Kapitel 4

»Hier ist eine Frau, die behauptet, bei uns zu arbeiten.«  Polizeikommissarin Isabel Telly stand im Türrahmen der Mordkommission in der Polizeiwache Köln-Mülheim. »Sie wollte vorne einfach durchspazieren!«

Kriminaloberkommissar Robin Sturm fehlte wirklich die Zeit, um sich noch mit einer weiteren Verrückten auseinanderzusetzen. Es war eine verdammte Apokalypse da draußen! Normalerweise gehörte das Delegieren von Aufgaben nicht zu Robins Job, aber seine Chefin Ilka Fischer hatte ihm diese Verantwortung übertragen, weil jeder andere Polizist, der dafür infrage gekommen wäre, gerade Außendienst hatte. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du allein damit fertigwirst«, sagte er zu Telly.

Die Notbeleuchtung war wieder einmal im Einsatz, so wie auch schon bei den letzten Stromausfällen, die es in der Stadt gegeben hatte - Stromausfälle, sie vor etwa einem Jahr begonnen hatten, als eine Hauptstromversorgungsquelle explodiert und in Flammen aufgegangen war, was die Bewohner mit einer Energiequelle weniger zurückgelassen hatte. Die Folgen waren verheerend, denn aufgrund der überlasteten verbliebenen Stationen wiederholten sich die Stromausfälle von da an regelmäßig, und jeder Ausfall war wie eine offene Einladung zu Plünderung oder Brandstiftung. Ein ähnliches Verhalten hatte man im Laufe der Jahre landesweit gesehen - den schlimmsten Stromausfall hatte es im Münsterland im Jahr 2005 gegeben. Die Dunkelheit lockte kriminelle Opportunisten aus ihren Löchern, und in Köln ging man davon aus, dass die neue Stromversorgungsquelle frühestens in sechs Monaten funktionstüchtig war.

»Sie behauptet, ihr Name sei Hannah Becker.«

Das weckte allerdings seine Aufmerksamkeit. »Becker? Bist du dir ganz sicher?«

Achselzucken. »Ich bin nur die Botin.«

»Bring sie her.«

Als Isabel mit besagter Frau im Schlepptau zurückkehrte, sagte sie zu ihrem Kollegen: »Sie war mit einer Walther P99 DAO bewaffnet.«

Sturm war Becker noch nie zuvor begegnet, aber er hatte Fotos von ihr gesehen und genug über die Medien mitbekommen. Deshalb genügte auch nur ein einziger Blick, um zu erkennen, dass es sich bei dieser Person, die ihm gerade gegenüberstand, nicht um die vermisste und mittlerweile totgeglaubte Kriminalbeamtin handelte. »Das ist nicht Kommissarin Becker«, erklärte Robin.

Hannah wäre jetzt ungefähr so alt wie er - um die fünfunddreißig. Aber diese Frau hier musste wesentlich älter sein. Außerdem waren ihre Haare weiß und nicht blond.

Dann wohl eher eine mental labile Obdachlose. Und da sie immerhin versucht hatte, das Gebäude bewaffnet zu betreten, sagte er zu Isabel: »Bring sie in eine Zelle und besorg ihr was zu essen und eine Decke. Ich kümmere mich später darum.« Er würde sie noch einmal befragen müssen, um zu entscheiden, ob sie wirklich in Gewahrsam genommen werden musste, denn das Gefängnis von Köln war komplett überfüllt - eine völlig neue Situation für die Stadt und eine Begleiterscheinung der vielen Stromausfälle. Zumal mehr als die Hälfte der Inhaftierten eher in psychiatrische Behandlung gehörten als in den Knast. Aber nachdem man schon vor Jahren zahlreiche staatliche psychiatrische Kliniken geschlossen hatte, würde es wohl nie dazu kommen.

Isabel zog der Frau die Arme auf den Rücken und legte ihr Handschellen an. Die Frau starrte Robin nachdenklich an und fragte schließlich: »Wurde ich durch Sie ersetzt?«

Er gab Isabel ein Zeichen, sie wegzubringen. Da draußen gab es schließlich noch genug andere Gestörte, um die er sich kümmern musste. Im Moment erhielten die Polizisten regelmäßig Berichte von Brandstiftungen in Wohngegenden - zu viele, als dass die Feuerwehr damit hätte allein fertigwerden können. Mittlerweile ging es sogar schon um die Frage, bei welchen Häusern man zulassen konnte, dass sie niederbrannten - eine Entscheidung, die allzu alltäglich geworden war.

»Warte!« Es war kein Geheimnis, dass Entführungsopfer sich drastisch verändern konnten. Wenn sie wieder in sie Zivilisation zurückkehrten, sahen sie oft völlig anders aus als zuvor, und manchmal erkannte sogar ihre eigene Familie sie nicht wieder. »Bring sie nochmal zurück.«

Isabel drehte die Frau um und schob sie vor sich her wieder zurück ins Büro.

»Wo war denn Ihr Schreibtisch?«, fragte Robin. »Zeigen Sie mal.«

Hannah marschierte stampfend und schlurfend in viel zu großen Stiefeln an ihm vorbei.

Das Büro ihres Chefs war vom Rest des Raums abgetrennt und bot eine gewisse Privatsphäre - sofern das bei einem Büro aus Glas überhaupt möglich war, während die Schreibtische der anderen Polizisten aus der Abteilung sich über das Großraumbüro verteilten, in dem es keine Trennwände gab. An sonnigen Tagen strömte viel Licht durch die Reihe von Fenstern herein, durch die man die Straße darunter erblicken konnte, und wenn einer der Kollegen einen grünen Daumen hatte, dann gediehen dessen Pflanzen hier ganz wunderbar. Tatsächlich bauten einige der Beamten ihre eigenen Kräuter an, die neben der typischen Aufreihung von Bilderrahmen standen.

Hannah wies mit dem Kopf in die Richtung eines aufgeräumten Schreibtisches, auf dem keine Bilderrahmen herumstanden, und sagte: »Paul Richter - mein Partner.« Dann nickte sie in die andere Richtung. »Heidi Matera.« Sie ging weiter und blieb dann stehen. »Genau hier.«

Der Schreibtisch gehörte Polizeihauptkommissarin Anne Leuschner. Sie war noch ziemlich neu in der Abteilung - eine alleinerziehende Mutter und jemand, den sie vermutlich überhaupt nicht eingestellt hätten, wenn es nicht gerade einen Personalengpass gegeben hätte. Nachdem Sturms Partner in Rente gegangen war, hatte seine Chefin vorgeschlagen, dass Anne dessen Platz einnehmen könnte. Aber Robin hatte sich strikt geweigert, denn Anne war nie richtig bei der Sache. Ständig hatte sie irgendein Date und erschien oft zu spät zur Arbeit. Mit ihrer Unzuverlässigkeit kam er überhaupt nicht zurecht. Und manchmal beschlich ihn das Gefühl, dass sie mit ihm flirtete - womit er ebenso wenig umgehen konnte.

»Hast du schon jemanden kennengelernt?«, fragte seine Mutter jedes Mal, wenn sie miteinander telefonierten. Aber eine Beziehung war im Moment wirklich das Allerletzte, was ihm vorschwebte.

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