1. Jaques d'Argent
Als kleines Mädchen mit klischeehaften zwei blonden Zöpfen und blauen, verspielten Augen hatte ich immer riesige Angst vor dem Übernatürlichen – allein die Erwähnung von Geistern, Vampiren oder Hexen konnte mich zum Heulen bringen. Nach zwanzig Jahren mittlerweile nicht mehr. Nach zwanzig Jahren sollten sie sich mal Sorgen machen. Woran mein Selbstbewusstsein liegt? Tja. Und das Beste ist, die meisten Nicht-rein-menschlichen schlagen tatsächlich einen Bogen um mich. Sie spüren mich und ich...
Aus der Außenwelt werden hohe Glocken hörbar. Ich blicke von dem Weinglas hoch, das ich gerade mit einem kleinen weißen Tuch poliert habe, und sehe wie erwartet die Eingangstür sich schließen. Aufgrund der frühen Tageszeit befinden sich nur wenige Gäste in dem ruhigen Restaurant. Der Neuankömmling bewegt sich aber auf einen bestimmten Tisch zu und ragt dabei auch noch eindeutig aus der Menge heraus. Wenn seine Kleidung ihn nicht verraten hätte – er trägt einen großen, schwarzen Männerhut, einen schwarzen, etwas dickeren Mantel und einen schwarzen, wohl maßgeschneiderten Anzug –, dann wäre es das Kribbeln, das sich jetzt über meine Haut ausbreitet. Meine Güte, und ich hatte noch gehofft, dass es heute ruhig bleibt! Jede Woche das Gleiche...
Stumm stelle ich das glänzende Weinglas hinter die Theke, nehme eine Menükarte und laufe auf ihn zu. Der Mann würdigt mich keines Blickes und gibt stattdessen vor, beschäftigt mit seiner Kleidung zu sein. Ich lege die Speisekarte – ein dünnes, längliches Büchlein – vor ihm auf dem Tisch ab und beuge mich dadurch nah an sein Ohr vor. „Ist es Ihnen im Sommer nicht ein wenig zu warm in dieser Aufmachung?", frage ich leise mit höflicher Freundlichkeit.
Der Mann nimmt die Karte langsam in seine Hände und öffnet sie. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln. „Nein, Schätzchen, ich fühle mich ausgezeichnet gut. Aber vielen Dank für Ihre Sorge um mein Wohlergehen."
Ich beiße die Zähne zusammen und zwinge meine Lippen zum Lächeln. „Ich dachte, die Sache mit dem Spritznamen hätten wir bereits hinter uns.", erwidere ich noch immer so leise, dass die anderen Gäste durch unsere Unterhaltung nicht gestört werden sollten. Es muss aussehen, als würde ich seine Fragen zu der Bestellung beantworten.
Der Mann schnaubt und ich deute es als sein selbstgefälliges Lachen. „Das habe ich, ehrlich gesagt, auch angenommen.", pflichtet er mir bei, doch es ist noch lange keine Zustimmung. Dafür kenne ich ihn zu gut. Dieser junge Herr vor mir ist mein alter Bekannter. Und zudem ein Vampir... Jaques d'Argent. Ja, welch eine Ironie, wenn man bedenkt, dass argent vom Französischen als Silber übersetzt wird.
An dieser Stelle ist noch wichtig zu erwähnen, dass er zwanghaft zu meinem Bekannten wurde. Seit er einmal in das Restaurant gekommen ist, sehe ich ihn immer wieder irgendwo in meiner Nähe. Wobei spüren da eher passt. Zu den Nicht-rein-menschlichen entwickele ich nämlich ein ganz bestimmtes Gefühl, je öfter ich ein und denselben treffe. Und dieser Vampir hat sich in den zwei Jahren bereits zu gut in meinen Sinnen eingeprägt. Soll er doch bitte endlich verrecken.
„Aber ich glaube, wir sehen die Lösung Ihres kleinen Problems aus unterschiedlichen Blickwinkeln.", fügt Jaques hinzu und hebt den Blick von der kleinen Schrift, sodass sich unsere Augen begegnen. Seine Pupillen sind so dunkel, dass ich sie nicht von der Iris unterscheiden kann. Ob sie tatsächlich schwarz sind oder von einer anderen sehr dunklen Farbe, hätte ich nur sagen können, wenn ich mich Nase an Nase zu ihm vorgebeugt hätte. Doch darauf kann ich ruhig verzichten.
Ich verdrehe die Augen. „Da liegen Sie verdammt richtig, Sherlock." Wie ich schon längst bemerkt habe, scheint ihn mein Ärger zu amüsieren. Genauso wie jetzt. Aber ich kann es wirklich nicht verbergen, so sehr ich es auch gewollt hätte.
Einige Kunden sehen sich suchend nach mir um, weshalb ich schnell fachmännisch werde. „Haben Sie sich schon entschieden?" Diese Frage ist so überflüssig wie eh und je, weil Jaques einmal die Woche hierherkommt und immer nur dasselbe bestellt: ein blutiges Steak mit einem Glas roten, süßen und teuren Wein.
„Ja, sicher.", antwortet er mit einem überheblichen Tonfall als würden wir uns gar nicht kennen. Und dann bestellt er genau das, was ich mir schon auf ein kleines Zettelchen gekritzelt habe, um es in der Küche abzugeben.
„Ihr Weinkommt sofort.", beende ich unsere Unterhaltung und eile davon.
In der Küche ist es wie immer laut, heiß und aufgeregt. „Bestellung Tisch 1.",rufe ich. Ich wedele mir mit einer Hand warme Luft zu und spüre, wie ein Schweißtropfen seitlich von meiner Stirn läuft.
Ein junger Koch in weißer, befleckter Arbeitskleidung kommt auf mich zu und lächelt aufmunternd. „Na, wieder dein Spezialgast?"
Ich zucke hilflos mit den Schultern. „Es ist Mittwoch um eins, was erwartest du noch, Max?"
Der Koch lächelt schief und nimmt mir den Zettel ab. „Komm, anderthalb Stunden die Woche überlebst du es."
Max ist so etwas wie mein Arbeitsfreund. Ich habe ihn hier in der Küche immer kurz gesehen und als unser Restaurant vor mehr als einem Jahr seine fünfzehn Jahre gefeiert hat, saßen wir am Tisch nebeneinander und haben uns besser kennengelernt. Seitdem schreiben wir miteinander und mindestens einmal die Woche gehen wir zusammen aus. Max ist so...
Ich lächle zurück. „Das sagst du jeden Mittwoch. Komm, ab an die Arbeit."
Er schüttelt grinsend den Kopf. „Hey, hey, hey! Dass dich der Chef vorne an die Bestellungsannahme gestellt hat, heißt noch lange nicht, dass du mich hier rumkommandieren kannst."
„Natürlich nicht.", lache ich und verlasse die Küche.
Dann gehe ich zurück an die Theke und gebe dem Barmen Eric die Weinbestellung weiter. Ich bin keine Kellnerin, ich muss zum Glück nichts zu den Tischen bringen. Ich nehme nur die Bestellung auf und verteile sie an alle anderen. Manchmal, wenn hier kaum was läuft, stelle ich mich zu Eric und poliere die schon glänzenden Gläser – wie auch heute, bevor Jaques aufgetaucht ist. Mit ihm werde ich noch verrückt! Ich weiß wirklich nicht, was er von mir will. Ich verstehe nicht, warum er mich verfolgt, und mir fällt auch nach zwei Jahren kein triftiger Grund dafür ein. Ich habe auch bereits versucht, den Vampir danach zu fragen, doch er hat mir nur ein wages Wirst du früher oder später selbst verstehen als Antwort gegeben. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt.
Jaques lässt sich noch zweimal melden: einmal, um seinen Wein nachzufüllen, und ein zweites Mal, um ein Dessert zu bestellen. Auch das ist mir nicht neu, das tut er nämlich jeden Mittwoch. Ob er nicht langsam genug von demselben Essen hat? Macht es für Vampire geschmacklich überhaupt einen Unterschied, was sie zu sich nehmen? Ich frage mich immer wieder, wie weit denn mein Wissen über Übernatürliches wirklich geht. Schließlich hatte ich früher auch gedacht, dass Vampire kein normales Essen zu sich nehmen würden, und doch tauchen sie mal heute, mal morgen im Restaurant auf. Die Werwölfe bevorzugen, meines neusten Wissens, ein Rudel, gehören jedoch nicht immer einem an. Geister können, wenn sie wollen, bei einem richtigen Lichteinfall eine beinahe menschliche Form annehmen. Hellseher sind nicht alle verrückt. Und nicht jede Hexe ist böse oder benutzt ihre Kräfte. Mir fallen noch zig andere Beispiele ein, wo sich mein klischeehaftes Wissen geirrt hat, doch die möchte ich hier nicht ausführen, um nicht völlig dumm zu erscheinen.
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