibärchen und Chips auf meinem Bett einschlafen. Samstag – mein allerliebster Tag. Ein Tag, wo ich einfach nur ein gewöhnlicher Mensch sein kann.

Am nächsten Tag frühstücken Bett, Carol und ich zusammen im gemütlichen Café gegenüber meinem Haus. Gegen zwölf verabschieden wir uns voneinander und ich kehre in meine kleine Wohnung zurück, um den Tag wie gewohnt zur Erholung zu nutzen, soweit es zumindest geht. Manchmal kommt auch etwas dazwischen. Genauso wie heute.

„Lyssi, würdest du bitte bei uns vorbeikommen? Es ist so ein schöner Tag, den darf man doch nicht zu Hause absitzen." Meine Oma ist zwar schon alt, doch sie ist verhältnismäßig wahrscheinlich sogar sportlicher als ich. Sie hält den Tag für verschwendet, wenn man nicht mindestens einmal rausgegangen ist. Dadurch war ich in meiner Kindheit ständig mit meinen Großeltern unterwegs, während sich meine Eltern täglich in ihren Büros verbarrikadierten. Und irgendwie blende ich immer die Nicht-rein-menschlichen aus, wenn ich bei meinen Großeltern bin.

„Ja, natürlich. Ich mache mich schon fertig." Ich lege das Handy beiseite, schalte meinen Laptop aus, ziehe mich um, packe die Tasche und verlasse meine süße Einzimmerwohnung im siebten Stockwerk.

Meine Großeltern wohnen am anderen Ende der Stadt und ich muss leider viel fahren – vor allem durch das Zentrum. Genau dort wird das Kribbeln auf meiner Haut am stärksten. Wie immer. Ich ignoriere es mit selbstbewusst erhobenem Kinn und weiß, dass ich damit gleichzeitig ein Zeichen dafür gebe, dass ich ihn wahrnehme. Ihn. Mit einer plötzlichen Woge kriecht dieses Kribbeln hoch zu meinem Kopf, als würde es das habe ich gesehen sagen. Ich laufe kochend ein wenig weiter auf die Bushaltestelle zu, knurre dann und bleibe schließlich mit verschränkten Armen mitten auf dem Weg stehen.

„Dann haben Sie mich also doch bemerkt.", ertönt eine männliche Stimme. Die männliche Stimme.

„Jaques, langsam stressen Sie aber.", entgegne ich. Dass ich als Mensch so frech zu einem Vampir bin, liegt nur daran, dass ich erstens tatsächlich genug von ihm habe und es zweitens leid bin, ständig Angst zu haben. Außerdem ist es Jaques. Er war schon immer mein Stalker gewesen, doch er hat sich noch nie wie mein Mörder aufgeführt, weshalb ich irgendwann die Ehrfurcht vor ihm verloren habe. Ich weiß, das könnte irgendwann sehr gefährlich für mich werden, da er schließlich ein Vampir ist... Bis jetzt habe ich diese Tatsache aber erfolgreich ignoriert.

„Ich möchte Ihnen nur Gesellschaft leisten auf Ihrem langen, einsamen Weg." Er tritt um mich herum wie ein Panther, sodass ich jetzt sein scheinheiliges Lächeln zu Gesicht bekomme. Der Rest bleibt im Schatten seines Hutes verborgen und mir dadurch erspart. „Sehen Sie ein, Sie sind völlig schutzlos und wenn Sie jemand angreifen sollte, werden Sie zugrunde gehen."

Ich verdrehe die Augen. Ich bin nicht schutzlos! „Danke, dass sie so optimistisch denken. Und jetzt verraten Sie mir mal, warum mich jemand angreifen sollte. Auch noch mitten in der Stadt am helllichten Tag. Ich weiß nämlich nichts davon, dass ich Feinde hätte." Er dreht sich elegant und ein bisschen zu schnell um und tut, als würde er nach jemandem Ausschau halten. Es vergeht ein Augenblick, ein zweiter, ein dritter. „Und? Wie sieht's aus?"

„Gewiss haben Sie Feinde, jeder hat sie." Sein Ton wirkt beinahe schon beiläufig. „Und Sie sind ziemlich bekannt unter uns, auch wenn Sie nichts davon mitkriegen."

Ich –bekannt? Ich ignoriere die meisten nicht-rein-menschlichen Wesen, ich mache mit Absicht weiter, als würde es sie nicht geben. Ich habe gar nichts mehr mit ihnen zu tun, ich helfe ihnen nicht, ich störe sie nicht. Und das ist auch das Einzige, was ich für oder gegen sie tun möchte. Ich habe mich vollkommen von dieser Seite der Welt abgeschottet. „Weil ich euch erkenne, oder was?" Ich funkele ihn böse an und auch wenn er es nicht direkt sieht, müsste der Vampires ganz bestimmt spüren. „Wissen Sie, ich hab nicht danach gebeten– ich meine mein Gespür. Ich will mich in eure Welt nicht einmischen, also seid ihr mal alle so gütig und lasst mich in Ruhe."

„Warum sprechen Sie denn in Mehrzahl, Schätzchen?"

Will er mich eigentlich verarschen? Er weiß doch besser als ich, dass sich hier auf dem Platz eine Menge seiner Leute befindet, die unser Gespräch allesamt aufmerksam mitverfolgen. Und wer zur Hölle hat ihm erlaubt, mich Schätzchen zu nennen?!

Mein Körper ist schneller als mein Verstand und so schießt meine rechte Faust bereits hervor, bevor ich es realisiert habe. Doch diese Gestalt, die vor mir stand, in einem langen Sommermantel, einem stylischen Anzug, teuren polierten Schuhen und mit einem dunklen Hut auf dem Kopf, ist in einem Herzschlag schon verschwunden.

„Wie leichtsinnig.", lacht Jaques leise in mein Ohr. „Vergessen Sie nicht Ihre Vergangenheit."

Meine Vergangenheit? Ich wirbele herum, aber niemand steht hinter mir. So etwas macht er draußen ständig! Als würde er mit mir wie mit einem Welpen oder kleinem Kind spielen. Vielleicht kann er sich auch nicht zu lange in der blendenden Sonne aufhalten. Soweit mir bekannt, ist es kein Klischee, dass Vampire tagsüber eigentlich schlafen. Wenigstens muss ich Jaques dadurch nicht lange ertragen.

Den Rest des Weges spüre ich ihn nicht in meiner Nähe, bin aber ziemlich aufgewühlt, da sich zu viele Nicht-rein-menschliche um mich herum aufhalten. Habe ich ehrlich Feinde? Und wenn ja, wann werden sie angreifen? Wie soll ich mich überhaupt schützen? Ich bin gezwungen, viel unterwegs zu sein. Und ich hatte keinen Selbstschutzkurs besucht. Na ja, nicht direkt. Wie dem auch sei, ich bin schon längst aus der Übung und sollte mich tatsächlich jemand unvorbereitet angreifen, bin ich geliefert. Es sei denn, dieser Jaques d'Argent schnuppert wie auch sonst in meiner Nähe herum und ist wirklich bereit, mich zu beschützen. Aber warum sollte er? Wir kennen uns nicht einmal richtig, ich hatte ihm auch noch nie geholfen und habe es in Zukunft ebenfalls nicht vor. Ich nehme allein seine Bestellungen im Restaurant auf. Und was meinte er damit, ich solle meine Vergangenheit nicht vergessen?

Bei meinen Großeltern angekommen, trinke ich erst einmal ein Glas Wasser, da es draußen langsam heiß wird und ich komplett ausgedurstet bin. Als ich dann ins Wohnzimmer zu meiner Oma trete, reicht sie mir eine weinrote Rose. „Die hat mir heute ein Postbote gebracht. Ich habe mich zuerst gewundert, wer mir denn noch Rosen zuschicken könnte –von deinem Opa kann ich das ja längst nicht mehr erwarten! –, aber dann habe ich deinen Namen vorne auf der Karte gesehen."

Sie dreht die Blume und zeigt mir die geschwungene, goldene Aufschrift auf der Karte.

Alyssa Shivens

Das bin ja wirklich ich! Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Wer will mich durch die Adresse meiner Großeltern erreichen und warum?

Ich nehme vorsichtig die Rose aus den Händen meiner Oma und öffne die Karte, während sie sich umziehen geht.

Es ist ein gutes Gefühl, mich nicht geirrt zu haben, Alyssa Schätzchen. Seien Sie vorsichtig. So leicht, wie ich mich über Sie informieren konnte, können sich auch andere Informationen verschaffen.

JdA

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