ICH, DER UNSICHTBARE

Du hast mich einmal geküsst aber du erinnerst dich nicht daran.

Nicht, dass du dich nicht an den Moment erinnern kannst, nein, du kannst dich nicht an mich erinnern.

Ich sage dir das, weil ich in den letzten drei Jahren, unsichtbar für dich war. Ich habe gehört, dass wenn einem so etwas mit einem Mädchen passiert, wenn man schon nicht darüber sprechen kann, wenn ich dich nicht ansprechen kann, dann soll man alles in einen Brief schreiben. Einen Brief den das Mädchen nie lesen wird.

Wie eine Therapie oder so etwas.

Also, auch wenn ich mich wie ein Idiot fühle, weil ich das hier mache, bin ich inzwischen verzweifelt genug um es zu versuchen. Denn wenn ich es nicht mache wird die Wahrheit mich von innen auffressen, so wie sie jetzt schon angefangen hat zu nagen. Ich muss es jemandem sagen, auch wenn dieser jemand nur ein Stück Papier ist. Ich hoffe, dass es funktioniert, und ich weiß nicht, was ich machen werde, wenn nicht.

Also, ich werde mit dem Anfang beginnen.

Als du hierher gezogen bist, gerade als ich mit der neunten Klasse anfing, habe ich dich gleich am ersten Schultag gesehen. Unsere Schule ist groß, wie du weißt, aber ein neues Gesicht ist immer leicht zu entdecken. Du warst in der Cafeteria, als ich dich zum ersten Mal sah, und ich vergaß mein Mittagessen zu essen. Ja, du hast richtig gelesen. Ich, ein Kerl, vergaß mein Mittagessen zu essen. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass du meine erste große Liebe warst. Und so was ist nicht leicht zu vergessen, deshalb dieser Brief hier.

Jeder erinnert sich an seine erste große Liebe.

Während unserem ersten Jahr an der High School kannte ich deinen Stundenplan auswendig. Meine Augen folgten dir in den Hallen, wenn du nicht hinsahst, und wenn ich deine Stimme hörte, lauschte ich so gut ich konnte, um zu hören worüber du redest. Tut mir Leid, das klingt ein bisschen gruselig, jetzt wo ich es auf dem Papier sehe. Aber ich habe dich nie gestalkt, ich schwöre es.Ich war nur neugierig. Ich wollte über die Dinge Bescheid wissen, die du magst.

Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich noch nie mit dir gesprochen habe. Na ja, du kennst mich nicht und weißt nicht, wie schüchtern ich bin. Es ist wirklich einer meiner größten Fehler. Ich spreche nicht sehr viel, und nur dann, wenn ich muss. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, hätte ich vielleicht ganz am Anfang mal etwas zu dir sagen sollen. Es hätte mein Leben so viel einfacher gemacht.

Aber die neunte Klasse war nichts besonderes. Du warst immer noch die Neue, und ich war nicht überrascht, dass du nie ein Auge für mich übrig hattest. In diesem Jahr hatte ich eine Brille und stach nicht aus der Masse der Schüler heraus, aber ich wusste, dass ich mich vor Beginn des neuen Schuljahres ändern würde müssen. Ich trug immer noch eine Brille, und ein paar Mädchen dachten tatsächlich, dass das süß aussehe (ihre Worte, nicht meine), aber ich trug mein Haar kürzer als vorher, und hoffte, dass du mich zumindest ansehen würdest.

Im Laufe des Sommers bist du braun geworden, und dein Haar war länger als je zuvor. Ich fühlte mich wie ein Nichts im Vergleich zu dir, und ich wusste nicht, was ich ich tun könnte damit du mich siehst.

Ich fand heraus, dass wir eine Klasse zusammen hatte, und es gelang mir einen Tisch in deiner Nähe zu ergattern, und zwar genau hinter dir. Innerhalb der ersten Woche begann ich zu hoffen, dass du deinen Bleistift oder Papier fallen lassen würdest, damit ich einen Vorwand dafür hätte dich anzusprechen. Aber nichts passierte. Ich bekam eine schreckliche Note in Mathe in diesem Jahr, wahrscheinlich weil ich damit beschäftigt war deine Haare anzustarren und mich zu fragen wann du dich einmal zu mir umdrehen würdest.

Du hast es nie getan.

Nach Neujahr, etwa eine Woche nach Schulbeginn, hast du mich im Flur aus versehen angerempelt. Du ließt ein Buch fallen und ich hob es für dich auf. In diesem Moment klopfte mein Herz so laut wie nie zuvor. Als ich es dir zurück gab und zu hoffen wagte du würdest mich ansehen, warst du damit beschäftigt, mit einer deiner Freundinnen zu reden. Du hast nach deinem Buch gegriffen, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.

"Danke", sagtest du zwischen einigen an deine Freundinnen gerichteten Bemerkungen. Du schautest mich nicht einmal an. Ich stand im Flur und blickte dir hinterher als du fortgingst. Ich fragte mich was nur mit mir nicht stimmte. An diesem Abend fragte ich meine Mutter was mit mir nicht stimmte, aber sie zuckte nur mit den Achseln und sagte: 'Gar nichts'.

Das Schuljahr endete genauso, wie das letzte. In den Sommerferien habe ich dich dann einmal gesehen, aber du hast nie zu mir hinübergeschaut.

Am ersten Tag der zehnten Klasse haben sich tatsächlich ein paar nach mir umgedreht. Ich hatte im Sommer endlich Kontaktlinsen bekommen, und meine grünen Augen waren zum ersten Mal sichtbar. Sicher, ich war nicht so groß wie andere Jungs mit denen du abhingst, aber ich konnte ein T-Shirt besser ausziehen als jeder andere, selbst ich muss das zugeben. Aber auch nachdem ich Kontaktlinsen bekommen hatte, und größer war, hast du mich immer noch nicht gesehen.

Zu Beginn dieses Jahres fühlte ich mich endlich wohl in meiner eigenen Haut. Ich mochte mich so wie ich war und wollte mich nicht verändern, nur damit du mich siehst. Ich blieb wer ich war, aber ich hasste es zu wissen, dass du mich nie bemerken würdest, wie die andern Menschen um dich herum.

Ich konnte mich entweder ändern, mit der Chance, dass du mich bemerken würdest, oder ich konnte ich selbst bleiben und unsichtbar für dich sein. Ich wählte das Letztere, in der Hoffnung dass du mir trotzdem eine Chance geben würdest und mich so sehen würdest, wie ich wirklich bin.

In der Elften hatten wir drei Klassen zusammen. Das stimmt, drei Stück. Ich sah dich immer noch an, nahm immer noch deine Gegenwart wahr, wann immer du mir nahe warst. Es war frustrierend, wirklich. Ich war immer noch ein Niemand für dich. Wir sahen uns ein paar mal während der ersten paar Monate, aber du hast niemals wirklich mich gesehen. Ich ging in den Korridoren an dir vorbei. Ich saß in im Unterricht neben dir. Mehr als einmal bist du mir in der Schlange in der Cafeteria zusammengestoßen.

Danke.

Entschuldigung.

Verzeihung.

Das waren die einzigen Worte, die du jemals zu mir gesagt hast. Und jedes Mal, wenn ich meinen Mund öffnete um irgendetwas zu erwidern, warst du bereits weg. Ich hatte meine Chance verpasst. Du hast keine Vorstellung davon wie oft ich versucht habe, den Mut auf zu bringen, mit dir zu sprechen. Einmal stand ich doch tatsächlich eine ganze Weile hinter dir während du in deinem Schließfach gestöbert hattest, meinen Mund halb offen in dem Versuch Worte zu formen.

Als du dich umgedreht hast, warst du überrascht, dass dort bereits jemand stand. Ich hoffte, dass es mir die Gelegenheit geben würde etwas zu sagen - irgendwas, dass mich nicht dumm dastehen ließ. Ich denke das war das erste Mal, dass du Augenkontakt zu mir aufgenommen hast. Es war der längste Moment meines Lebens.

Deine Freundinnen kamen daher, stellten sich direkt vor mich hin und ich war erneut vergessen. Du begannst mit ihnen davon fort zu gehen, aber bevor ihr außer Hörweite wart, hörte ich eine deiner Freundinnen fragen:

„Wer war das denn?“

Ich starrte auf deinen Rücken, als du davon gingst, ich wollte unbedingt deine Antwort hören. Du zucktest mit den Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist er neu, oder so“, sagtest du.

Ich konnte nicht glauben, was ich da eben gehört hatte. Ich war die letzten zweieinhalb Jahre immer um dich herum gewesen und du erkanntest mich nicht einmal? Ich stand bewegungslos im Gang, Menschen drängten an mir vorbei, die Glocke bimmelte. Und ich begriff, dass du mich vermutlich niemals erkennen würdest. Matt sagte mir immer, dass ich über dich hinweg kommen sollte, aber er hat niemals gewusst, wie sehr ich dich wirklich mochte, wie sehr ich mir wünschte, dass du wüsstest, wer ich war.

Ich weiß sehr viel mehr über dich, als du weißt.

Du bist von New York weggezogen, obwohl du das Leben dort geliebt hast. Aber du hast auch nichts gegen den Umzug gehabt. Du lebst mit deiner Mutter, deinem Vater und deinem Bruder, der vier Jahre jünger ist als du. Volleyball ist dein Lieblingssport und du bist wirklich gut darin. An den Tagen, an denen es regnet, trägst du dein Haar in einem Pferdeschwanz, es hängt bis zur Mitte deines Rückens hinunter. Wann immer ein Lehrer dich aufruft, spielst du mit der Halskette um deinen Nacken, das war eine nervöse Angewohnheit von dir. Und du hast die Fragen immer richtig beantwortet. Du hast keine Schwierigkeiten gute Noten hinzubekommen und deine Arbeiten rechtzeitig abzugeben. In Geschichte aber langweilst du dich schnell, die meiste Zeit starrst du einfach aus dem Fenster.

Obwohl ich all diese Dinge über dich weiß, wünschte ich, ich würde dich besser kennen. Denn ich kenne dich nicht. Nicht wirklich. Und ich wünsche mir außerdem, dass du mich kennen würdest, aber andererseits will ich das auch wieder nicht weil ich fürchte, dass ich nicht gut genug für dich wäre. Ich bin ein durchschnittlicher Schüler. Nichts besonderes. Ich spiele ziemlich annehmbar Baseball, aber unsere Schule ist so sehr auf Football fixiert, dass es bedeutungslos ist. Es scheint, als wäre heutzutage nichts mehr von Bedeutung...

Nach Neujahr änderte sich in der elften Klasse nicht viel. Ich wollte immer noch, dass du mich siehst und das war noch immer nicht der Fall. Noch nicht einmal nachdem ich eine Präsentation vor der Klasse gemacht habe, bemerktest du mich. Ich stand da vorne für ganze fünf Minuten. Du hast mich einmal angesehen, aber das war's. Mir wurde so schlecht, als es passierte, dass sogar Herr Jones fragte, ob es mir gut ginge. Jeder hat mich angestarrt, abgesehen von dir.

Aber ich sagte ihm, mir ginge es gut. Ich mag es nicht, Lehrer anzulügen; sie scheinen es immer gleich zu merken.

Aber es war gegen Ende der elften Klasse, als es passierte. Marcus veranstaltete gerade mal wieder eine Party. Lauthals verkündete er, dass das Schuljahr endlich um war. Jeder der Zehntklässler oder höher war, war dort. Ich sprach mit einigen meiner Freunde die auch auf der Party waren, aber die ganze Zeit über beobachtete ich dich aus den Augenwinkeln. Ich war so eifersüchtig auf die Jungs die neben dir standen, die sich zu dir herüber lehnten, die Jungs mit denen du lachtest und mit deren Arme du berührtest. Ich konnte es kaum ertragen dich diese Nacht anzusehen.

Jeder weiß was auf Marcus Partys um Mitternacht passiert. Aus irgendeinem Grund jubeln alle dem neuen Tag zu und manche Leute, wie Markus, „verkünden“, dass jetzt ein neuer Tag angebrochen sei. Ich mache mir da Sorgen um ein paar meiner Klassenkameraden, aber das ist nicht der Punkt.

Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, während ich durch den Flur und zurück in die Küche gelaufen war. Genau in diesem Moment schlug es Mitternacht und jeder drehte sich zu der Person um die ihm am nächsten stand und küsste sie, als wäre das hier ein das kitschige Ende eines Märchens. Es war eigentlich wirklich abgedroschen, aber jeder machte es, da es einen Vorwand bot, jemanden zu küssen, den man sonst nicht küssen würde.

Vielleicht war es reines Glück oder Zufall und um ehrlich zu sein, es war mir egal. Aber wie es der Zufall wollte standst du alleine da, während alle anderen um uns herum anfingen sich zu küssen. Ich sah dich an, wie du so gegen die Wand gelehnt dastandst und du schautest zurück, mit einem undeutbaren Gesichtsausdruck. Ich hatte Angst, dass du fragen würdest, wer ich war und meine Hoffnungen vollends zerstören würdest, also tat ich etwas bevor du, oder ich, überhaupt sprechen konnten. Ich tat die zwei Schritte auf dich zu, die alles waren, das nötig war um den Abstand zwischen uns zu überwindend. Und ich küsste dich.

Und du fingst an mich zurück zu küssen.

Mein Kopf schwirrte und mein Herz klopfte so wild, dass ich mir sicher war, du könntest es fühlen. Vielleicht konntest du es tatsächlich fühlen, ich weiß es nicht. Ich schlang einen Arm um deinen Rücken und zog dich näher zu mir heran. Ich wollte keinen Zentimeter Raum zwischen uns zulassen. Ich erinnere mich an das Gefühl deiner Finger, die durch meine Haare strichen, es griffen und meinen Kopf näher an deinen heran zogen. Mein Körper pulsierte und mein Blut pumpte unter Hochdruck durch meine Adern.

Es war unglaublich.

Als wir voneinander wegtraten, drängte sich eine Menge Leute an uns vorbei in die Küche, drängten sich zwischen uns, trennten uns. Ich hielt am Kücheneingang inne und schaute zurück zu dir, in der Hoffnung dich zurück blicken zu sehen: Ich glaubte wirklich, dass das der Moment war auf den ich gewartet hatte.

Es traf mich wie ein Schlag in den Magen dich bereits mit einem anderen Kerl sprechen zu sehen, lächelnd und flirtend, als ob unser Kuss nie passiert wäre.

Ich konnte dich noch immer auf meinen Lippen schmecken und du hattest mich bereits aus deinem Gedächtnis gelöscht. Wie konntest du mich so schnell vergessen? War ich wirklich so unsichtbar für dich?

Ich werde dir etwas erzählen, dass du noch  nicht weißt.

Als ich in später in der Nacht gerade Lukes Haus verlassen hatte - die Party ging immer noch weiter - wurde ich aufgehalten. Ich hatte nur den halben Weg bis zu meinem Wagen zurückgelegt, als Luke, Grady und Nick wie aus dem Nichts auftauchten. Ich hatte wirklich keine Ahnung, was sie von mir wollten, aber ich wusste, sie hatten nicht vor mich einfach vorbei zu lassen. Ich wollte gerade fragen was los sei, aber sie gaben mir keine Gelegenheit dazu. In der Dunkelheit konnte ich nicht feststellen wer von ihnen was tat, aber zwei von ihnen hielten meine Arme, während der Dritte auf mich einschlug, bis ich kaum noch Luft bekam. Die Schläge trafen meinen Kiefer, meinen Magen und meine Rippen. Überall spürte ich die Fäuste bis ich taub vor Schmerzen war. Als der Schläger fertig war ließen sie mich zu Boden fallen, direkt auf den harten Asphalt. Ich fühlte den Straßendreck unter meinen Handflächen. Sie standen über mir und machten keine Anstalten mir zu helfen.

Luke beugte sich zu mir runter, nah genug um in mein Ohr zu flüstern und zischte: „Bleib weg von ihr. Sie ist zu gut für dich.“

Er verpasste mir einen letzten Tritt in die Rippen, bevor er wieder zurück Richtung Haus lief und mich einfach mit blutigem Gesicht in der Einfahrt liegen ließ. Ich war froh, dass dies der letzte Schultag gewesen war. Niemand würde mitbekommen was passiert war. Ich fuhr Heim und fühlte mich dabei fühlte mich taub vor Schmerzen, innen und außen. Ich lag die ganze Nacht lang wach im Bett. Mein Kopf platzte fast von all dem was passiert und dem was nicht passiert war. Ich versuchte die Nacht der Party zu vergessen und die Tatsache, dass du mich immer noch nicht sahst, selbst nachdem ich dich geküsst hatte. Darüber nachzudenken tat in meiner Brust weh.

Als die Schule wieder anfing, wusste ich nicht, was ich erwarten sollte. Ich hatte ganz sicher nicht vergessen, was Luke gesagt hatte, aber ein anderer Teil von mir hoffte, dass sich etwas über den Sommer hinweg geändert hatte und du vielleicht etwas von mir wollen würdest, vielleicht sogar genug damit ich seine Drohungen vergessen konnte. Dazu sollte die Liebe doch im Stande sein, oder? Ich war nicht in dich verliebt, doch ich wusste, ich würde es sein, wenn du mich ließest.

So, hier bin ich also, schreibe diesen dummen Brief mitten im Oktober, in der Hoffnung, dass ich über dich hinweg kommen werde und mein Leben weiter leben zu kann. Ich hasse es zur Schule zu gehen, denn nichts ist anders. Anstatt drei Klassen zusammen zu haben, wie letztes Jahr, haben wir vier. Im Grunde genommen haben wir den gleichen Stundenplan, aber ich fühle mich die ganze Zeit über die ich in deiner Nähe verbringe wie ein Geist. Ich bin nahe dran aufzugeben und ich denke, das ist es, was ich will.

Warum bemerkst du mich nicht? Das einzige was mir einfällt ist, dass ich mich vielleicht ändern sollte damit du mich bemerkst. Aber ich weiß, dass das nicht richtig wäre, weil ich dann nicht mehr wirklich ich selbst wäre. Doch vielleicht bedarf es einer Veränderung damit du mich endlich bemerkst.

******

Ich starre auf das Papier hinab, spiele mit meinem Stift, weiß aber nicht, was ich sonst noch schreiben soll. Es gibt nichts was ich sonst noch schreiben könnte. Gott, wie erbärmlich ich mich fühle. So sollte es nicht sein. Ich hätte mich dazu zwingen sollen sie zu vergessen, als mir klar wurde, dass sie mich niemals bemerken würde. Die ganze Zeit über während der ich hinter ihr her gestarrt habe, habe ich mich miserabel gefühlt. Und ich habe mich nicht auf die Schule konzentriert, wie ich es eigentlich sonst immer getan habe.

Ich falte die Blätter zusammen und stecke sie in einen schlichten, weißen Umschlag. Ich frage mich, was ich damit machen sollte. Der Umschlag fühlt sich schwer an in meiner Hand - das Gewicht der Wahrheit. Das stille Haus hallte um mich herum wieder, erinnert mich daran, dass ich alleine bin. Wie ich es immer bin.

Ich starre den Umschlag an..

Draußen hupt ein Auto und reißt mich aus meinen Gedanken. Ohne darüber nachzudenken schiebe ich den Umschlag in meine hintere Hosentasche und greife mir meine Jacke bevor ich mein Zimmer verlasse. Es ist dunkel draußen, schon nach zehn, aber Matt ist wie gewöhnlich spät dran. Er hängt mal wieder am Handy: Ich steige ins Auto und schnalle mich an. Als wir losfahren telefoniert er einfach weiter, telefoniert und telefoniert bis wir bei der Party ankommen. Endlich legt er auf und schaut zu mir rüber.

„Irgendwie fürst du dich merkwürdig auf.“

„Woher willst du wissen, dass ich mich merkwürdig aufführe? Du hast die ganze Fahrt über telefoniert.“

„Weil ich es einfach weiß.“ Ich starre durch die Windschutzscheibe hinaus, denke immer noch über den verdammten Brief in meiner Hosentasche nach. „Ich weiß, ich habe das schon einmal gesagt, aber du musst über sie hinweg kommen, Mann. Was du machst ist nicht gesund. Du verpasst dein eigenes Leben und du kapierst es noch nicht einmal.“ Er steht kurz davor noch mehr zu sagen, aber sein Handy klingelt, stört die Stille im Wagen.

„Hey Zach, was ist los?“ Er steigt aus dem Auto aus, bemerkt gar nicht, dass ich nicht gleich hinter ihm bin. Ich sehe ihm dabei zu, wie er die Straße hinunter läuft, auf das Haus zu. Er gestikuliert mit seiner freien Hand, während er weiter spricht. Innerhalb von Sekunden bin ich wieder alleine.

Ich bin mir nicht sicher, warum ich gekommen bin, aber jetzt bin ich eben hier. Ich weiß, sie ist dort drinnen und die Tatsache bringt mich um, weil ich genau wie die letzten drei Jahre über nichts mehr will als zu ihr zu gehen, sie zu sehen. Sie ist wahrscheinlich der einzige Grund warum ich gekommen bin. Warum ich überhaupt komme. Ich schließe meine Augen und wünsche mir, mein Herz würde sie vergessen, würde mich von dem dranghaften Wunsch befreien jemand zu sein der ich nicht sein kann. Gäbe es sie nicht, wäre ich noch nicht einmal hier. Sie reißt mich langsam in Stücke, macht es mir schwerer und schwerer mit mir selbst zufrieden zu sein.

Würde es mich umbringen, einfach nach Hause zu gehen? Ich könnte es tun. Ich könnte loslassen und gehen, sie aus meinen Gedanken verbannen und nie wieder an sie denken. Ich kann das, oder etwa nicht?

„Scheiße.“ Ich öffne die Wagentür, steige aus und werfe sie hinter mir zu. Die Musik wird lauter, je näher ich dem Haus komme und ich sehe Menschen im Vorgarten herumlungern, die aus Plastikbechern trinken. Es macht nichts, da es keine Nachbarn gibt, die sie hören oder sehen können. Jemand ruft hinter mir meinen Namen, aber ich tue so, als ob ich es nicht gehört hätte und gehe hinein.

Wie ein Uhrwerk scannen meine Augen den Raum. Sie suchen, finden aber nichts. Nichts und niemanden. Ein Teil von mir hofft, dass sie nicht hier ist. Es ist ein kleiner Teil, kaum wahrnehmbar, aber es ist da. Die Körper der Partygäste sind eng aneinandergepresst während sie versuchen sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen. Es ist fast unmöglich. Ich erkenne beinahe jeden hier. Einige Leute nicken mir zu und ich versuche zurück zu lächeln.

Ich bin nicht glücklich heute Nacht, wie ich es normalerweise bin. Eigentlich bin ich jemand der schnell lächelt und der sich nicht über jede Kleinigkeit aufregt. Aber das hat sich in letzter Zeit geändert und ich fühle mich bitterer als jemals zuvor.

Ich beginne mir meinen Weg durch die Menge zu bahnen und finde mich im Flur wieder, die Erinnerung schlägt zu wie ein Vorschlaghammer. Meine Beine zittern ein wenig und ich versuche einfach weiterzugehen.

„Beweg' dich!“ Ich werde von hinten geschubst und mehr Menschen gehen an mir vorüber während ich mich gegen die Wand lehne und all jene, die vorübergehen, beobachte. Ich warte auf eine Gelegenheit um mich weiter zu bewegen, aber es gibt keine. Es sind eine Menge mehr Menschen hier als sonst.

„Hey, ich kenne dich.“

Ich sehe mich um und erblicke ein Mädchen das neben mir an die Wand gelehnt steht. Sie hat kurzes, dunkles Haar und ein Augenbrauenpiercing. Ihre Kleider sind schlicht, wie meine; T-Shirt zusammen mit einem Paar Jeans. Ich habe immer noch meine Jacke an, aber sie hat keine an, deshalb sieht man ihre nackten Arme mit geschmeidiger Haut. Eine ihrer Hände ist unten, nahe ihrer Hüfte, ihren Daumen hat sie doch eine Gürtelschlaufe gefädelt. Ich versuche darüber nachzudenken, was sie zu mir gesagt hat.

„Ja?“ Frage ich, immer noch ein wenig abwesend. „Woher?“

„Aus der Schule, wir haben zusammen Geschichte.“

Ihre Augen studieren mich. Sie sind blau. Ich erkenne sie wirklich.

„Du bist letztes Jahr hier her gezogen und sitzt in Geschichte hinter mir, richtig?“ Ich versuche zu lächeln, da mir nur eine Person in den Kopf schießt sobald ich an die Schule denke.

„Ja“, sie nickt. „Und du sitzt hinter dem Mädchen, das du immer anstarrst.“

Meine Augen hatten begonnen von ihr weg zu driften, aber genauso schnell zuckten sie zu ihr zurück. Ich versuche meinen Kopf zu schütteln. „Ich starre niemanden an.“

„Weißt du“, sie verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, „andere Leute bemerken das vielleicht nicht, aber ich schon. Ich mag neu sein, aber ich bin nicht blind.“

Einen Augenblick lang stand ich erstarrt da, ehe ich mich von ihr weg drehte. Mein Herz schlug ungewöhnich schnell.

„Sie hat dich nicht verdient,“ sagt sie hinter mir.

Ich halte inne, versuche ihre Worte zu verarbeiten. Ich drehe mich um, um sie erneut anzusehen. „Und woher willst du das wissen?“

Sie stößt sich auch von der Wand ab, beginnt sich in die andere Richtung zudrehen. „Weil ich dich sehe und sie nicht.“

Ich blieb zurück und starre auf ihren Rücken während sie um die Ecke verschwindet und ihre Worte bohren sich tief in mich hinein. Etwas in meiner hinteren Hosentasche fühlt sich schwer an. Ich erinnere mich an den Umschlag. Ich dränge mich durch die Menge, an der Küche vorbei und durch die Hintertür hinaus, versuche einen Platz zu finden, an dem ich atmen kann. Aber auf der Veranda sind noch mehr Leute und irgendjemand hat ein Feuer im Hinterhof angemacht. Ich Ich zittere und beginne die Treppen hinunter zu steigen. Der schwere Brief zerrt noch immer meine Hosentasche nach unten.

Ich bin die Last leid, die ich mit mir herum geschleppt habe. Und ja, es fühlt sich wirklich wie eine Last an. Ich möchte loslassen. Ich möchte über sie hinweg kommen. Ich möchte, dass sie mir nichts bedeutet, denn genau das bedeute ich ihr. Ich möchte nicht gezwungen sein, mich in jemand zu verwandeln, der ich nicht bin.

Das Feuer vor mir brennt heiß und irgendwie hat der Brief es in meine Hand geschafft. Ich erinnere mich gar nicht daran, wie er dort hin gekommen ist.

Ich beginne die Stimmen um mich herum wahrzunehmen und sie sind genau die Leute, die ich nicht in meiner Nähe haben möchte. Ich höre Luke, Grady und auch Nick. Aber dann höre ich sie, sehe zu ihnen hinüber und sehe sie über einen Witz lachen, den ich nicht gehört habe. Sie trägt einen Schal um den Hals und ihre Wangen sind rot, vom Lachen oder von der Kälte, ich kann es nicht sagen. Mein Herz schmerzt.

Luke bemerkt mich starren. „Hast du ein Problem?“ Sein Ton ist aggressiv und ich weiß, er hat nicht vergessen, was er mir angetan hat. Alle anderen halten inne und starren auch zu mir herüber. Schließlich schaue ich ihr in die Augen und sage nichts.

Sie runzelt die Stirn und nickt einmal in meine Richtung. „Kenne ich dich?“ fragt sie mich.

Kennt sie mich? Ich möchte laut herausschreien, dass sie während der letzten drei Jahre mit mir in der selben Stufe und mehreren gemeinsamen Klassen gewesen ist. Ich möchte herausschreien, dass ich garantiert jeden Tag an sie gedacht habe, aber sie mich niemals auch nur einmal lange genug angesehen hat um mich wiederzuerkennen.

Meine Faust ballt sich fester um den Brief und ich fühle, wie entzweigerissen werde. Ich könnte ihr den Brief geben, hoffen, dass sie mich endlich bemerken würde, oder ich kann ihn ins Feuer werfen und sie für immer los lassen, mich endlich von der Last der Hoffnung erleichtern.

Sie verdient dich nicht.

Ich will es glauben. Will ich wirklich glauben.

Ich möchte nicht mit jemandem wie ihr zusammen sein ohne dabei ich selbst zu sein und das erste Mal in meinem Leben fällt es mir unglaublich leicht zwischen den beiden zu wählen. Sie oder ich.

„Nein“, sage ich. „Ich denke nicht, dass du mich kennst.“

Es ist das erste Mal, dass ich je mit ihr gesprochen habe.

Meine Finger öffnen sich langsam und ich lasse meinen Brief ins Feuer fallen.

Es ist wie Freiheit und ich lächle.

„Du bist ein Irrer, weißt du das?“ sagt Luke. Seine Freunde lachen, aber aus irgendeinem Grund starrt sie immer noch mich an ohne zu lächeln. Weiß sie es endlich? Ich hoffe es irgendwie. Vielleicht wird sie sich unsichtbar fühlen, genauso wie ich - früher einmal.

Ich drehe mich um, laufe zurück zum Haus und spüre dabei ihre Blicke im Nacken. Sie mögen vielleicht lachen, aber der Anflug eines Lächelns bleibt auf meinem Gesicht haften während ich wieder das Haus betrete.

Ich fühle mich, als ob ich endlich die Kontrolle über mein Leben hätte, wie traurig auch immer das klingen mag.

Ich muss einfach ich selbst sein, nicht jemand von dem ich denke, dass sie ihn vielleicht bemerkt. Ich hatte mich für sie neu geformt, verschwendete meine Zeit, weil ich glauben wollte, dass sie meine Gefühle erwidern würde.

Jetzt bin ich ich selbst, und sonst niemand.

Jeder zählt den Countdown runter bis Mitternacht, als ob Silvester wäre. Ich halte an und schaue mich im Zimmer um. Die Leute nähern sich denen, die sie küssen wollen und ich sehe das Mädchen aus dem Gang in der Menge.

Ich laufe los.

8, 7

Sie lächelt sobald sie mich erkennt.

6, 5

Mein Herz schwillt an, weil ich mich nie besser gefühlt habe.

4, 3

Wir halten Zentimeter voneinander an.

2 . . . 1

Und in diesem Augenblick wäre ich niemand lieber als ich selbst.

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Der Zweite Teil der Geschichte ist raus: Er, der Unsichtbare

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