Ich folge dir!

Rauschend zerschlagen sich die Wellen an den Klippen. Hinterließen eine weiße Schaumschicht auf der nie ruhenden Oberfläche des Meeres. Ständig war es in Bewegung. Ohne Rast und ohne Ruh. Welle für Welle zerbarste an der rauen, kalten Oberfläche. Zerbrachen wiederholt an den Felsen. Immer und immer wieder, wie mein Herz.

Leise seufzend zog ich meine Beine an und schlang meine Arme drum. Stütze mein Kinn auf die Knie ab und sah hinaus auf das offene Meer. Wasser, soweit das Auge reicht. Wasser bis zum Horizont. Nichts anderes war dort zu sehen. Die unendlichen Tiefen des Ozeans lagen vor ihm. Lagen vor seinen Füßen.

Ich hatte nie geglaubt, dass man jemanden so sehr vermissen kann. So sehr, dass sich bei jedem Atemzug das Herz schmerzhaft zusammenzieht. Das es einem regelrecht die Luft zum Atmen nimmt. Dass man das Lachen verlernt. Das man es nicht mehr ertragen kann, dass seine Freunde um einen herum glücklich sind. Das sie unbeschwert das Leben hier genießen können.

Ich habe den Blick für alles um mich herum verloren.

Nichts berührt mich mehr.

Nichts erfüllt mich mehr.

Nichts kommt mehr an mich ran.

Die saftigen, grünen Wiesen, die voller bunter Blumen blühen. Wunderschöne Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge. Der warme Sand, der zwischen den Zehen rieselt, wenn man barfuß am Strand entlang ging. Zwitschernde Vögel, die über die paradiesische Insel fliegen. Unsere Freunde, die ausgelassen die lockere Stimmung ohne Angst genießen. Unsere Freunde, die sich in den letzten Monaten hier ein Leben aufgebaut haben. Die immer noch dabei sind, hier ein Leben für uns aufzubauen. Unsere Freunde, die ihre Freiheit genießen. Ein Gefühl, was für die meisten unerreichbar oder gar verloren schien.

Für das alles bin ich blind. Es kommt nicht an mich heran.

Für mich ist es kein Paradies, denn du bist nicht hier.

Für mich ist das kein Leben, denn du bist nicht hier.

Für mich ist es keine Freiheit, denn du bist nicht hier.

Für mich fühlt sich das alles falsch an, denn du bist nicht hier.

Du, der immer für mich da war.

Du, der mich mit wenigen Worten beruhigen konnte, wenn ich aufgebracht und wütend war.

Du, der mir weise Ratschläge gegeben hat, wenn ich nicht mehr weiterwusste.

Du, der mich aufgebaut hat, wenn alles aussichtslos schien.

Du, der mir Mut gemacht hat, weiterzumachen, wenn ich aufgeben wollte.

Du, der mich wie kein anderer zum Lächeln bringen konnte.

Du, der immer an meiner Seite stand.

Du, der mich mit einem Blick aus deinen schokobraunen Augen runterholen konnte.

Ich wollte uns alle retten.

Ich wollte dich retten.

Ich wollte uns alle in Sicherheit wissen.

Ich wollte dich in Sicherheit wissen.

Ich wollte uns alle beschützen.

Ich wollte dich beschützen.

Ich wollte die Freiheit für uns alle.

Ich wollte die Freiheit für dich.

Doch ich konnte dich nicht retten.

Doch ich weiß dich nicht in Sicherheit.

Doch ich konnte dich nicht beschützen.

Doch ich konnte dir die Freiheit nicht schenken.

Gedankenverloren spielte ich mit dem kleinen Röhrchen, das an einem langen Lederarmband befestigt war. Mein einziges Andenken an dich. Das einzige, was ich von dir in den Händen halten kann. Vorsichtig öffnete ich das Röhrchen und kippte den Inhalt auf meine Handfläche. Die Zettel zeigten deutliche Gebrauchspuren. Ich faltete die Zettel auseinander und strich sie sachte glatt. Hunderte male hatte ich die Zeilen gelesen. Zeilen von dir an mich. Zeilen, die für den Abschied bestimmt waren. Zeilen, die mich nicht losließen. Ich kannte jedes Wort auswendig. Hatte sie regelrecht studiert. Doch taten sie bei jedem Lesen so weh, als wäre es das erste mal.

Lieber Thomas

Ich weiß nicht, ob das der erste Brief ist, den ich schreibe. Ich kann mich natürlich nicht daran erinnern, ob ich vor dem Labyrinth welche geschrieben habe. Aber selbst, wenn es nicht mein erster ist, ist es vermutlich mein letzter.

Ich möchte, dass du weißt, dass ich keine Angst habe. Jedenfalls nicht vor dem Tod. Mehr vor dem Vergessen. Dass ich mich selbst an das Virus verliere, das macht mir Angst.

Und deshalb sage ich jeden Abend laut ihre Namen. Alby, Winston, Chuck.

Ich wiederhole sie immer und immer wieder wie ein Gebet.

Und dann fällt mir alles wieder ein.

Zum Beispiel all die kleinen Dinge, wie die Sonnenstrahlen auf die Lichtung gefallen sind, in diesem einen perfekten Moment, bevor die Sonne hinter den Mauern verschwand. Ich erinnere mich ab den Geschmack des Eintopfs, den Bratpfanne gekocht hat. Hätte nie gedacht, dass mir das Zeug mal so sehr fehlen würde.

Und ich erinnere mich an dich. Als du das erste Mal im Käfig zu uns raufgekommen bist. Ein verängstigter, kleiner Frischling, der sich nicht mal an seinen Namen erinnern konnte.

Aber von dem Moment an, als du ins Labyrinth gerannt bist, wusste ich, dass ich dir überall hin folgen würde. Und das bin ich. Wie wir alle.

Wenn ich alles noch einmal machen könnte, würde ich es tun und nicht das Geringste daran ändern. Und ich wünsche dir, wenn du in vielen Jahren auf das alles hier zurückblickst, dasselbe sagen kannst.

Die Zukunft ist jetzt in deiner Hand Tommy. Und ich weiß, du findest einen Weg um das Richtige tun. So wie immer.

Pass mir gut auf alle auf. Und pass auf dich selbst auf. Du hast es verdient, glücklich zu sein.

Danke, dass du mein Freund bist.

Machs gut, Kumpel.

Newt

Für den Bruchteil einer Sekunde musste ich lächeln. Er war schon immer ein eher romantisch veranlagter Mensch gewesen. Für ihn war ein Sonnenuntergang immer ein Highlight des Tages gewesen. Ihm hätte es hier im Paradies gefallen. Da war ich mir sicher.

Gott, ich vermisse dich so schrecklich!

Du fehlst in allem.

Warum du? Warum ausgerechnet du? Warum?

Die ersten salzigen Tropfen meiner Tränen fiel auf das wertvolle Stück Papier. Schnell faltete ich die Zettel wieder zusammen und verstaute sie vorsichtig in dem länglichen Röhrchen. Es war mein wertvollster Besitz. Mein Schatz. Ich hütete ihn wie meinen Augapfel. War er doch das einzige, was ich noch von dir habe.

Ich hätte nie damit gerechnet, dass einem ein Mensch so sehr ans Herz wachsen kann.

Das du mir so ans Herz wächst.

Du, dessen blonden Haare gerne vom Wind verstrubbelt wurden.

Du, dessen schokobraunen Augen mich in ihren Bann gezogen hatten.

Du, dessen Lächeln mein Herz schneller schlagen ließ.

Du, dessen Berührung ein angenehmes, warmes Kribbeln auf meiner Haut hinterließ.

Und nun?

Nun ist alles anders.

Du bist nicht mehr hier.

Du lächelst mich nicht mehr an.

Du berührst mich nicht mehr.

Du kannst mich nicht mehr anschauen.

Und doch sehe ich dich jede Nacht.

Jede Nacht in meinen Träumen.

Sehe dich vor mir.

Sehe deinen gierigen Blick nach meinem Fleisch.

Sehe deinen verzweifelten Blick, wenn du für wenige Sekunden wieder du bist.

Sehe deinen Todeswunsch in deinem Blick, wenn du dir deine Waffe an den Kopf hältst.

Sehe keinen Zweifel in deinem Blick, dass du sofort abdrücken würdest.

Sehe, wie du vor mir stehst.

Höre, wie du leise meinen Namen flüsterst.

Tommy.

Spüre, wie ich deinen schmalen Körper in meinen Armen halte.

Spüre, wie du deinen letzten Atemzug tust.

In diesem Augenblick bin auch ich gestorben.

In diesem Augenblick ist meine Welt zerbrochen.

In diesem Augenblick habe ich alles verloren, was mir etwas bedeutet hat.

Ohne dich ist alles grau.

Ohne dich macht nichts mehr einen Sinn.

Ohne dich fühle ich mich so leer.

Ohne dich ist dieses Paradies die Hölle.

Ohne dich fehlt etwas sehr wichtiges für mich.

Ohne dich fühle ich mich so unvollständig.

Ohne dich tut jeder Atemzug weh.

Ohne dich bin ich nicht ich.

Ohne dich will ich nicht leben.

Ohne dich kann ich nicht leben.

Alles in mir schreit nach dir.

Alles in mir verlangt nach dir.

Vermisse dein sanftes Lächeln.

Vermisse deine wunderschönen Augen.

Vermisse deine Stimme.

Vermisse deine Berührungen.

Vermisse deinen Geruch.

Vermisse ganz einfach das Gefühl, dass du da bist.

Ich stand auf und stellte mich an den Klippenrand. Sah hinunter in das tiefschwarze Wasser, dass eine ungeheure Kraft in sich trägt. Sah die kleinen, spitzen Felsen, die alles beenden würden.

Mein Blick glitt hinauf in den Himmel. Bildete mir ein, du sitzt dort oben auf einer Wolke und schaust auf mich hinab. Schaust auf uns herab. Wo sonst solltest du auch sein? Ein Engel wie du kann nur in den Himmel kommen.

„Du bist mir überall hin gefolgt. Nun ist es an mir, dir überall hin zu folgen" flüsterte ich in den Himmel hinein, breitete meine Arme aus und ließ mich, mit einem Lächeln, in die Tiefe fallen....

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