Kapitel 2

Ein paar Sekunden lang glotzten sich die Kollegen an wie zwei Karpfen. Zehn Liter Adrenalin rasten durch Julians Adern und zehntausend Gedanken gleichzeitig durch seinen Kopf.
Hatte Peter Marie wirklich freigelassen? WARUM? Er hatte sie doch selbst überführt! War das eine selbsterfüllende Prophezeihung von Markus gewesen? Obwohl, nein, das war alles Julians Schuld! Er hätte Peter nie den Zellenschlüssel geben dürfen! Aber er hatte ja nicht ahnen können...
In diesem Moment sprintete Peter los und zog Marie hinter sich her. Julian ließ reflexartig die Kippe fallen und nahm sofort die Verfolgung auf. Im Laufen schrie er so laut er konnte: "Entflohene Häftlingin!"
"Das heißt Inhaftierte, du Depp", brüllte Markus ihm hinterher, dann rannte er ins Gebäude um Verstärkung zu holen.
Julian verfolgte Peter und Marie, die vom Polizeirevier flohen, durch ein paar Straßen, über eine Brücke, quer durch den Pausenhof einer Grundschule.
Sein Kopf explodierte fast vor Sorgen: Was würde man mit ihm machen - würde man ihn feuern?! - immerhin hatte Lilligmousky ihm die Schlüssel anvertraut, und er hatte sie wie so ein Esel an Peter weitergegeben, also war das alles seine Schuld... Scheiße, natürlich würde man ihn feuern!!!
Vielleicht half es etwas wenn er es schaffte die Entlaufenen wieder einzufangen... Aber was wenn sie entkamen? Dann war Julian total am Arsch! Ganz zu schweigen davon dass Marie vielleicht eine Mörderin war!
In seiner Verzweiflung zog er die Dienstwaffe. "Stehen bleiben oder ich schieße!" Es klang nicht im entferntesten so bestimmt wie er es sich gewünscht hatte, eher hoch , kieksig und verschreckt, und Julian verfluchte Gott und die Welt, als Peter und Marie nicht im geringsten auf seine Drohung achteten, sondern in vollem Tempo um die nächste Hausecke rasten. Julian folgte ihnen mit Karacho, rutschte aus aber fing sich wieder. Doch erwar kaum zwei Schritte weitergelaufen, als ihn etwas am Bein packte.
Der Asphalt bewegte sich mit rasender Geschwindigkeit auf Julian zu. In diesem Moment gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Ein rasender Schmerz explodierte in seiner Stirn und Nase, als diese mit voller Wucht auf der Straße aufschlugen. "Marie!", brüllte Peters Stimme direkt neben ihm. Und Julian realisierte, dass sein Finger auf dem gedrückten Abzug seiner Dienstwaffe lag.

Julians Herz setzte einen Schlag aus. Und noch einen. Nein, das konnte nicht wahr sein, er war in einem Albtraum gelandet, das war die einzige logische Erklärung!
Hinter dem Stromkasten neben ihm kam ein zerzauster Peter hervorgekrochen und rannte los in Richtung der Stelle, wo Marie regungslos mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lag.
Julian japste nach Luft, rappelte sich auf so schnell er konnte und folgte ihm. Seine Nase fühlte sich an als wäre sie gebrochen, aber darum würde er sich später noch kümmern können.
Die beiden kamen gleichzeitig bei ihrem Ziel an. Peter sank neben seiner Exfreundin auf die Knie, drehte sie um und legte ihren Kopf in seinen Schoß. Julian bemerkte die Wunde an Maries Hinterkopf, wo die Kugel sich in ihren Schädel gefressen hatte. Seine Kugel.
"Ist - ist sie..?"
Er konnte es nicht aussprechen, es war zu grauenhaft, es durfte einfach nicht wahr sein!
Peter nickte wortlos.
Es war wie ein weiterer Schlag in die Magengrube. Mörder. Mörder, Mörder, Mörder.
"Aber - das wollte ich doch gar nicht!", stieß Julian hervor, "Ich wollte nicht schießen, ehrlich! Ich bin nur gestolpert und hab im Fallen irgendwie aus versehen den Abzug gedrückt!"
Julians Stimme erreichte ungeahnte, kieksige Höhen. Doch Peter hörte ihm nicht mal zu, sondern starrte nur mit leeren Augen auf den Körper seiner Exfreundin hinunter, als wäre er innerlich genauso tot wie sie.
Julian funkte die Polizeiwache an und gab eine zehnsekündige Zusammenfassung der schrecklichen Ereignisse ab, in die er sich gerade verwickelt hatte. Zurück kam nur ein nüchternes "Verstärkung ist bereits unterwegs" , welches ihn daran zweifeln ließ, ob die Person am anderen Ende überhaupt zugehört hatte. Er brauchte hier keine Verstärkung, sondern am besten einen gottverdammten Wiederbelebungstrank - für Marie und am besten auch noch für Chris Baum. Dann hätten sie diese Probleme hier gar nicht!
Doch da sah er schon Inspektor Lilligmousky, Kommissar Huber im Laufschritt auf sich zukommen. Mit dabei hatten sie auch den Sanitäter Pascal Psaras, der auf ihrer Wache stationiert war für den Fall dass einer der Mitarbeiter oder der Gefängnisinsassen sich verletzte, kollabierte oder im sterben lag. In diesem Fall würde er nichts mehr bewirken können. Julian schluckte.
Als die drei Männer Julian und den auf dem Boden knienden Peter entdeckten, legten sie noch einen Zahn zu und kamen schwer atmend bei ihnen an.
Lilligmousky ließ seinen Blick über die klägliche Szenerie wandern. Schien jedes kleinste Detail zu erfassen - das Blut, das aus der Wunde an Maries Hinterkopf suppte und langsam, aber sicher Peters Hosenbein durchtränkte, Julians aufgeschlagene Nase und Stirn, die Pistole, die er hastig und falschrum in seinen Gürtel zurückgesteckt hatte.
Paul Psaras ging in die Knie, entfernte Peters Hände, die sich um Maries Schultern krampften, und begann sie zu untersuchen.
"Lubner", wandte sich Inspektor Lilligmousky im Befehlston an Julian, "Was ist hier passiert?"
"Peter hat die Häft- äh, Inhaftierte freigelassen!", stammelte Julian, "Ich hab mit Markus aufm Parkplatz geraucht und dann sind sie auf einmal vor uns aufgetaucht und weggerannt..."
"Markus Drexler stellt Kippen und generell alles über seine Arbeit. Typisch!", grummelte Kommissar Huber, zog den kleinen Notizblock hervor, den er immer mit sich trug, und schrieb etwas hinein.
O shit, Ärger für Markus! Andererseits hatte er wirklich seine Arbeit vernachlässigt, Peter und Marie hatten erst dadurch entkommen können... Aber das was Julian getan hatte war noch viel schlimmer!
"Genau, Kollege, am besten Sie schreiben mit!", kommentierte Lilligmousky Kommissar Hubers Aktion. Dann wandte er sich wieder an Julian: "Und weiter?"
"Ich habe sie verfolgt. Wir sind um die Ecke gerannt und dann hat Peter sich hinter nem Stromkasten versteckt und mir ein Bein gestellt, ich bin gestolpert und hab im Fallen... im Fallen hab ich..." Julians Stimme versagte. Er schluckte und starrte Lilligmousky an wie ein kleines verschrecktes Kind einen großen Hund.
Der Inspektor schaute auf Julians Pistole und auf die leblose Marie, bei der Paul Psaras gerade mit einer Herzdruckmassage begonnen hatte. "Geschossen", vollendete er den Satz mit nüchterner Stimme.
Julian nickte leicht, mit weit aufgerissenen Augen. "Es war ein Versehen, ich schwöre, ich..." "Das können wir später noch besprechen", unterbrach ihn Kommissar Huber, "Jetzt haben wir Wichtigeres zu klären! Paul, wie sieht es aus?"
Paul Psaras sah auf. "Sie wurde im Laufen von der Kugel am Hinterkopf getroffen und ist dann mit dem Gesicht nach vorne auf die Straße gefallen, richtig?", vergewisserte er sich bei Julian. Der nickte.
"Ich fürchte, hier ist nichts mehr zu retten", verkündete er mit reglosem Gesicht die Hiobsbotschaft, "aber nur ein Arzt darf sie für tot erklären. Wir müssen einen Notarzt rufen und bis er ankommt, muss ich mit wiederbelebenden Maßnahmen weitermachen" Er beugte sich hinunter zu einer Mund-zu-Mund-Beatmung, und kurz fürchtete Julian, Peter würde sich gleich mit bloßen Händen auf ihn stürzen, doch der blieb weiterhin in seiner Schockstarre eingefroren.
"Toi, toi, toi", machte Inspektor Lilligmousky und holte dann sein Handy raus, um den Notruf abzusetzten.
"Jemand müsste mal Meter wegbringen", stellte Kommissar Huber fest. Paul Psaras richtete sich auf und ging wieder zur Herzdruckmassage über. "Der holt sich sonst eine Lungenentzündung", fügte er hinzu.
"Unter anderem", stimmte Kommissar Huber zu. Es hatte angefangen zu regnen, und Julian fiel erst jetzt auf, dass Peter nicht seine Uniformjacke, sondern nur ein weißes T-Shirt trug. "Lübner! Sie bringen Meter in Zelle 13, dann sperren sie ab, gehen ins Hauptgebäude, begeben sich umgehend in Inspektor Lilligmouskys Büro, wo Sie die Schlüssel zur Zelle auf den Tisch legen, sich dann auf einen Stuhl setzten und NICHT MEHR VOM FLECK BEWEGEN, bis der Inspektor und ich zurückkommen! Kapiert?", befahl ihm der Komissar.
"Kapiert", murmelte Julian, "Komm, Peter"
Er zog seinen Ex-Kollegen auf die Füße, holte die an seinem Gürtel hängenden Handschellen hervor und ließ sie um Peters Handgelenke klicken. Dieser ließ es willenlos mit sich geschehen.
Julian dachte daran, wie er schon immer davon geträumt hatte, einen Verbrecher zu fesseln, sich schon immer gefragt hatte wie es sich wohl anfühlte, zu wissen dass man einen Übeltäter endlich dingfest gemacht hatte. Doch das hier fühlte sich einfach nur falsch an. Wie ein Albtraum, aus dem er einfach nicht erwachen konnte.
Peter, Peter, warum nur?
Julian führte seinen Gefangenen zurück zur Polizeiwache. Es war ja nicht weit, nur ein paar Häuserblocks.
Peter ließ sich mitziehen, schlaff wie eine Stoffpuppe und immer noch mit leerem Blick vor sich hin starrend. Sie liefen vorbei an dem Stromkasten, hinter dem sich Peter versteckt und Julian mit so verheerenden Folgen ein Bein gestellt hatte. Durch ein paar Straßen, vorbei an einer aus dem Fenster glotzenden Omi, die sich wahrscheinlich fragte wer uur Hölle sich ausgerechnet ihr ruhiges Sträßchen ausgesucht hatte, um ein Verbrechen zu begehen, und warum er zu Fuß abgeführt wurde.
Julian zitterte. Seine allererste Verfolgungsjagd, und die Dinge nahmen natürlich die schlimmstmögliche Wendung.
Doch als wäre das nicht genug, hielt der Tag noch weitere Tragödien bereit. Als sie über eine Brücke gingen, erwachte Peter, der sich bisher apathisch mitziehen lassen hatte, zum Leben. Urplötzlich rempelte er Julian an, so dass dieser rückwärts stolperte, und rannte los.
Julian fing sich wieder und wollte ihn wieder am Arm packen, doch es war zu spät.
Peters Vorsprung von zwei Sekunden hatte gereicht, um in ein paar Schritten zum Brückengeländer zu kommen und sich kopfüber nach unten zu stürzen. Mit einem dumpfen Knirschen kam er auf.

Als Julian realisierte, was geschehen war, war es bereits vorbei.
Er stürzte zum Geländer. Ein paar Meter unter ihm lag Peter erschlafft im Dreck, den Kopf in einem unnatürlichen Winkel abstehend.
Nein. Nein, nein, nein!
Nicht schon wieder! Julian konnte kaum noch stehen, er musste sich am Geländer festhalten.
Vielleicht ist er ja nur ohnmächtig, redete er sich ein. So richtig glaubte er selbst nicht daran, dieses hässliche Knirschen lag ihm immer noch in den Knochen, aber die Hoffnung bestand. Julian verließ die Brücke und stieg hinunter in das ausgetrocknete Flussbett, das sich durch den Regen langsam, aber sicher in eine Matschgrube verwandelte. Peter lag reglos da und starrte mit glasigen Augen zum Himmel. Julian hielt ihm einen Finger unter die Nase, um zu schauen ob er atmete und checkte seinen Puls. Tot, ohne Zweifel.
"Hilfe!", brüllte er, "ZU HILFE! SELBSTMORD AN DER BRÜCKE!"
Dann konnte er sich nicht mehr halten und sank auf die Knie.
Sein Atem ging schwer. Er war allein mit einer Leiche. Der Leiche eines Mannes, der... ja, der seine Exfreundin aus dem Gefängnis befreit hatte, obwohl sie eines Mordes verdächtig gewesen war, dadurch die Ereignisse herbeigeführt hatte die zu ihrem Tod führten... und sich jetzt selber umgebracht hatte.
Julian verstand die Welt nicht mehr. Alles drehte sich, und Julian kniete neben der Leiche im Matsch, ließ sich vom Regen durchtränken und wartete darauf, dass ihn jemand aus diesem furchtbaren Albtraum aufwecken möge.
Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte, als sich plötzlich eine Hand in seinen Oberarm krallte.
Kommissar Huber zerrte Julian grob hoch und zerrte ihn dann so nah an sich heran, dass er jede einzelne Pore auf seiner Nase erkennen konnte.
"Lübner!", herrschte er ihn an. Der Kommissar war außer sich, Spucketröpfchen folgen in alle Richtungen.
"Was! Zum Teufel! Ist! Hier! Passiert?!"
"Peter ist gesprungen", keuchte Julian.
Der Komissar kniff die Augen zusammen. Mit einer Hand hielt er weiterhin schreibstockfest Julians Oberarm umklammert, mit der anderen checkte er Peters Puls und Atem. Kam zu dem selben Schluss wie Julian vor ein paar Minuten.
Ehe der junge Polizist sich's versah, hatte Huber mit einer zügigen Bewegung ein Paar Handschellen aus seinem Gürtel gezogen und Julian an seinem Handgelenk festgekettet.
"Lübner", sagte er kalt, "da ich nicht wissen kann, was genau hier vorgefallen ist, werde ich Sie vorerst festhalten müssen!"
Dann holte er sein Funkgerät heraus, um Verstärkung anzufordern.

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