[1] • blau

»Wie fühlst du dich?«

Konnte man überhaupt noch ein Gefühl benennen, wenn der Körper gänzlich taub war? So als stand man im tiefsten Eis, den Schmerz des Erfrierens bereits überwunden und wartete nun, nicht sicher auf was genau. Denn die Person, die ich bei mir wünschte, war nicht mehr hier, nicht mehr greifbar, egal wie weit ich meine kalten, blauen Finger von mir streckte. Ich wusste nicht, was ich fühlte, ob ich überhaupt etwas fühlte. Ich konnte noch nicht einmal sagen, ob das Blut in meinen Adern noch richtig floss. Es war, als wäre ich nur noch eine Hülle, vollgepumpt mit einer Leere, die ich nicht zu beschreiben wusste. Scheiße, wenn sie wüsste, wie melancholisch sie mich zurückgelassen hatte. Sie hätte sich totgelacht.

Ich wusste nicht mehr, warum ich mich in die Schule geschleppt hatte. Wahrscheinlich wäre ich schlichtweg durchgedreht, hätte ich weiter die kahlweißen Wände meines Zimmers angestarrt. Ich hatte sie von allem befreit, was mich an sie erinnerte. Alles in meiner puren Verzweiflung heruntergerissen. Doch die Erinnerungen verschwanden nicht. Sie ließen sich nicht zurückdrängen. Sie verfolgten mich, egal wohin ich ging.

Ich schaute in das abwartende Gesicht von Frau Bogdanski. Ihre Mimik hatte sich nicht verändert, seitdem ich ihr Büro betreten hatte, in das ich zitiert worden war. Es war ein Ausdruck, den ich seit jenem Tag viel zu oft gesehen hatte. Als wüssten die Leute nicht mehr, wie sie mit mir umgehen sollten, und warteten darauf, dass ich es ihnen sagte. Als hätte ich eine Antwort darauf. Doch ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr.

»Maja, du kannst mit mir reden. Ich höre dir zu, egal, was du mir erzählen möchtest. Wilma-«

Zu viel. Ihr Name war zu viel. Die Leere in mir wirkte dagegen, weitete sich aus, verschluckte all die Worte, die Frau Bogdanski noch an mich richtete. Vielleicht war es ein Schutzbedürfnis. Vielleicht betrank ich mich deshalb Schluck für Schluck mit dieser Taubheit, weil ich mehr nicht ertrug. Noch nicht einmal diese fünf Buchstaben, die so oft meinen Mund verlassen hatten. Sie hatten sich in meinem Kopf so weit voneinander entfernt, dass sie wahrscheinlich niemals wieder in genau der Weise zusammenkamen, um diesen einen Namen zu formen.

»Ich fühle mich blau«, unterbrach ich Frau Bogdanski, die bis dahin pausenlos ihre Lippen bewegt hatte. Sie wirkte etwas aus dem Konzept gebracht. Konzeptlos, vielleicht war ich auch das.

»Blau?«

Ich nickte, glaubte ich.

»Ja. Blau.« Taub und leer.

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